VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.10.2012 - 11 S 1843/12
Fundstelle
openJur 2013, 15294
  • Rkr:

1. Ist die im Bundesgebiet rechtmäßig geführte eheliche Lebensgemeinschaft nach zweijähriger Dauer noch vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) aufgehoben, der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eigenständige Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten jedoch erst danach gestellt worden, ist für einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis die ab dem 01.07.2011 geltende Gesetzesfassung maßgebend.

2. Auch wenn das Gericht eine komplexe Frage des materiellen Rechts im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorläufig zu Lasten des Antragstellers beantwortet, kann bei einer ober- bzw. höchstrichterlich nicht abschließend geklärten Fragestellung nach den Umständen des Einzelfalls seinem Interesse an einem vorläufigen Verbleiben im Bundesgebiet der Vorrang eingeräumt werden.

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. August 2012 - 11 K 2330/12 - wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige, insbesondere rechtzeitig erhobene (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17.08.2012, mit dem die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 09.07.2012 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18.06.2012 angeordnet worden ist, hat im Ergebnis keinen Erfolg.

I.

Mit dieser Verfügung hat die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abgelehnt, weil es an einem mindestens dreijährigen rechtmäßigen Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet fehle, und ihm die Abschiebung in sein Heimatland Kroatien angedroht. Der am 22.11.1987 geborene Antragsteller war nach seiner am 20.06.2008 in Kroatien erfolgten Heirat mit der am ...1971 geborenen deutschen Staatsangehörigen C. F. mit einem Visum zum Ehegattennachzug am 03.09.2008 in das Bundesgebiet eingereist und verfügte in der Folgezeit über eine zuletzt bis 02.03.2012 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Am 17.02.2012 beantragte er unter Vorlage eines kroatischen Scheidungsurteils vom 16.08.2011 die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und trug vor, die eheliche Lebensgemeinschaft sei im Februar 2011 einvernehmlich beendet und im Mai 2011 die Scheidung beantragt worden.

Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO entsprochen und ausgeführt, der Anspruch des Antragstellers richte sich nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung, wonach es ausreichend sei, dass die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden habe. Die Anwendung der zum 01.07.2011 in Kraft getretenen Neufassung der Vorschrift, die nunmehr eine dreijährige Ehebestandszeit fordere, auf den vorliegenden Fall dürfte dem verfassungsrechtlichen Verbot der echten Rückwirkung von ungünstigen Gesetzesänderungen widersprechen. Der zeitliche Anwendungsbereich der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG beginne jedenfalls vor dem Zeitpunkt, in dem die Gesetzesänderung wirksam geworden sei. Die Ehebestandszeit des Antragstellers habe mit seiner Einreise in das Bundesgebiet am 03.09.2008 begonnen. Damit habe er mit Ablauf von zwei Jahren seinen eheunabhängigen Anspruch auf eine erste einjährige Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis Anfang September 2010 erworben. Diese Rechtsposition sei deutlich vor dem Inkrafttreten der Rechtsänderung entstanden. Auf andere Umstände als den Ablauf der Zweijahresfrist abzustellen, sei rechtsstaatlich nicht vertretbar. Ansonsten wäre der Ausländer, der nach Ablauf der Zweijahresfrist an der Ehe festhalte, dessen Ehe aber zwei Wochen vor Ablauf der Dreijahresfrist scheitere, schlechter gestellt als derjenige Ausländer, der unmittelbar nach Ablauf der Zweijahresfrist die eheliche Lebensgemeinschaft beende, um seinen Anspruch auf ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht zu wahren; dies wäre mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.

II.

Der Senat kann zunächst nicht nachvollziehen, weshalb die Kammer ungeachtet der rechtlich schwierigen Fragestellungen (siehe nachfolgend) die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO angenommen und am 16.08.2012 in Kenntnis aller für die Entscheidung mit Beschluss vom 17.08.2012 relevanten Umstände das Verfahren dem Einzelrichter übertragen hat. Es bedarf im vorliegenden Fall allerdings keiner näheren Prüfung, welche Konsequenzen das Fehlen der Übertragungsvoraussetzungen nach sich ziehen könnte (vgl. hierzu näher Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfaut/von Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 6 Rn. 16, 25; Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 6 Rn. 28 f.), denn die Antragsgegnerin hat die Entscheidung durch den Einzelrichter nicht gerügt.

Soweit die Antragsgegnerin in der Sache die dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegende Rechtsauffassung angreift, § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sei in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung anzuwenden, wenn die Trennung der Eheleute nach zweijähriger ehelicher Lebensgemeinschaft vor dem 01.07.2011 stattgefunden habe, ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis jedoch erst danach gestellt worden sei, dürften ihre Einwendungen, die nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts begrenzen, zutreffend sein. Aufgrund der den Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO bestimmenden Interessenabwägung sieht der Senat jedoch davon ab, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis zu ändern.

Das Verwaltungsgericht dürfte zu Unrecht davon ausgegangen sein, dass in der vorliegenden Konstellation der Anwendung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung das Verbot „echter Rückwirkung“ entgegenstehe. Vielmehr dürfte das materielle Recht gebieten, die Neufassung der Bestimmung zugrunde zu legen.

Die eigenständige Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten nach § 31 AufenthG und die akzessorische Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG oder § 30 AufenthG sind unterschiedliche Arten einer Aufenthaltserlaubnis. Sie werden für unterschiedliche Zwecke erteilt und ihnen liegen jeweils eigenständige Regelungsgegenstände mit spezifischen Erteilungs- und Verlängerungsvoraussetzungen zugrunde (vgl. zum Trennungsprinzip BVerwG, Urteil vom 09.06.2009 - 1 C 11.08 - InfAuslR 2009, 440 <Rn.13>). Der Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezieht sich auf den Aufenthalt nur in dem Jahr unmittelbar nach Ablauf der Gültigkeit der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis (BVerwG, Urteil vom 22.06.2011 - 1 C 5.10 - InfAuslR 2011, 373 <Rn. 13>). Dieser Anspruch entsteht allerdings erst in dem Zeitpunkt, in welchem alle hierfür notwendigen Voraussetzungen vorliegen.

Zu den vom Ausländer zu erfüllenden Bedingungen dürfte insbesondere auch die ausdrückliche oder jedenfalls konkludente Beantragung des Aufenthaltstitels nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gehören. Dies dürfte sich aus § 81 Abs. 1 AufenthG ergeben. Danach wird ein Aufenthaltstitel einem Ausländer nur auf seinen Antrag erteilt, soweit nichts anderes bestimmt ist. Dass ein Titel von Amts wegen erteilt wird, ist lediglich in § 33 AufenthG vorgesehen, nicht aber in § 31 AufenthG. Aus § 81 Abs. 1 HS 1 AufenthG ist zu schließen, dass der Aufenthaltstitel nur auf den entsprechenden Antrag des Ausländers erteilt wird, der den konkreten Aufenthaltstitel für sich begehrt (vgl. GK-AufenthG, § 81 Rn. 8 ff.). Das Antragserfordernis dürfte damit nicht nur eine verfahrensrechtliche Bedeutung haben, sondern auch einen materiell-rechtlichen Gehalt. Dem Antrag dürfte die Funktion zukommen, die Voraussetzungen für den Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts zu schaffen, der ohne den Willen des Ausländers nicht zu Stande kommen soll. Für die Überlegung, dass der Antrag eine Tatbestandsvoraussetzung der Erteilung des Aufenthaltstitels sein dürfte, dürfte auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sprechen, nach der eine rückwirkende Legalisierung durch Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zeitraum, der vor der Beantragung des Titels liegt, ausgeschlossen ist (BVerwG, Urteil vom 22.06.2011 - 1 C 5.10 - InfAuslR 2011, 373 <Rn. 14>; vgl. auch Senatsurteil vom 08.11.2010 - 11 S 1873/10 - AuAS 2011, 14).

Selbst wenn man § 81 Abs. 1 HS 1 AufenthG, der keine Entsprechung im Ausländergesetz 1990 hat, und systematisch im Kapitel 7 Abschnitt 3 „Verwaltungsverfahren“ steht, lediglich einen verfahrensrechtlichen, deklaratorischen Charakter beimessen (hierzu Hailbronner, AuslR, § 81 Rn. 3) und keine allgemeine materiell-rechtliche Bedeutung zuerkennen wollte, wird sich das Antragserfordernis als Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs aber auch unmittelbar aus § 31 AufenthG ergeben. Das Aufenthaltsrecht, das aus der ehelichen Lebensgemeinschaft resultiert, wandelt sich nach der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht automatisch in ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht um oder verselbstständigt sich (so schon BVerwG, Urteil vom 16.06.2004 - 1 C 20.03 - InfAuslR 2004, 427 - zu § 19 AuslG 1990). Dies gilt erst Recht nach dem Trennungsprinzip unter der Geltung des Zuwanderungsgesetzes. Der Ehegatte, dem bislang ein akzessorisches Aufenthaltsrecht zur Verfügung stand, erhält durch § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Möglichkeit, nach dem Wegfall des seinen Aufenthalt bislang legitimierenden Aufenthaltszwecks im Bundesgebiet verbleiben zu können. Einen Anspruch hierauf hat er jedoch nur, wenn er dies vor Ablauf der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG oder § 30 AufenthG entsprechend beantragt und damit auch zum Ausdruck bringt, dass er gewissermaßen auf einen bestehenden ehebezogenen Aufenthaltstitel verzichtet.

Zwar hat der Antragsteller unter Zugrundelegung des bisherigen Akteninhalts die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau im Bundesgebiet seit dem 03.09.2008 bis zu ihrer Aufhebung im Februar 2011 ununterbrochen mehr als zwei Jahre lang rechtmäßig geführt. Der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter Berufung auf die mittlerweile erfolgte Trennung ist jedoch erst am 17.02.2012 gestellt worden, so dass vor der Rechtsänderung zum 01.07.2011 kein Anspruch auf ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht gegeben war. Da das Antragserfordernis als eine für das Entstehen des Anspruchs konstitutive Voraussetzung somit erst unter der Geltung der Neufassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt worden ist, dürfte für das Begehren des Antragstellers insgesamt die ab 01.07.2011 gültige Gesetzesfassung maßgebend sein (im Ergebnis ebenso BayVGH, Beschluss vom 18.09.2012 - 19 CS 12.1370 - juris und vom 20.07.2012 - 10 CS 12.917, 10 CS 12.919 - juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 18.09.2012 - 6 L 935/12.DA - juris; VG Stuttgart, Urteil vom 05.06.2012 - 6 K 1144/12 - juris; VG München, Urteil 18.01.2012 - M 25 K 11.5222 - juris). Der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis würde in diesem Fall an dem Erfordernis der dreijährigen Ehebestandszeit scheitern.

Die Anwendung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der Fassung vom 01.07.2011 in der vorliegenden Konstellation dürfte nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen.

Belastende Gesetze, die eine echte Rückwirkung beinhalten, sind regelmäßig mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar (siehe näher Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 77). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird von einer echten Rückwirkung nicht nur gesprochen, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift (BVerfG, Beschluss vom 28.11.1984 - 1 BvR 1157/82 - BVerfGE 68, 287, 306), sondern auch dann, wenn eine Norm den Eintritt ihrer Rechtsfolgen von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig macht (BVerfGE, Beschluss vom 14.05.1986 - 2 BvL 2/83 - BVerfGE 72, 200, 241 ff.). Da der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aber erst nach Inkrafttreten der neuen Fassung des § 31 AufenthG gestellt worden ist und damit ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht vor diesem Zeitpunkt nicht entstehen konnte, dürfte sich die Frage der echten Rückwirkung schon gar nicht stellen (vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 18.09.2012 - 19 CS 12.1370 - juris; Senatsbeschluss vom 20.09.2012 -11 S 1337/12 -).

Die ohne gesetzliche Übergangsregelung eingeführte Erhöhung der Mindestbestandszeit in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, die für den Fall des Scheiterns der Ehe ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vorsieht, könnte im vorliegenden Fall wohl lediglich eine unechte Rückwirkung entfalten (siehe hierzu näher Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, a.a.O., Art. 20 Rn. 78 ff.; BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 -2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 - BVerfGE 127, 31, 47 mwN). Die Frage der (unechten) belastenden Rückwirkung stellt sich nicht nur bei Ge- oder Verboten, sondern auch dann, wenn durch ein Gesetz eine bestehende Rechtsposition verschlechtert wird (siehe hierzu BVerfG, Beschluss vom 23.03.1971 - 2 BvL 2/66 u.a. - BVerfGE 30, 367, 386). Der Senat unterstellt insoweit zugunsten des Antragstellers, dass die bei Eheschließung, jedenfalls aber bei der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft bestehende Erwartung, schon nach zweijähriger „Ehebestandszeit“ ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten zu können, nicht nur eine rechtlich irrelevante bloße Aussicht oder Chance ist, sondern eine Rechtsposition im Sinne dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darstellt und die Anhebung der Mindestbestandszeit daher als ein belastendes Gesetz anzusehen ist. Die unechte Rückwirkung zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Regelung nur auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft bezieht (so auch zum Spracherfordernis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 8.09 - InfAuslR 2010, 331 <Rn.69>).

Eine solche unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig. Die Gewährung vollständigen Schutzes zugunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage würde den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen. Soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloße allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 - 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 - BVerfGE 127, 31, 47 f. mwN).

Der Gesetzgeber muss aber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in hinreichendem Maß Rechnung tragen. Die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage sind abzuwägen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein. Eine unechte Rückwirkung ist mit den Grundsätzen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes daher nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt (BVerfG, a.a.O.).

Die Anhebung der Mindestbestandszeit in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG dürfte diesen Anforderungen genügen.

Mit dem eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten in § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG will der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass nach einer bestimmten Mindestbestandsdauer der gelebten Ehe sich hieraus Verfestigungen der Lebensverhältnisse des nachgezogenen Ausländers in Deutschland ergeben (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 13.07.2011 - 22 K 3024/11 - juris; siehe zum Zweck der Regelung auch Hailbronner, AuslR, § 31 Rn. 1 sowie schon zu § 19 AuslG Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrecht, BT-Drs. 11/6321, S. 10, 61 f.). Welche unionsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich eines solchen Aufenthaltsrechts zu beachten sind, bedarf im vorliegenden Fall keiner Erörterung. Verfassungsrechtlich dürfte keine Verpflichtung des Gesetzgebers bestehen, eine solche Regelung überhaupt vorzusehen. Der bei der Ausgestaltung des einfachen Rechts zu beachtende Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG wird durch das Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft bestimmt (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, a.a.O., Art. 6 Rn. 6; Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 27 Rn. 38 mwN). Ist eine solche nicht (mehr) gegeben, muss sich der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit (zum Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers siehe grds. BVerfG, Urteil vom 30.07.2008 - 1 BvR 3262/07 - BVerfGE 121, 317, 356 f. und vom 07.05.1991 -1 BvL 32/88 -BVerfGE 84, 168, 184 f. und vom 24.10.1991 -1 BvR 1159/91 -juris), wie er den Zuzug und Aufenthalt von Ausländern regelt, nicht in den durch Art. 6 Abs. 1 GG gezogenen Grenzen bewegen. Die weitreichende Gestaltungsfreiheit gilt nicht nur für das „Ob“ eines eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten, sondern auch für dessen Voraussetzungen und Inhalte. Die Funktion des Art. 6 Abs. 1 GG u.a. als wertentscheidende Grundsatznorm (Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, a.a.O., Art. 6 Rn. 3) gebietet es daher auch nicht, bei einer Verschärfung des ehegattenunabhängigen Aufenthaltsrechts den Interessen der Ehepartner während einer „kriselnden“ Ehe Rechnung zu tragen; der Senat teilt daher die mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG geäußerten Bedenken des Verwaltungsgerichts zur Anwendung der Neuregelung im vorliegenden Fall nicht.

Mit der Anhebung der Dauer der rechtmäßig im Bundesgebiet geführten ehelichen Lebensgemeinschaft von zwei auf drei Jahre als eine Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, sog. Scheinehen, d.h. Ehen, die allein mit dem Ziel geschlossen werden, dem Ehegatten ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen (vgl. hierzu in rechtstatsächlicher Hinsicht bspw. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Missbrauch des Rechts auf Familiennachzug - Scheinehen und missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen, Working Paper 43, 2012, S. 10 ff.), mit ausländerrechtlichen Mitteln zu begegnen. Dies verdeutlicht die Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften vom 13.01.2011. Dort heißt es (BT-Drs. 17/4401, S. 9 f.):

„….Die Erhöhung der Mindestehebestandszeit ist erforderlich, um den Anreiz für ausschließlich zum Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte Eheschließungen (Scheinehen) zu verringern. Wahrnehmungen aus der ausländerbehördlichen Praxis deuten darauf hin, dass die Verkürzung der Mindestehebestandszeit auf zwei Jahre zu einer Erhöhung der Scheineheverdachtsfälle geführt hat. Darüber hinaus erhöht die Verlängerung der Mindestehebestandszeit die Wahrscheinlichkeit, dass eine Scheinehe nachgewiesen werden kann, bevor durch sie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht begründet wird. Die Erhöhung der Mindestehebestandszeit führt nicht zu einer übermäßigen Belastung der Ehegatten, wenn keine Scheinehe vorliegt. In Fällen besonderer Härte sieht Absatz 2 bereits nach geltender Rechtslage eine Ausnahmeregelung vor….“

Der Gesetzgeber hat die „Grundkonzeption“ des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht geändert. Der Regelung ist schon bisher immanent gewesen, dass derjenige, der die Bestandszeit der ehelichen Lebensgemeinschaft unterschreitet und sich nicht auf eine besondere Härte i.S.d. Absatz 2 berufen kann, keinen Anspruch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht hat (vgl. hierzu auch VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.01.2012 - 6 K 6/12 - juris).

Es liegt im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die Erhöhung der „Mindestehebestandszeit“ als ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel zur Verfolgung des von ihm beabsichtigten und (verfassungs-)rechtlich nicht zu beanstandenden Zwecks anzusehen. Sein (politischer) Gestaltungsspielraum erlaubt es ihm auch, in Verfolgung dieses Interesses andere Belange zurückzuzustellen sowie Typisierungen und Generalisierungen vorzunehmen. Dass die längere Mindestbestandszeit auch für die Ehegatten solcher Ehen gilt, die keine Scheinehen (gewesen) sind, und der Gesetzgeber keine Übergangsregelung vorgesehen hat, dürfte als Ausdruck der ihm obliegenden Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu beanstanden sein, insbesondere auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip wahren.

Der Anwendung der Neufassung des § 31 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG dürfte im vorliegenden Fall auch nicht der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz bewahrt nicht vor jeder Enttäuschung. Verfassungsrechtlich schutzwürdig ist nur ein betätigtes Vertrauen, d.h. eine „Vertrauensinvestition“, die zur Erlangung einer Rechtsposition oder zu entsprechenden anderen Dispositionen geführt hat (BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 8.09 - InfAuslR 2010, 331 <Rn.69> mwN). Dass solches beim Antragsteller gegeben sein könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Im vorliegenden Fall bestehen auch keine Anhaltspunkte, die die Annahme einer besonderen Härte nach § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG rechtfertigen könnten.

Es spricht somit vieles dafür, dass sich das Begehren des Antragstellers nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der Fassung ab 01.07.2011 beurteilt und ihm daher mangels Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung der dreijährigen rechtmäßigen ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet kein entsprechender Aufenthaltstitel zu erteilten sein dürfte. Die Rechtsfrage, ob in der vorliegenden Konstellation die Alt- oder Neufassung des § 31 AufenthG Anwendung findet, ist jedoch bislang nicht abschließend geklärt. Der geschiedene und kinderlose Antragsteller hat erhebliche Bindungen im Bundesgebiet (so ist er ausweislich der vorlegten Verdienstbescheinigungen nebst Arbeitgeberbestätigung seit längerem beim gleichen Arbeitgeber mit einem Nettoeinkommen von durchschnittlich mehr als 1.600 EUR im Monat beschäftigt), die im Falle seiner sofortigen Ausreise voraussichtlich verloren gingen. Der Senat räumt daher unter Beachtung der den Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO bestimmenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe (BVerfG, Beschlüsse vom 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 - NVwZ 2004, 93, und vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - ZAR 2007, 243; siehe auch Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfaut/von Albedyll, a.a.O., § 80 Rn. 93 ff. mwN) dem Interesse des Antragstellers, vorläufig im Bundesgebiet zu verbleiben, den Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung ein. Aus der erfolgten Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs kann der Antragsteller allerdings keinen Vertrauensschutz herleiten. Entscheidet er sich, seinen Aufenthalt im Bundesgebiet vorläufig fortzusetzen, so geschieht dies auf eigenes Risiko. Geht das Hauptsacheverfahren zu seinen Lasten aus, kann er sich nicht darauf berufen, dass sich in der Zwischenzeit sein Aufenthalt weiter verfestigt hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).