FG Münster, Urteil vom 01.02.2013 - 4 K 997/12 Kg
Fundstelle
openJur 2013, 5868
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 5.12.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 21.2.2012 verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum Oktober 2011 bis Februar 2012 Kindergeld für seine Tochter M. in Höhe von 97,23 EUR monatlich zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für sein in Belgien lebendes Kind Kindergeld zusteht.

Der Kläger ist ruandischer Staatsbürger und lebt in T-Stadt/Inland. Er ist in Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis und eines Reiseausweises nach dem Abkommen vom 28.7.1951. Seit Mai 2011 ist er bei der Firma J. in T-Stadt/Inland sozialversicherungspflichtig beschäftigt, seit November 2011 unbefristet.

Mit notarieller Urkunde vom 17.10.2011 erkannte der Kläger die Vaterschaft der am xx.10.2011 in C-Stadt (Belgien) geborenen M. an. Die Kindsmutter erhält seit der Geburt Kindergeld in Belgien in Höhe von monatlich 86,77 EUR. Sie ist nach Angaben des Klägers nach der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses im Juni 2012 derzeit arbeitslos.

Den Kindergeldantrag des Klägers für seine Tochter lehnte die Beklagte ab, da die Mutter das Kind in ihren Haushalt aufgenommen habe. Mit seinem hiergegen eingelegten Einspruch begehrte der Kläger die Zahlung des Unterschiedsbetrages zwischen dem deutschen und dem belgischen Kindergeld. Den Einspruch wies die Beklagte als unbegründet zurück, da die Kindsmutter auch nach EU-Recht die vorrangig Berechtigte sei.

Mit seiner hiergegen erhobenen Klage vertritt der Kläger die Ansicht, dass er sämtliche Voraussetzungen für den Kindergeldbezug erfülle. Die Haushaltsaufnahme des Kindes (§ 64 des Einkommensteuergesetzes, EStG) stelle nur eine Rangfolgeregelung, aber keine Anspruchsvoraussetzung dar.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 5.12.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 21.2.2012 zu verpflichten, ihm Kindergeld in Höhe von 97,23 EUR monatlich zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und keine Stellungnahme abgegeben.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Gründe

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung, FGO).

Der Ablehnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 101 Satz 1 FGO), soweit die Beklagte die Festsetzung von Kindergeld in Höhe des Differenzbetrages zwischen dem deutschen und dem belgischen Kindergeld abgelehnt hat.

1.              Dem Kläger steht für seine leibliche Tochter M. gemäß §§ 62 Abs. 2 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG Kindergeld zu, weil er in Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist. Dass die Tochter ihren Wohnsitz nicht in Deutschland hat, steht dem Anspruch nicht entgegen, weil sie in Belgien und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union lebt. Gemäß Art. 67 der Verordnung EG Nr. 883/2004 hat ein Familienangehöriger auch für solche Familienangehörige Anspruch auf Familienleistungen eines Mitgliedstaates, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Die Verordnung EG Nr. 883/2004 ist gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchstabe g) anwendbar, da der Kläger Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 ist und in Deutschland wohnt.

2.              Der Kläger hat jedoch keinen vollen inländischen Kindergeldanspruch, da der belgische Kindergeldanspruch der Kindsmutter vorrangig ist.

a.              Dies folgt daraus, dass sowohl der Anspruch des Klägers als auch derjenige der Kindsmutter durch eine Beschäftigung ausgelöst werden und die Tochter in Belgien wohnt (Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b) Ziffer i) der Verordnung EG Nr. 883/2004).

Maßgeblich für die Frage, wodurch die Ansprüche ausgelöst werden, ist nicht, was die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften als Anspruchsvoraussetzungen bestimmen. Vielmehr kommt es darauf an, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der Verordnung EG Nr. 883/2004 unterstellt ist. Anderenfalls wäre es den Mitgliedstaaten durch Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften freigestellt zu bestimmen, an welcher Stelle in der europarechtlichen Rangfolge sie leistungsverpflichtet sein wollen. Zudem könnte eine Rangfolge in den Fällen, in denen der deutsche Kindergeldanspruch nicht auf einen Wohnsitz abstellt (z.B. § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG), nicht bestimmt werden (FG Münster, Urteil vom 9.5.2012 10 K 4079/10 Kg; FG München, Urteil vom 27.10.2011 5 K 1075/11, EFG 2012, 253 und FG München, Gerichtsbescheid vom 21.11.2011 5 K 2527/10, EFG 2012, 327).

Der Senat folgt diesbezüglich nicht der gegenteiligen Ansicht des FG München im Urteil vom 7.8.2012 (12 K 1488/11, EFG 2012, 2214), wonach unter Berufung auf Ziffer 1 Satz 1 der Vorerwägungen zum Beschluss Nr. F1 der Verwaltungskommission (ABl. EU vom 24.4.2010 C-106/04) die Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates maßgeblich sein sollen. Die Verwaltungskommission ist zwar nach Art. 72 Buchstabe a) der Verordnung EG Nr. 883/2004 für Auslegungsfragen zuständig, die sich aus dieser Verordnung ergeben. Hiervon bleibt jedoch ausdrücklich das Recht der Betroffenen unberührt, die Verfahren und Gerichte in Anspruch zu nehmen, die u.a. nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgesehen sind. Daraus folgt, dass die Beschlüsse der Verwaltungskommission keine Bindungswirkung für Gerichte haben können. Dies muss ebenso für Vorerwägungen zu den Beschlüssen gelten (so auch FG Münster, Urteil vom 30.11.2012 4 K 812/12 Kg, abrufbar über Juris).

b.              Da sowohl der Kläger als auch die Kindsmutter im Streitzeitraum in ihrem jeweiligen Wohnsitzstaat beschäftigt erwerbstätig waren, unterliegen sie gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a) der Verordnung EG Nr. 883/2004 den Regelungen ihres jeweiligen Wohnsitzstaates.

Streitzeitraum sind die Monate Oktober 2011 bis Februar 2012. Im Februar 2012 erfolgte die Bekanntgabe der den Ablehnungsbescheid bestätigenden Einspruchsentscheidung. Spätere Zeiträume sind nicht Gegenstand des Klageverfahrens, da die Beklagte keine Entscheidung für die Zukunft getroffen hat. Der Kläger ist allerdings berechtigt, für Zeiträume ab März 2012 erneut einen Kindergeldantrag zu stellen.

c.              Allerdings besteht gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz der Verordnung EG Nr. 883/2004 ein Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen dem deutschen und dem belgischen Kindergeld, da die Kindsmutter in Belgien lediglich 86,77 EUR monatlich für M. erhalten hat. Dieser Anspruch ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung EG Nr. 883/2004 ausgeschlossen, weil der deutsche Kindergeldanspruch nicht durch den Wohnort, sondern durch die Erwerbstätigkeit des Klägers im Inland ausgelöst wird (s.o. unter 2.a.). Der monatliche Kindergeldanspruch beträgt gemäß § 66 EStG Abs. 1 Satz 1 EStG 184,- EUR. Der Differenzbetrag beläuft sich demnach auf 97,23 EUR.

3.              Der inländische Anspruch des Klägers auf Zahlung des Differenzbetrages ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht nach § 64 Abs. 1 Satz 2 EStG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird das Kindergeld bei mehreren Berechtigten demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

a.              Zwar hat die Kindsmutter die Tochter in ihren Haushalt aufgenommen; sie ist jedoch keine Berechtigte in diesem Sinne, da die Vorschrift nur inländische Kindergeldansprüche betrifft (FG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 10.5.2012 1 K 19/11, EFG 2012, 1684 sowie Urteil vom 23.4.2012 1 K 238/11, EFG 2012, 1683; FG Münster, Urteile vom 9.5.2012 10 K 4079/10 Kg, EFG 2012, 1680 sowie 10 K 3768/10 Kg, EFG 2012, 1562; FG Düsseldorf, Urteil vom 9.2.2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369 und FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.3.2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323). Da die Mutter keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und auch nicht nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird, hat sie keinen inländischen Kindergeldanspruch gemäß § 62 Abs. 1 EStG.

b.              Ein inländischer Kindergeldanspruch der Mutter kann auch nicht über die Verfahrensvorschrift des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung EG Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung zur Verordnung EG Nr. 883/2004) fingiert werden (so aber FG Bremen, Urteil vom 10.11.2011 3 K 26/11 (1), EFG 2012, 143). Dieser Auffassung, nach der im Rahmen einer sog. Familienbetrachtung unterstellt werden könne, dass alle beteiligten Personen der Familie unter die Rechtsvorschriften des anspruchsgewährenden Mitgliedstaates fielen und dort wohnten, folgt der Senat mit der herrschenden finanzgerichtlichen Rechtsprechung nicht (FG Münster, Urteile vom 26.7.2012 4 K 3940/11 Kg, EFG 2012, 2134 und vom 30.11.2012 4 K 812/12 Kg, abrufbar über Juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 9.2.2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.12.2011 2 K 2085/10, EFG 2012, 716). Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung EG Nr. 987/2009 regelt nicht die Anspruchskonkurrenz zwischen zwei inländischen Kindergeldansprüchen, sondern enthält lediglich Verfahrensvorschriften zur Frage, wer formell berechtigt ist, einen Antrag bei der zuständigen Behörde zu stellen.

4.              Der Anspruch des Klägers ist auch nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen, weil für die Tochter in Belgien dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden. Einem Ausschluss des Differenzkindergeldes für im Inland Erwerbstätige steht die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45, 48 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) entgegen (EuGH-Urteil vom 12.6.2012 C-611/10, C 612/10, Abl. EU Nr. C 227, 4 zur Verordnung EWG Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971)

5.              Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.

Haferkamp                                                        Dr. Reddig                                                        Dr. Kister

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