FG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 10.05.2012 - 1 K 19/11
Fundstelle
openJur 2013, 2009
  • Rkr:
Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Kindergeldberechtigung für die Kinder A und B sowie über die Frage, an wen das Kindergeld ggf. auszuzahlen ist.

Der Kläger und die Beigeladene, beide polnische Staatsangehörige, sind die leiblichen Eltern der Kinder A, geboren am ..., und B, geboren am ... Der Kläger und die Beigeladene waren und sind nicht miteinander verheiratet. Der freizügigkeitsberechtigte Kläger hat seinen alleinigen Wohnsitz und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Hamburg, die Beigeladene hat ihren alleinigen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in C, Polen.

Der Kläger war vom 09.12.2009 bis zum 31.05.2010 sozialversicherungspflichtig angestellt bei "D e. V". Seit dem 01.06.2010 bezieht der Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Nach Abschluss der Oberschule im ... 2009 besuchte A für ein Schuljahr eine ... Privatschule (... Studium ... in C), die die Rechte einer öffentlichen Schule hatte. Ab ... 2010 studierte A an der Universität C ... A wohnte zunächst im Haushalt der Beigeladenen, mietete ab ... 2011 bis ... 2011 ein Zimmer in einer anderen Wohnung und zog danach wieder in den Haushalt der Beigeladenen. A hatte in den Jahren 2010 und 2011 keine eigenen Einkünfte oder Bezüge und wurde von der Beigeladenen finanziell unterstützt.

B lebte im Haushalt der Beigeladenen bis heute.

Die Beigeladene übte jedenfalls seit September 2010 in Polen eine berufliche Vollzeittätigkeit bei dem Unternehmen "E" in der Niederlassung in C aus. Polnische Familienleistungen wurden nach Auskunft der zuständigen polnischen Behörde vom ... 2010 ab 2009 nicht geleistet, da die Einkommensgrenzen nach polnischem Recht überschritten waren bzw. nach Auskunft vom ... 2011 ab September 2010 kein Antrag gestellt worden war.

Die Beklagte setzte zunächst Kindergeld für die Kinder A und B zugunsten des Klägers als Kindergeldberechtigten fest und zahlte das Kindergeld aufgrund eines Abzweigungsantrags an die Beigeladene aus. Mit Bescheid vom ... 2010 hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder A und B ab September 2010 auf und zahlte das Kindergeld ab September 2010 nicht mehr aus. Hiergegen legte der Kläger am ... 2010 Einspruch ein, den die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom ... 2011 zurückwies.

Am ... 2011 erhob der Kläger Klage. Er ist der Meinung, er sei kindergeldberechtigt. Das Kindergeld sei an die Beigeladene auszuzahlen.

Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten über die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder A und B vom ... 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 aufzuheben und ab September 2010 Kindergeld für die Kinder A und B an die Beigeladene auszuzahlen.

Die Beigeladene stellt keinen eigenen Antrag.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, der Kläger sei nicht kindergeldberechtigt, sondern die Beigeladene, da die Kinder in den Haushalt der Beigeladenen aufgenommen seien. Es sei ein deutscher Unterschiedsbetrag nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) an die Beigeladene zu zahlen. Dies ergebe sich aus den ab Mai 2010 anzuwendenden europäischen Rechtsvorschriften. Mangels Kindergeldberechtigung des Klägers komme eine Abzweigung an die Beigeladene nicht in Betracht.

Die Beigeladene stellte am ... 2010 einen eigenen Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder A und B bei der Familienkasse F - Bundesagentur für Arbeit -, der mit Bescheid vom ... 2011 abgelehnt wurde. Über den hiergegen am ... 2011 eingelegten "Widerspruch" ist noch nicht entschieden.

Dem Gericht haben die Kindergeldakte der Beklagten, Kindergeld-Nummer ... Band 2, sowie die Kindergeldakte der Familienkasse F - Bundesagentur für Arbeit -, Kindergeldnummer ..., vorgelegen.

Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen sowie das Protokoll des Erörterungstermins vom 06.05.2011 verwiesen.

Gründe

I. Das Gericht entscheidet gemäß § 90a Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Gerichtsbescheid.

II. Das Gericht legt die Klage in der Weise aus, dass der Kläger im Ergebnis begehrt, das Kindergeld für die beiden Kinder A und B zu seinen Gunsten festzusetzen und das festzusetzende Kindergeld an die Beigeladene weiterhin abzuzweigen. Nach diesem Begehren ist der Antrag des Klägers in der Weise zu fassen, den angefochtenen Bescheid vom ... 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 aufzuheben und das Kindergeld weiterhin an die Beigeladene auszuzahlen, da mit einem solchen Antrag die vorherige Rechtslage hergestellt wird, wonach Kindergeld für die beiden Kinder A und B festgesetzt war und an die Beigeladene ausgezahlt wurde.

Diese Auslegung ergibt sich aus dem Inhalt des angefochtenen Bescheides vom ... 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 und dem im Klageverfahren geäußerten Ziel des Klägers. Dem Begehren des Klägers entspricht es, sowohl über die Festsetzung des Kindergeldes und im Fall seiner Kindergeldberechtigung zugleich über die Frage der Abzweigung zu entscheiden. Zwar wäre in einem Verfahren über die Frage, ob der Kläger allein kindergeldberechtigt ist, die Beigeladene nicht notwendig beizuladen (vgl. Bundesfinanzhof - BFH-, Urteil vom 16.12.2003 VIII R 67/00, Sammlung der Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2004, 934 mit weiteren Nachweisen - m. w. N. -). Allerdings würde dies dem Begehren des Klägers nicht gerecht, da der Kläger im Ergebnis die Auszahlung des für ihn festzusetzenden Kindergeldes an die Beigeladene begehrt, so wie es der Rechtslage vor Erlass des angefochtenen Bescheides entsprach. Für diese Auslegung sprechen im Übrigen auch prozessökonomische Gesichtspunkte.

III. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom ... 2010 über die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder A und B ab September 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 ist aufzuheben, da er rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides wird das Kindergeld für die Kinder A und B weiterhin ab September 2010 festgesetzt. Das Kindergeld ist weiterhin an die Beigeladene auszuzahlen.

1. Der Bescheid vom ... 2010 über die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder A und B ab September 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 ist rechtswidrig. Kindergeld für die Kinder A und B ist ab September 2010 für den Kläger als Kindergeldberechtigten festzusetzen.

a) Der Kläger ist gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG anspruchsberechtigt, da er als freizügigkeitsberechtigter Ausländer (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - Aufenthaltsgesetz - AufenthG -, § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU -) seinen Wohnsitz im Inland hat.

Die Beigeladene ist nicht gemäß § 62 Abs. 1 EStG anspruchsberechtigt, da sie im Inland keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Eine Berechtigung der Beigeladenen auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ist nicht ersichtlich, da die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BKGG nicht vorliegen.

b) Die Kinder A und B sind gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu berücksichtigen. Dass die Kinder ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Polen haben, steht nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG ihrer Berücksichtigung nicht entgegen. A ist gemäß § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a bzw. b EStG zu berücksichtigen, da sie sich im September 2010 in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten befand und seit Oktober 2010 an der Universität für einen Beruf ausgebildet wird. Die Einkünfte und Bezüge von A lagen in den Kalenderjahren 2010 und 2011 unter dem Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.

c) § 64 Abs. 2 EStG ist nicht anzuwenden, da diese Vorschrift voraussetzt, dass mehrere Personen nach deutschem Recht berechtigt sind (ebenso Niedersächsisches Finanzgericht - FG -, Urteil vom 15.12.2011, 3 K 155/11, juris; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.12.2011, 2 K 2085/10, juris; FG München, Urteil vom 27.10.2011, 5 K 3245/10, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2012, 256 m. w. N., Revisionsaktenzeichen: V R 46/11).

d) Der Anspruch des Klägers auf Kindergeld ist nicht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Es besteht kein Anspruch auf polnische Familienleistungen für die Kinder A und B bzw. ist ein etwaiger Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen für die beiden Kinder A und B nachrangig.

aa) Die Beigeladene hat keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Dass die Beigeladene keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen hat, ergibt sich aus dem polnischen Gesetz über Familienleistungen (Gesetz vom 30.12.2003, polnisches Gesetzblatt von 2006 Nr. 139, Pos. 992 mit späteren Änderungen). Gemäß Art. 5.1 des Gesetzes wird das polnische Kindergeld bewilligt, wenn das Familieneinkommen pro Familienmitglied oder das Einkommen der Person in der Ausbildung den Betrag von 504 PLN (ca. 122 €) nicht übersteigt (vergleiche auch Bundeszentralamt für Steuern - BZSt -, Schreiben vom 07.12.2011, Bundessteuerblatt Teil I - BStBl I 2012, 18). Die zuständige polnische Behörde hat auf dem Vordruck E 411 (gemäß Beschluss Nr. 201 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Verwaltungskommission - vom 15.12.2004, Amtsblatt der Europäischen Union [früher: Gemeinschaften] - Abl. - L 129 vom 23.05.2005, S. 1 ff.) bestätigt, dass der Beigeladenen wegen Überschreitens der Einkommensgrenzen keine polnischen Familienleistungen gewährt werden. Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht daraus, dass die zuständige polnische Behörde später mitteilte, dass die Beigeladene ab September 2010 keinen Antrag auf polnische Familienleistungen gestellt habe. An den finanziellen Verhältnissen der Beigeladenen hat sich im Streitzeitraum nichts geändert, da die Beigeladene schon zum Zeitpunkt der ersten Auskunft bei ihrem polnischen Arbeitgeber vollzeitbeschäftigt war und dies blieb.

bb) Der Kläger hat selbst keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen bzw. ist ein etwaiger Anspruch nach europäischen Vorschriften, die § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorgehen, nachrangig.

Ein Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen ist nicht gegeben, da der Kläger keinen Wohnsitz in Polen hat (vgl. zu dieser Voraussetzung BZSt-Schreiben vom 07.12.2011, BStBl I 2012, 18).

Selbst wenn ein Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen bestehen sollte, wäre dieser Anspruch nachrangig.

Gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (im Folgenden: EG-VO 883/2004, Abl. L 166 vom 30.04.2004, S. 1 ff.), der der Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorgeht, sind im Streitfall letztlich die durch den Wohnort des Klägers, hier in Deutschland, ausgelösten Ansprüche zu berücksichtigen.

Die seit dem 01.05.2010 geltende EG-VO 883/2004 (Art. 91 Satz 2 EG-VO 883/2004 in Verbindung mit - i. V. m. - Art. 97 Satz 2 der Verordnung [EG] Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 - im Folgenden: EG-DVO 987/2009 -, Abl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1 ff.) ist auf den Kläger anwendbar, da für den Kläger gemäß Art. 87 Abs. 8 Satz 1 EG-VO 883/2004 infolge der EG-VO 883/2004 nicht die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates als desjenigen gelten, der durch Titel II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (im Folgenden: EWG-VO 1408/71, Abl. L 149 vom 05.07.1971, S. 2, zuletzt geändert durch die Verordnung [EG] Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.06.2008, Abl. L 177 vom 04.07.2008, S. 1) bestimmt wird. Danach galten für den Kläger die deutschen Rechtsvorschriften (Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a EWG-VO 1408/71), wie dies auch nach Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a (bis 31.05.2010) bzw. Buchstabe e (ab 01.06.2010) EG-VO 883/2004 der Fall ist.

Sofern allein ein Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen aufgrund seiner Staatsangehörigkeit bestehen sollte, ist dieses Kriterium zur Bestimmung der Rangfolge von Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten nicht von Bedeutung.

Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b EG-VO 883/2004 ist nicht einschlägig, da nicht Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren sind.

e) Ein Anspruch des Klägers auf Familienleistungen nach anderen als den deutschen Rechtsvorschriften besteht auch nach Art. 67 Satz 1 EG-VO 883/2004 nicht.

Es kann dahin gestellt bleiben, ob einem Anspruch nach Art. 67 Satz 1 EG-VO 883/2004 die Vorschrift des Art. 11 Abs. 1 Satz 1 EG-VO 883/2004 entgegensteht. Denn Art. 11 Abs. 1 Satz 1 EG-VO 883/2004 als allgemeine Vorschrift könnte nicht ausschließen, dass für einzelne Leistungen besondere Vorschriften der Verordnung gelten. Insofern könnten die Grundsätze übertragbar sein, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - mit Urteil vom 09.12.1992 in der Rechtssache - Rs. - C-119/91 (Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts, Teil I - Gerichtshof, - Slg. I -, 1992 Seite I-06393 m. w. N.) zur Auslegung der Art. 13 und Art. 76 EWG-VO 1408/71 und zur Auslegung des Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.03.1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (im Folgenden: EWG-DVO 574/72; ABl. L 74 vom 27.03.1972, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 120/2009 der Kommission vom 09.02.2009, Abl. L 39 vom 10.02.2009, S. 29) ausgeführt hat.

Aus Art. 67 Satz 1 EG-VO 883/2004 kann allenfalls ein Anspruch auf Familienleistungen nach deutschen Rechtsvorschriften für den Kläger bestehen. Denn nach Art. 67 Satz 1 EG-VO 883/2004 hätte der Kläger Ansprüche auf Familienleistungen für seine Kinder, die in Polen wohnen, nach den deutschen Rechtsvorschriften, als ob die Kinder in Deutschland wohnen würden.

f) Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten war die Festsetzung nicht aufzuheben, weil nach den Vorschriften der EG-VO 883/2004 i. V. m. § 64 EStG nur der Person Kindergeld zu gewähren ist, die das Kind in ihren Haushalt aufgenommen hat. Diese Rechtsauffassung lehnt der Senat ab.

Die Prioritätsregeln des Art. 68 EG-VO 883/2004 sind nicht anwendbar bzw. führen zur Nachrangigkeit von Ansprüchen auf polnische Familienleistungen (s. o.).

Entgegen der Auffassung des FG Bremen (Urteil vom 10.11.2011, 3 K 26/11 [1], EFG 2012, 143, Revisionsaktenzeichen: III R 69/11) ist aus der in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 EG-DVO 987/2009 angeordneten sogenannten Familienbetrachtung nicht zu fingieren, dass alle beteiligten Personen unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen und in Deutschland wohnen. Art. 60 Abs. 1 EG-DVO 987/2009 begründet keine zusätzlichen materiell-rechtlichen Ansprüche, sondern enthält lediglich verfahrensrechtliche Regelungen zur Umsetzung der EG-VO 883/2004 (Niedersächsisches FG, Urteil vom 08.02.2012, 9 K 353/10, juris, m. w. N.).

Nach Auffassung des Senates würde es dem Sinn und Zweck der EG-VO 883/2004 sowie der EG-DVO 987/2009 widersprechen, wenn in Deutschland ein Kindergeldanspruch einer nicht in Deutschland lebenden Person konstruiert wird, der bei Anwendung der nationalen Vorschriften der jeweils betroffenen Mitgliedstaaten nicht bestehen würde und auch nicht zuvor bestand (vgl. auch FG Hamburg, Urteil vom 31.01.2012, 1 K 204/11, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 09.02.2012, 16 K 1564/11 Kg, juris; Niedersächsisches FG, Urteil vom 15.12.2011, 3 K 155/11, juris; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.12.2011, 2 K 2085/10, juris; Niedersächsisches FG, Urteil vom 08.12.2011, 16 K 291/11, Revisionsaktenzeichen: III R 4/12; FG München, Gerichtsbescheid vom 21.11.2011, 5 K 2527/10, EFG 2012, 627, Revisionsaktenzeichen: V R 50/11; FG München, Urteile vom 27.10.2011, 5 K 1145/11, EFG 2012, 255, 5 K 1075/11, EFG 2012, 253, Revisionsaktenzeichen: V R 49/11, 5 K 2614/10, EFG 2012, 249, Revisionsaktenzeichen: III R 73/11, und 5 K 3245/10, EFG 2012, 256, Revisionsaktenzeichen: V R 46/11; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.03.2011, 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323).

2. Das Kindergeld ist gemäß § 74 Abs. 1 EStG weiterhin an die Beigeladene auszuzahlen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, da der Kläger seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt bzw. der Kläger mangels eigener Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist und allein die Beigeladene den Kindern tatsächlich Unterhalt gewährt. Da die Beigeladene die einzige Person ist, die den Kindern Unterhalt gewährt, ist das nach § 74 Abs. 1 EStG der Beklagten eingeräumte Ermessen dahingehend reduziert, dass nur die Auszahlung des Kindergeldes an die Beigeladene ermessensgerecht ist (vgl. auch BFH-Urteil vom 17.02.2004 VIII R 58/03, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFHE - 206, 1; BStBl II 2006, 130; BFH-Urteil vom 26.08.2010 III R 16/08, BFHE 232, 12).

III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 135 Abs. 1, 139 Abs. 4 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 1 und Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10 und 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).

Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anwendung der EG-VO 883/2004 und der EG-DVO 987/2009 wegen der differierenden Rechtsauffassungen in den oben genannten finanzgerichtlichen Entscheidungen und wegen der bereits anhängigen Revisionsverfahren beim BFH.