FG Hamburg, Urteil vom 31.01.2012 - 1 K 204/11
Fundstelle
openJur 2013, 1918
  • Rkr:
Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Kindergeld für die in Portugal lebende Tochter des Klägers.

Der Kläger ist portugiesischer Staatsangehöriger und hat seinen ständigen Wohnsitz in Hamburg. Er ist hier nichtselbstständig beschäftigt und unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Am 05.03.2010 beantragte er die Gewährung von Kindergeld für seine in Portugal lebende Tochter A, geb. ... 1997. Die Tochter lebt in B/Portugal bei einem Onkel (Pflegevater) in dessen Haushalt und geht dort zur Schule. Ihre in Afrika in C lebende Mutter ist nicht erwerbstätig und zahlt keinen Unterhalt für die Tochter. Der Pflegevater hat in Portugal keinen Anspruch auf Familienleistungen für die Tochter des Klägers.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 04.11.2010 mit der Begründung ab, das Kind lebe nicht im Haushalt des Klägers und auch nicht im Haushalt der Kindesmutter. Der vom Kläger am 19.11.2010 eingelegte Einspruch blieb gemäß Einspruchsentscheidung vom 04.08.2011 erfolglos.

Der Kläger hat am 01.09.2011 Klage erhoben. Im Verlauf des Rechtsstreits hat die Beklagte mit Bescheid vom 09.11.2011 Kindergeld für die Monate März und April 2010 gewährt. Insoweit haben die Beteiligten die Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt und ist das Verfahren abgetrennt worden, so dass Streitgegenstand nur noch die Kindergeldgewährung ab Mai 2010 ist.

Der Kläger ist der Auffassung, ihm sei Kindergeld gem. §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 63 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG - i. V. m. § 32 Abs. 1 EStG zu gewähren. Die Prioritätsregelungen gem. Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit - Grundverordnung (zu dieser Bezeichnung vgl. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 - Durchführungsverordnung -) - seien nicht anwendbar, weil keine Familienleistungen nach den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaates, insbesondere nach den Vorschriften Portugals, zu gewähren sind. Der Wohnsitz der Tochter in Portugal sei gemäß § 63 Abs. 1 S. 3 EStG nicht schädlich. Weitere vorrangige Anspruchsberechtigte gemäß § 64 EStG seien nicht vorhanden. Weder der Cousin des Klägers (Onkel der Tochter, Pflegevater) noch die Kindesmutter seien gem. § 62 EStG Kindergeldberechtigte. Die fehlende Haushaltsaufnahme beim Kläger sei daher kein Hindernis für die Kindergeldgewährung. Der Anspruch bestehe auch unter Berücksichtigung von Art. 67 Grundverordnung. Die Auffassung des Beklagten, Kindergeld sei an den in Portugal lebenden Cousin des Klägers zu zahlen, überzeuge nicht. Insbesondere bestehe für ihn kein Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz - BKGG -.

Der Kläger beantragt,1. den Bescheid vom 04.11.2010 und die Einspruchsentscheidung vom 04.08.2011 aufzuheben und2. die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger für sein Kind A ab 01.05.2010 Kindergeld zu gewähren.Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf die ab Mai 2010 anzuwendende Grundverordnung und die Durchführungsverordnung dazu und die darin getroffenen koordinierenden Zuständigkeitsregeln. Unter Anknüpfung an Art. 67 Grundverordnung, wonach Familienleistungen so gewährt werden müssen, als ob die Familienangehörigen in Deutschland wohnten, sei darauf abzustellen, wer anspruchsberechtigt sei, wenn auch der Pflegevater in Deutschland wohnen würde. Da er das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe, sei er nach § 1 BKGG i. V. m. Art. 67,68 Grundverordnung und Art. 60 Abs. 1 S. 2 Durchführungsverordnung anspruchsberechtigt. Dies gelte insbesondere auch unter Heranziehung der im Urteil des EuGH in der Rechtssache Slanina, C-363-08 formulierten Grundsätze.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin zugestimmt und auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 26.01.2012 wird Bezug genommen.

Dem Gericht hat die Kindergeldakte der Beklagten bezüglich des Klägers vorgelegen.

Gründe

Die Entscheidung ergeht mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 79a Abs. 3, 4 Finanzgerichtsordnung - FGO - durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin und gemäß § 90 Abs. 2 FGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.

I.

Die Klage ist begründet. Die Beklagte hat rechtswidrig den Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld ab Mai 2010 abgelehnt und den Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt, § 101 S. 1 FGO.

1. Der Kläger hat für seine Tochter A einen Anspruch auf Kindergeld gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 3 i. V. m. 32 Abs. 1 EStG.

a) Der Kläger, der als portugiesischer Staatsangehöriger freizügigkeitsberechtigt ist, gehört zum Kreis der Anspruchsberechtigten gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, weil er im Inland seinen Wohnsitz hat. Zudem unterliegt er gemäß Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchstabe a) Grundverordnung den deutschen Rechtsvorschriften, weil er in Deutschland eine Beschäftigung ausübt.

b) Die leibliche Tochter des Klägers lebt in Portugal und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, so dass sie zum Kreis der Kinder gehört, für die gem. § 63 Abs. 1 EStG Kindergeld zu gewähren ist.

2. Dem Kläger ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht etwa deshalb kein Kindergeld zu zahlen, weil das Kindergeld nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG bzw. § 3 Abs. 2 S. 1 BKGG i. V. m. Art. 67,68 Grundverordnung und Art. 60 Abs. 1 Durchführungsverordnung unter Heranziehung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Slanina, C-363/08 vorrangig dem in Portugal lebenden Pflegevater seiner Tochter zustünde.

a) Der Anwendungsbereich der Prioritätsregeln in Art. 67, 68 Grundverordnung und Art. 60 Abs. 1 Durchführungsverordnung ist im Streitfall von vornherein nicht eröffnet, weil keine Anspruchskonkurrenz zwischen Ansprüchen auf Familienleistungen für das Kind A in zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union besteht. Lediglich für den Fall einer solchen Anspruchskonkurrenz gelten die genannten Prioritätsregeln. Dies folgt bereits daraus, dass gem. Abs. 35 der Erwägungen, die der Grundverordnung zu Grunde liegen, ungerechtfertigte Doppelleistungen für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats mit Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der Familienangehörigen vermieden werden sollen. Dementsprechend regelt Art. 68 Grundverordnung, welche Ansprüche maßgeblich sind, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Eine solche Situation besteht im Streitfall jedoch nicht, da lediglich Ansprüche des Klägers auf Kindergeld gem. §§ 62, 63 EStG bestehen und kein Anspruch des Pflegevaters auf Familienleistungen in Portugal besteht.

b) Der Pflegevater hat keinen Anspruch aus § 1 Abs. 1 BKGG, weil er nicht zum Kreis der dort aufgeführten möglichen Anspruchsberechtigten gehört.

Auch aus Art. 67 Grundverordnung ergibt sich nichts anderes. Die Vorschrift besagt lediglich, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen. Diese Regelung betrifft allein die Tochter des Klägers, für die er nach dieser Regelung einen Kindergeldanspruch unabhängig davon hat, in welchem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Tochter wohnt. Dies steht im Einklang mit der Regelung in § 63 Abs. 1 S. 3 EStG. Für den Pflegevater der Tochter ist diese Regelung dagegen nicht anzuwenden, weil es nicht um Familienleistungen für ihn geht und er auch nicht zu den Familienangehörigen im Sinne von Art. 1 Buchst. i) Grundverordnung gehört.

Da von vornherein damit der Anwendungsbereich der Art. 67, 68 Grundverordnung nicht eröffnet ist, kommt es auf die nähere Ausgestaltung des Verfahrens in Art. 60 Abs. 1 Durchführungsverordnung nicht an. Insbesondere kann diese Vorschrift nicht dafür herangezogen werden, um neben dem Anspruch des Klägers aus §§ 62, 63 EStG einen weiteren inländischen Kindergeldanspruch des in Portugal lebenden Pflegevaters seiner Tochter nach dem BKGG zu konstruieren und so erst zu einer unter Anwendung von § 64 EStG zu lösenden Anspruchskonkurrenz zu kommen. Ein solcher Anspruch besteht auch nicht unter Heranziehung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Slanina, C-363/08, die allein die Ansprüche von Personen betraf, die durch den Wegzug aus einem Mitgliedstaat keine Ansprüche verlieren dürfen; diese Situation ist mit der des in Portugal lebenden Pflegevaters der Tochter des Klägers nicht vergleichbar.

c) Nach Auffassung des Gerichts wird es dem Sinn und Zweck der Regelungen in der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung, bei einem Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zur Vermeidung ungerechtfertigter Doppelleistungen festzulegen, welche Ansprüche vorrangig bestehen, nicht gerecht, wenn in einer Konstellation, in der lediglich ein Anspruch nach den Rechtsvorschriften Deutschlands besteht, ein weiterer Anspruch eines in einem anderen Mitgliedstaat lebenden möglichen Berechtigten in Deutschland konstruiert wird. Das Gericht folgt damit der Rechtsauffassung, die auch das FG München in mehreren Urteilen vom 27.10.2011 (5 K 1075/11, 5 K 1145/11, 5 K 2614/11 und 5 K 3245/11 - hierzu Revision beim BFH anhängig unter V R 46/11, jeweils veröffentlicht in juris) sowie das Niedersächsische Finanzgericht im Urteil vom 08.12.2011, 16 K 291/11, juris und das Finanzgericht Rheinland-Pfalz im Urteil vom 23.03.2011, 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323 vertreten (a. A. FG Bremen Urteil vom 10.11.2011, 3 K 26/11 (1), EFG 2012,143).

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs.1, Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO.

Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anwendung der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 wegen der differierenden Rechtsauffassungen in den oben genannten finanzgerichtlichen Entscheidungen und wegen des bereits anhängigen Revisionsverfahrens beim BFH V R 46/11.