OLG Nürnberg, Beschluss vom 09.09.2010 - 11 WF 972/10
Fundstelle
openJur 2010, 3339
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 6 F 786/10

Bei einem Verfahren auf Übertragung der elterlichen Sorge im Verfahren der einstweiligen Anordnung ist das Kindeswohl auch für die Frage der Dringlichkeit gemäß § 49 Abs. 1 FamFG das maßgebliche Kriterium.

An einem dringenden Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden (§ 49 Abs. 1 FamFG) fehlt es regelmäßig, wenn die gesamte elterliche Sorge übertragen werden soll.

Bei einer zum Zweck des Umzugs in das Ausland zu treffenden Sorgerechtsentscheidung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ist im Hinblick auf die Vorläufigkeit ("vorläufige Maßnahme", § 49 Abs. 1 FamFG) zu berücksichtigen, dass mit einen Umzug Fakten geschaffen werden, die sich auf das Kindeswohl gravierend auswirken können, und zudem durch die damit verbundene faktische Präjudizwirkung erheblich in die Grundrechtsposition des anderen Elternteils eingegriffen wird.

(Leitsätze: die Mitglieder des 11. Zivilsenats)

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Erlangen vom 2.7.2010 abgeändert.

Der Antrag des Antragstellers, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge für das Kind ..., geb. am 14.10.2002, zu übertragen, wird zurückgewiesen.

II. Die Gerichtskosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

III. Der Verfahrenswert beträgt 1.500,- €.

Gründe

I.

Die beteiligten Eltern streiten um die elterlichen Sorge für das gemeinsame Kind ... geboren am ... .

Die Eltern schlossen am ... in Brasilien die Ehe, wo der Antragsteller sich beruflich aufhielt und die Antragsgegnerin kennen gelernt hatte. Sie ist Brasilianerin und hat drei weitere vom Antragsteller in Brasilien adoptierte Kinder (... geboren ..., ... geboren .... und ... geboren ...). Diese Adoption wurde in Deutschland nicht anerkannt, weil das Anerkennungsverfahren nicht durchgeführt wurde.

Die Eltern zogen mit den Kindern nach der Eheschließung im August 2004 nach Deutschland und wohnten bis zum Auszug der Mutter im ersten Halbjahr 2009 in ... beim Vater. Die anderen Kinder der Mutter leben bei dieser.

Mit Beschluss vom 21.4.2009 (6 F 1607/08) übertrug das Amtsgericht Erlangen Im Einvernehmen mit beiden Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ... auf den Vater.

Beim Amtsgericht - Familiengericht - Erlangen ist das Scheidungsverfahren anhängig (6 F 498/09). In diesem hat die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 25.5.2010 beantragt, in Abänderung des genannten Beschlusses das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf sie zu übertragen.

Nunmehr hat der Vater die Übertragung der gesamten elterlichen Sorge auf sich beantragt, weil er für mindestens ein Jahr beruflich nach Argentinien will. Er hat dies durch einen Schriftsatz vom 1.6.2010 im Wege der einstweiligen Anordnung beim Amtsgericht - Familiengericht - Erlangen geltend gemacht und die Eilbedürftigkeit damit begründet, er müsse seinem Arbeitgeber bis spätestens Ende Juni eine verbindliche Mitteilung machen, ob der Auftrag von ihm durchgeführt werde oder nicht.

Mit Beschluss vom 2.7.2010 hat das Amtsgericht Erlangen im Wege der einstweiligen Anordnung nach mündlicher Erörterung die elterliche Sorge auf den Vater übertragen und dies im Wesentlichen damit begründet, dass ... bereits seit mittlerweile einem Jahr bei seinem Vater wohne und dieser die Hauptbezugsperson sei.

Die Antragsgegnerin hat gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt. Sie beantragt, den Antrag des Vaters auf Übertragung der elterlichen Sorge unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts zurückzuweisen.

Dies begründet sie insbesondere damit, ein Umzug nach Argentinien würde eine erhebliche Belastung für ... darstellen und insbesondere die Bindung zu ihr und zu den Halbgeschwistern erheblich beeinträchtigen. Sie befürchtet einen völligen Bindungsabbruch, weil sie damit rechnet, dass der Aufenthalt in Argentinien erheblich länger als ein Jahr dauern wird.

II.

Das gemäß §§ 57, 58 Abs. 1 FamFG statthafte Rechtsmittel der Antragsgegnerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§§ 63, 64 FamFG) eingelegt. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Der Antrag des Vaters auf Übertragung der elterlichen Sorge im Verfahren der einstweiligen Anordnung ist bereits deswegen unter Aufhebung der Entscheidung des Amtsgerichts - Familiengericht - Erlangen zurückzuweisen, weil es an einem dringenden Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden (§ 49 Abs. 1 FamFG) fehlt.

Für die Übertragung der (gesamten) elterlichen Sorge auf einen Elternteil gemäß § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB besteht ein (dringendes) Regelungsbedürfnis nur ganz ausnahmsweise (Zöller/Feskorn , ZPO, 28. Aufl., § 49 Rn. 16; Schulte-Bunert/Weinreich/Schwonberg, FamFG, 2. Aufl., § 49 Rn. 26; s.a. OLG München FamRZ 1999, 111).

Hier vermag der Senat ein solches dringendes Regelungsbedürfnis nicht zu bejahen. Eine Anordnung ist am Kindeswohl zu orientieren. Damit ist auch für die Frage der Dringlichkeit das Kindeswohl das maßgebliche Kriterium. Warum eine Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater mit dem Ziel, mit dem Kind für mindestens ein Jahr nach Argentinien zu gehen, aus Kindeswohlgründen dringend erforderlich ist, legt der Antragsteller weder dar noch ist dies ersichtlich. Der Antragsteller hat vielmehr angegeben, er habe ein persönliches Interesse daran, für seinen Arbeitgeber in Argentinien tätig zu werden, weil er gerne im Ausland arbeite. Die Dringlichkeit hat er nur darauf gestützt, er müsse seinem Arbeitgeber baldmöglich Bescheid geben, ob der Auftrag von ihm durchgeführt werde.

Obwohl der Vater erklärt hat, ohne seinen Sohn nicht nach Argentinien zu wechseln, ist bei der Frage der Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater allerdings dessen Lebensplanung grundsätzlich zu akzeptieren und bei der Prüfung gemäß § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB die denkbare Alternative, dass der Vater in Deutschland bleibt, nicht in Betracht zu ziehen (vgl. BGH FamRZ 2010, 1060). Eine solche Prüfung, ob die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller unter Zugrundelegung eines Umzugs nach Argentinien dem Wohl des Kindes am besten entspricht, kann jedoch nur in einem Hauptsacheverfahren und nicht im Verfahren der einstweiligen Anordnung erfolgen, zumal hier möglicherweise ein Sachverständigengutachten erholt werden muss. Eine schriftliches Sachverständigengutachten kommt im Verfahren der einstweiligen Anordnung jedoch grundsätzlich nicht in Betracht (vgl. Zöller/Feskorn § 51 Rn. 6).

Darüber hinaus hat der Senat erhebliche Bedenken hinsichtlich der Vorläufigkeit der Entscheidung des Erstrichters ("vorläufige Maßnahme", § 49 Abs. 1 FamFG), weil durch einen Umzug des Vaters mit dem Kind nach Argentinien Fakten geschaffen werden, die sich auf das Kindeswohl gravierend auswirken können und zudem durch die damit verbundene faktische Präjudizwirkung erheblich in die Grundrechtsposition der Mutter eingegriffen wird (vgl. dazu BVerfG FamRZ 2009, 189). Auch unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist kein Raum für eine vorläufige Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 51 Abs. 4, § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Für die Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung gelten die allgemeinen Vorschriften. Es entspricht billigem Ermessen, im Ergebnis eine "Kostenaufhebung" anzuordnen. Ein Grund, dem Antragsteller darüber hinaus Kosten gemäß § 81 Abs. 2 FamFG aufzuerlegen, ist nicht gegeben.

Die Wertfestsetzung beruht auf § 41 i.V. mit § 45 Abs. 1 FamGKG.

Die Rechtsbeschwerde findet gemäß § 70 Abs. 4 FamFG nicht statt. Auch ein anderer ordentlicher Rechtsbehelf ist nicht statthaft.