KG, Beschluss vom 23.08.2012 - (4) 121 Ss 170/12 (202/12)
Fundstelle
openJur 2013, 3800
  • Rkr:

1. Die Frage, ob ein Heranwachsender zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch einem Jugendlichen gleichstand, ist im Wesentlichen Tatfrage, wobei dem Jugendgericht bei der Beurteilung der Reife des Heranwachsenden grundsätzlich ein erheblicher Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind. Die Anwendung von Jugendstrafrecht oder allgemeinem Strafrecht steht nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme. Wenn dem Tatrichter nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten Zweifel verbleiben, muss er die Sanktion dem Jugendstrafrecht entnehmen.

2. Als Jugendverfehlung kommt grundsätzlich jede Tat in Betracht, bei der der Einfluss allgemeiner Unreife des Heranwachsenden wesentlich mitgewirkt hat. Auch bei Taten, die vom äußeren Erscheinungsbild her nicht erkennbar von jugendlicher Unreife geprägt sind, kann es sich um Jugendverfehlungen handeln, wenn die Beweggründe der Tat und ihre Veranlassung den Antriebskräften der noch jugendtümlichen Entwicklung des Täters entspringen. Verstöße gegen die Abgabenordnung können ebenfalls unter § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG fallen.

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten - Jugendschöffengericht - vom 26. März 2012 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten - Jugendschöffengericht - zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte, unbeschränkte Sprungrevision des Angeklagten hat lediglich zum Rechtsfolgenausspruch (vorläufigen) Erfolg.

1. Die Nachprüfung des Urteils lässt im Hinblick auf den Schuldspruch keine Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.

2. Der Rechtsfolgenausspruch hält jedoch der Überprüfung nicht Stand, weil die tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen des Amtsgerichts die Anwendung des allgemeinen Strafrechts nicht tragen. Der Angeklagte war bei Begehung der Straftaten, die den Verkauf nicht versteuerter Zigaretten betrafen, zwischen 18 Jahre und zwei Monate sowie 18 Jahre und acht Monate alt; er war damit Heranwachsender im Sinne des § 1 Abs. 2 JGG.

a) Ob ein Heranwachsender zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch einem Jugendlichen gleichstand und damit gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG auf ihn Jugendstrafrecht anzuwenden ist, ist im Wesentlichen Tatfrage, wobei dem Jugendgericht bei der Beurteilung der Reife des Heranwachsenden grundsätzlich ein erheblicher Beurteilungsspielraum eingeräumt wird (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 218; NStZ 1989, 574 m.w.N.). Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind. Hat der Heranwachsende dagegen bereits die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren, dann ist er nicht mehr einem Jugendlichen gleichzustellen und auf ihn ist allgemeines Strafrecht anzuwenden. Die Anwendung von Jugendstrafrecht oder allgemeinem Strafrecht steht nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme. § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG stellt keine Vermutung für die grundsätzliche Anwendung des einen oder des anderen Rechts dar. Wenn allerdings dem Tatrichter nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten Zweifel verbleiben, muss er die Sanktion dem Jugendstrafrecht entnehmen (vgl. BGH NStZ 2004, 294; NStZ-RR 2003, 186 m.w.N.; Senat, Beschluss vom 12. April 2011 - [4] 1 Ss 29/11 [47/11] -).

aa) Im Urteil wird zum Entwicklungsstand des Angeklagten lediglich ausgeführt, dass das Gericht keine Reifeverzögerungen habe feststellen können: Der Angeklagte sei bereits vor vier Jahren ohne die Begleitung seiner Eltern nach Deutschland illegal eingereist, um hier zu arbeiten. Seitdem lebe er in Berlin, wo er nach Ansicht des Jugendschöffengerichts seinen Alltag ohne familiäre Unterstützung „meistert“. Die Schilderung der Berufspläne des Angeklagten sei naiv gewesen. Er habe angegeben, nach Deutschland gekommen zu sein, um hier zu arbeiten, „gerne etwas mit Computern“. Die deutsche Sprache beherrsche der Angeklagte allerdings auch nach vier Jahren kaum. Die Mühen, die für eine Berufsausbildung erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, habe er nicht auf sich nehmen wollen. Einen Deutschkurs habe er abgebrochen, weil dieser ihm zu langweilig gewesen sei. Einer legalen Beschäftigung sei er in Deutschland bisher nicht nachgegangen. Der Angeklagte sei aber nicht so unbedarft, wie er mit der Schilderung seiner Berufspläne vorzugeben versucht habe. Er habe in der Hauptverhandlung den Eindruck eines intelligenten jungen Mannes hinterlassen. Dieser Eindruck werde auch durch seine Taten belegt, die ein hohes Maß an Organisationsvermögen und Planung erfordert hätten und daher nicht jugendtypisch gewesen seien.

bb) Diese Ausführungen sind zur Begründung der Anwendung des allgemeinen Strafrechts nicht geeignet; im Übrigen sind sie lückenhaft.

Den in der Hauptverhandlung gewonnenen Eindruck von dem Angeklagten hat das Amtsgericht mit keinem Wort näher erläutert. Das angenommene hohe Maß an Organisationsvermögen und Planung, das für die Taten erforderlich gewesen sei, wird durch die Feststellungen nicht belegt. Im Übrigen genügt die Verneinung von Anhaltspunkten für Entwicklungsdefizite nicht, um zur Anwendung des allgemeinen Strafrechts zu gelangen. Es müssen vielmehr die Tatsachen und rechtliche Schlussfolgerungen dargelegt werden, auf denen die konkrete Entscheidung beruht. Das Rechtsmittelgericht muss erkennen können, dass bei den Ermittlungen alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, die bei der Entscheidung über die Anwendung von allgemeinem oder Jugendstrafrecht von Belang sind (vgl. OLG Hamm StV 2001, 182).

Die vom Amtsgericht getroffenen (wenigen) Feststellungen sprechen - zumal angesichts der Tatsache, dass die Tatserie kurz nach Vollendung des 18. Lebensjahres begann - nicht dafür, dass der Angeklagte zu den Tatzeiten bereits die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren hatte. Dass er im Alter von 14 Jahren allein auf (nicht näher dargestellte) illegale Weise nach Deutschland eingereist und damit in einem Alter, in dem üblicher Weise die Ausformung der Persönlichkeit zu einem Erwachsenen gerade beginnt, in einen ihm nicht vertrauten Kulturkreis gelangt ist, lässt eher vermuten, dass der Angeklagte in einer entscheidenden Phase seiner Entwicklung nicht den nötigen Halt hatte, um sich ungestört entwickeln zu können. Beurteilen kann der Senat dies mangels der nötigen Feststellungen aber nicht. Die Annahme des Jugendschöffengerichts, dass der Angeklagte seinen Alltag „meistert“, ist in keiner Weise nachvollziehbar begründet worden und erschließt sich auch sonst nicht aus den Urteilsgründen. Der Angeklagte hatte und hat nach den dürftigen Feststellungen keine erkennbare Lebensplanung. In Bezug auf den Erwerb von Kompetenzen, um im Alltag bestehen zu können, hat er sich offensichtlich eher unreif verhalten. Im Übrigen ist lediglich bekannt, dass er von Sozialleistungen lebt, sich nicht regelmäßig unter seiner Meldeanschrift, sondern bei Freunden aufhält, und durch die verfahrensgegenständlichen Straftaten aufgefallen ist, bei denen er sich der Hilfe einer intelligenzgeminderten Frau bedient hat. Zur Entwicklung und den Lebensumständen des Angeklagten in den letzten Jahren hat das Amtsgericht keine verwertbaren Feststellungen getroffen. Insoweit hätte es insbesondere der Darlegung der bisherigen sittlichen und geistigen Entwicklung des Angeklagten und der näheren Auseinandersetzung mit dieser bedurft. Sofern der Angeklagte unter dem Druck seiner Lebensumstände (frühzeitig) eine gewisse Selbstständigkeit in Bezug auf die alltägliche Versorgung erlangt haben sollte, wäre dieser Aspekt allein nicht tragend für die Anwendung des allgemeinen Strafrechts, sondern ihm könnte nur im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten - zu der hinreichende Feststellungen nötig sind - unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen ein Stellenwert zukommen (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 218, 219). Lückenhaft ist das Urteil auch deshalb, weil die Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe, mit der sich der Tatrichter auseinandersetzen muss (vgl. BGH aaO; Senat aaO), nicht einmal mitgeteilt wird.

b) Das Urteil befasst sich auch nicht hinreichend mit der Frage, ob die Taten des Angeklagten als Jugendverfehlungen im Sinne des § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG anzusehen sind. Das wäre der Fall, wenn entweder Art und Umstände der Tatbegehung eine jugendtümliche Verhaltensweise zeigen oder die Beweggründe bzw. die Veranlassung der Taten solche Merkmale erkennen lassen. Als Jugendverfehlung kommt grundsätzlich jede Tat in Betracht, bei der der Einfluss allgemeiner Unreife des Heranwachsenden wesentlich mitgewirkt hat. Auch bei Taten, die vom äußeren Erscheinungsbild her nicht erkennbar von jugendlicher Unreife geprägt sind, kann es sich um Jugendverfehlungen handeln, wenn die Beweggründe der Tat und ihre Veranlassung den Antriebskräften der noch jugendtümlichen Entwicklung des Täters entspringen. Verstöße gegen die Abgabenordnung können ebenfalls unter § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG fallen (vgl. KG, Beschluss vom 19. September 2011 - [1] 1 Ss 355/11 [7/11] -). Für die Überprüfbarkeit durch das Revisionsgericht ist es daher grundsätzlich erforderlich, dass das Tatgericht eine Würdigung auch der Beweggründe des Täters vornimmt, soweit die Verneinung einer Jugendverfehlung nicht auf der Hand liegt (vgl. OLG Hamm aaO). Planmäßiges, überlegtes und zweckgerichtetes Vorgehen eines Heranwachsenden schließt die Annahme einer Jugendverfehlung nicht per se aus. Dabei kommt dem Tatrichter zwar ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu, nicht ausreichend ist aber die bloße Annahme, mit Blick auf ein (nicht dargelegtes) Organisations- und Planungserfordernis seien die Taten „nicht jugendtypisch“ gewesen. Eine solche Begründung ermöglicht dem Senat nicht die gebotene Überprüfung, ob der Tatrichter von einem rechtlich zutreffenden Maßstab ausgegangen ist (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 186).

2. Das Urteil beruht auf diesem Fehler. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er sich zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat.

3. Die Entscheidung nach § 105 JGG betrifft die Straffrage (vgl. BGH StV 1987, 307 m.w.N.). Der Senat hebt das Urteil daher im Rechtsfolgenausspruch mit den dazu getroffenen Feststellungen auf und verweist die Sache gemäß § 349 Abs. 4 i.V.m. § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - zurück.

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