FG Hamburg, Urteil vom 22.06.2011 - 4 K 80/11
Fundstelle
openJur 2013, 1729
  • Rkr:
Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung von Ausfuhrerstattung durch das beklagte Hauptzollamt.

Die Klägerin ließ im April 1993 Rindfleisch zur Ausfuhr nach Jordanien abfertigen und erhielt hierfür auf ihren Antrag vom beklagten Hauptzollamt im Wege der Vorfinanzierung Ausfuhrerstattung. Nach Vorlage entsprechender Zollbelege gab das beklagte Hauptzollamt noch im Jahre 1993 die von der Klägerin gestellten Sicherheiten frei. Nachdem im Jahre 1998 Zweifel aufgekommen waren, ob das Fleisch tatsächlich in den freien Verkehr Jordaniens gelangt oder nicht vielmehr im Transit- und Reexportverfahren in den Irak befördert worden sei, forderte das beklagte Hauptzollamt mit Bescheid vom 13.10.1999 die der Klägerin gewährte Ausfuhrerstattung zurück.

Ihrer gegen den Rückforderungsbescheid erhobenen Klage gab das Finanzgericht Hamburg im 1. Rechtsgang (Urteil vom 21.04.2005, IV 174/03) mit der Begründung statt, dass dem vom beklagten Hauptzollamt geltend gemachten Rückforderungsanspruch Verjährung gemäß Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 entgegenstehe, weil die Rückforderung mehr als vier Jahre nach der in Rede stehenden Ausfuhr geltend gemacht worden sei; die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 gelte auch für Sachverhalte, die vor dem In-Kraft-Treten dieser Verordnung verwirklicht worden seien. Zwar behielten nach Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, eine längere Frist als die in Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 vorgesehene Frist anzuwenden. Von dieser Ermächtigung habe die Bundesrepublik Deutschland indes keinen Gebrauch gemacht. Eine analoge Anwendung des § 195 BGB a. F. sei schon unter Hinweis darauf abzulehnen, dass die Geltung einer 30-jährigen Verjährungsfrist die Rückforderungsansprüche praktisch unverjährbar mache und die unionsrechtlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unterlaufen würde.

Das beklagte Hauptzollamt legte gegen das Urteil des Finanzgerichts Hamburg Revision beim Bundesfinanzhof ein, der das Verfahren aussetzte, um dem Europäischen Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen (Beschluss vom 27.03.2007, VII R 23/06):

1. Ist die in Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 2988/95 geregelte Verjährungsfrist auch dann anzuwenden, wenn eine Unregelmäßigkeit begangen oder beendet worden ist, bevor die Verordnung Nr. 2988/95 in Kraft getreten ist?

2. Ist die dort geregelte Verjährungsfrist auf verwaltungsrechtliche Maßnahmen wie die Rückforderung infolge von Unregelmäßigkeiten gewährter Ausfuhrerstattung überhaupt anwendbar?

Falls diese Fragen zu bejahen sein sollten:

3. Kann eine längere Frist gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 von einem Mitgliedstaat auch dann angewandt werden, wenn eine solche längere Frist in dem Recht des Mitgliedstaats bereits vor Erlass der vorgenannten Verordnung vorgesehen war? Kann eine solche längere Frist auch dann angewandt werden, wenn sie nicht in einer spezifischen Regelung für die Rückforderung von Ausfuhrerstattung oder für verwaltungsrechtliche Maßnahmen im Allgemeinen vorgesehen war, sondern sich aus einer allgemeinen, alle nicht speziell geregelten Verjährungsfälle umfassenden Regelung des betreffenden Mitgliedstaats (Auffangregelung) ergab?"

Mit Urteil vom 29.01.2009 (verbundene Rechtssachen C-278/07 bis C-280/07) bejahte der Europäische Gerichtshof die beiden ersten Vorlagefragen. Auf die dritte Vorlagefrage antwortete der EuGH wie folgt:

"Die längeren Verjährungsfristen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 weiterhin anwenden dürfen, können sich aus Auffangregelungen ergeben, die dem Erlass dieser Verordnung vorausgehen."

Mit Urteil vom 07.07.2009 (VII R 23/06) hob daraufhin der Bundesfinanzhof das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 21.04.2005 (IV 174/03) mit der Begründung auf, dass der Rückzahlungsanspruch bei Erlass des angefochtenen Bescheides nicht verjährt gewesen sei, weil die Vorschrift des § 195 BGB in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung analog anzuwenden sei, und verwies die Sache an das Finanzgericht Hamburg zurück, um zu klären, ob unter Berücksichtigung der Verteilung der Feststellungslast die für eine Rückforderung der Ausfuhrerstattung erforderlichen Voraussetzungen vorlägen, insbesondere die Ausfuhrwaren nicht in den freien Verkehr Jordaniens überführt worden seien. Der Bundesfinanzhof ließ in seinem Urteil dahinstehen, ob die Anwendung der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB a. F. gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt, und führte insoweit aus: Soweit ersichtlich, sei zu § 195 BGB a. F. in der jahrzehntelangen Rechtsprechung jedenfalls der deutschen Gerichte und im Rahmen der entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift außerhalb ihres ausdrücklich angesprochenen Regelungsbereichs sowie im Schrifttum die bei Annahme einer Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit bestehende Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift nicht geltend gemacht worden. Selbst wenn indes diese Vorschrift verfassungswidrig gewesen sein sollte, könnte dies nur dazu Anlass geben, die dort festgelegte Verjährungsfrist richterrechtlich auf ein angemessenes und mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und mit dem Rechtsfrieden vereinbares Maß zu verkürzen. Entsprechendes gelte bei Unvereinbarkeit einer so langen Verjährungsfrist mit den Geboten des Gemeinschaftsrechts. Denn es könne nicht ernstlich angenommen werden, aufgrund der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift seien die von ihr erfassten Ansprüche unverjährbar. Er - der Bundesfinanzhof - könne jedenfalls in Ausübung richterlicher Notkompetenz eine unangemessen lange Frist des nationalen Rechts in der verfassungs- oder gemeinschaftsrechtlich gebotenen Weise auf das angemessene Maß verkürzen. Ob in Ausübung einer solchen richterlichen Notkompetenz die Frist des § 195 BGB a. F. zu verkürzen oder zumindest bei entsprechender Anwendung jener Vorschrift eine kürzere Frist für die Verjährung des Anspruchs auf Rückzahlung aufgrund einer Unregelmäßigkeit zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattung um der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens willen festgelegt werden müsse, brauche er - der Bundesfinanzhof - nicht abschließend zu prüfen und zu entscheiden. Denn eine solche Frist könnte jedenfalls nicht so kurz bemessen werden, dass der vom beklagten Hauptzollamt geltend gemachte Anspruch bei Erlass des angefochtenen Bescheides verjährt gewesen wäre.

Das Finanzgericht Hamburg hat im 2. Rechtsgang mit Beschluss vom 12.02.2010 (4 K 230/09) das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Verstößt eine analoge Anwendung der Verjährungsvorschrift des § 195 BGB in der bis zum Ende des Jahres 2001 geltenden Fassung auf Rückforderungsansprüche wegen zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattung gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit?

2. Verstößt die Anwendung der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB bei Rückforderung von zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattung gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

3. Wenn die Frage zu 2) zu bejahen ist: Verstößt die Anwendung einer im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 längeren nationalen Verjährungsfrist, die in richterlicher Rechtsfortbildung aufgrund einer angenommenen Notkompetenz im Einzelfall festgelegt wird, gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit?

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 05.05.2010 (C-202/10) auf das Vorabentscheidungsersuchen des Senats erkannt:

1. Unter den in den Ausgangsverfahren gegebenen Umständen verwehrt es der Grundsatz der Rechtssicherheit den Behörden und Gerichten eines Mitgliedstaats grundsätzlich nicht, im Kontext des in der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften festgelegten Schutzes der finanziellen Interessen der Union und in Anwendung des Art. 3 Abs. 3 dieser Verordnung auf Rechtsstreitigkeiten über die Rückforderung einer zu Unrecht gezahlten Ausfuhrerstattung "analog" eine einer nationalen Auffangregelung entnommene Verjährungsfrist anzuwenden, vorausgesetzt allerdings, dass eine solche sich aus einer Rechtsprechungspraxis ergebende Anwendung hinreichend vorhersehbar war, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

2. Unter den in den Ausgangsverfahren gegebenen Umständen verwehrt es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Mitgliedstaaten im Rahmen des Gebrauchs der ihnen durch Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 gebotenen Möglichkeit eine 30-jährige Verjährungsfrist auf Rechtsstreitigkeiten über die Rückforderung von zu Unrecht gezahlten Erstattungen anzuwenden.

3. Unter den in den Ausgangsverfahren gegebenen Umständen steht der Grundsatz der Rechtssicherheit dem entgegen, dass sich eine "längere" Verjährungsfrist im Sinne des Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 aus einer allgemeinen Verjährungsfrist ergeben kann, die durch die Rechtsprechung verkürzt wird, damit sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt, da jedenfalls die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2988/95 unter diesen Umständen anwendbar ist.

Nach Eingang des Urteils des Europäischen Gerichtshofs hat der Senat das Verfahren von Amts wegen wieder aufgenommen, das nunmehr unter dem Aktenzeichen 4 K 80/11 geführt wird.

Die Klägerin beantragt, den Rückforderungsbescheid vom 13.10.1999 (M 3500 B - A 44 - 1317) in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.06.2003 (RL 1083/99) aufzuheben.

Das beklagte Hauptzollamt beantragt, die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (4 K 80/11, 4 K 230/09 und IV 174/03) sowie der Sachakten des beklagten Hauptzollamtes verwiesen.

Gründe

Die zulässige Anfechtungsklage führt zum Erfolg. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Dem auf § 10 Abs. 1 des Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen (Marktorganisationsgesetz - MOG, in der Fassung der Bekanntmachung vom 27.08.1986, BGBl. I S. 1397) gestützten Rückforderungsanspruch steht der Eintritt der Verjährung gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18.12.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. Nr. L 312/1, im Folgenden: VO Nr. 2988/95) entgegen (hierzu unter 1.). Das nationale Recht sieht in Bezug auf den in Rede stehenden Rückforderungsanspruch keine längeren Verjährungsfristen vor (hierzu unter 2.). Insoweit merkt der erkennende Senat im Einzelnen Folgendes an:

1. Dem vom beklagten Hauptzollamt geltend gemachten Rückforderungsanspruch steht die Einrede der Verjährung gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 VO Nr. 2988/95 entgegen.

In Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 VO Nr. 2988/95 ist geregelt, dass die Verjährungsfrist für die Verfolgung vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Art. 1 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 beträgt, wobei als Unregelmäßigkeit jeder Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gilt, die einen Schaden für den Gesamthaushalt der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe (Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 2988/95).

Dass die Verjährungsvorschrift des Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 VO Nr. 2988/95 auch auf eine - wie hier - Fallkonstellation anwendbar ist, die die Rückforderung einer nach Auffassung des beklagten Hauptzollamtes zu Unrecht gewährten Ausfuhrerstattung betrifft, ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des erkennenden Senats seit langem anerkannt (vgl. EuGH, Urteil vom 24.06.2004, C-278/02, juris; FG Hamburg, Urteil vom 21.04.2005, IV 169/03, juris). In seinem Urteil vom 25.09.2008 (C-278/07, juris) hat der Gerichtshof diese Rechtsauffassung bekräftigt und betont, dass die in Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 VO Nr. 2988/95 geregelte Verjährungsfrist auf verwaltungsrechtliche Maßnahmen wie die Rückforderung einer Ausfuhrerstattung anwendbar sei, die der Ausführer infolge von Unregelmäßigkeiten zu Unrecht erlangt habe (Rz. 48, Leitsatz 1). Der Europäische Gerichtshof hat zudem in seinem Urteil vom 25.09.2008 (C-278/07) klargestellt, dass die in Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 Satz 1 VO Nr. 2988/95 geregelte Verjährungsfrist auch auf Unregelmäßigkeiten anzuwenden sei, die vor In-Kraft-Treten dieser Verordnung begangen worden seien (Rz. 48, Leitsatz 2 1. Spiegelstrich). Auch dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 19.09.2005, IV 229/03, juris; Urteil vom 21.04.2005, IV 169/03, juris; vgl. auch Gericht erster Instanz der Europäischen Union , Urteil vom 13.03.2003, T-125/01, juris).

Hinsichtlich des Streitfalls begann die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 VO Nr. 2988/95 spätestens mit der Freigabe der Sicherheiten im Sommer 1993. Sie war folglich bei Erlass des in Rede stehenden Rückforderungsbescheides im Oktober 1999 bereits abgelaufen. Dass in nicht verjährter Zeit eine Unterbrechung der Verjährung gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 3 VO Nr. 2988/95 eingetreten ist, vermag der Senat nicht zu erkennen und wird im Übrigen auch vom beklagten Hauptzollamt nicht eingewandt.

2. Das nationale Recht sieht in Bezug auf den in Rede stehenden Rückforderungsanspruch keine längeren Verjährungsfristen vor.

Der Unionsverordnungsgeber hat in Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 geregelt, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit behalten, eine längere Frist als die in Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 vorgesehene Frist anzuwenden. Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 räumt den Mitgliedstaaten somit die Befugnis ein, sowohl längere Verjährungsfristen, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung Nr. 2988/95 bereits bestanden, weiterhin anzuwenden, als auch nach diesem Zeitpunkt neue Verjährungsregelungen mit längeren Fristen einzuführen (vgl. EuGH, Urteil vom 29.01.2009, C-278/07, Rz. 42). Seit der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.1.2009 (C-278/07) ist zudem geklärt, dass sich diese nationalen Verjährungsfristen nicht nur aus einer spezifischen nationalen Bestimmung, die auf die Rückforderung von Ausfuhrerstattungen oder - allgemeiner - auf verwaltungsrechtliche Maßnahmen anwendbar ist, sondern auch aus Auffangregelungen ergeben können, die dem Erlass der Verordnung Nr. 2988/95 vorausgegangen sind (Rz. 43, 47).

Freilich hat der nationale Gesetzgeber von der ihm durch Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 eröffneten Möglichkeit der Normierung längerer Verjährungsfristen in spezifischen oder sektorbezogenen Regelungen weder vor noch nach Erlass der Verordnung Nr. 2988/95 Gebrauch gemacht. Im nationalen Recht - insbesondere im Marktorganisationsgesetz (zuletzt geändert durch Art. 24 des Gesetzes vom 09.12.2010, BGBl. I S. 1934) und in der Ausfuhrerstattungsverordnung vom 24.05.1996 (BGBl. I S. 766, zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 19.05.2009, BGBl. I S. 1090) - finden sich keine Verjährungsvorschriften betreffend die Rückforderung von zu Unrecht gewährten Ausfuhrerstattungen. Ob die Vorschrift des § 195 BGB in seiner bis zum In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts (Schuldrechtsmodernisierungsgesetz) vom 26.11.2001 (BGBl. I S. 3138) geltenden Fassung (im Folgenden: § 195 BGB a. F.) eine Auffangregelung im Sinne der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.01.2009 (C-278/07, 3. Leitsatz) darstellt und auf die Rückforderung von zu Unrecht gewährte Ausfuhrerstattungen überhaupt analog Anwendung finden kann, braucht der erkennende Senat vor dem Hintergrund des von ihm eingeholten Vorabentscheidungsersuchens nicht abschließend zu entscheiden. Denn der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 05.05.2011 (C-201/10) erkannt, dass es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Mitgliedstaaten im Rahmen des Gebrauchs der ihnen durch Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 gebotenen Möglichkeit verwehrt, eine 30-jährige Verjährungsfrist auf Rechtsstreitigkeiten über die Rückforderung von zu Unrecht gezahlten Erstattungen anzuwenden (Rz. 55, 2. Leitsatz). Dieser Ausspruch des Europäischen Gerichtshofs, der der Rechtsauffassung des erkennenden Senats entspricht, bindet alle Gerichte und Behörden in der Union und führt zur Nichtanwendbarkeit der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB a. F.

Entgegen der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs (vgl. u. a. Urteil vom 07.07.2009, VII R 23/06) kann die in § 195 BGB a. F. vorgesehene 30-jährige Verjährungsfrist auch nicht in Ausübung einer richterlichen Notkompetenz auf ein mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbares Maß verkürzt werden, so dass der vom beklagten Hauptzollamt geltend gemachte Anspruch bei Erlass des angefochtenen Bescheides noch nicht verjährt wäre. Denn der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 05.05.2011 (C-201/10) ebenfalls für alle Gerichte und Behörden bindend erkannt, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit es verbietet, dass sich eine "längere" Verjährungsfrist im Sinne des Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 aus einer allgemeinen Verjährungsfrist ergeben kann, die durch die Rechtsprechung verkürzt wird, damit sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt, da jedenfalls die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 1 VO Nr. 2988/95 unter diesen Umständen anwendbar ist (Rz. 55, 3. Leitsatz).

Verstößt nach alledem eine 30-jährige Verjährungsfrist gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und darf eine solche unverhältnismäßige Verjährungsfrist aus Gründen der Rechtssicherheit auch nicht auf ein Maß verkürzt werden, damit sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, so steht für den Senat fest, dass in Bezug auf den in Rede stehenden Rückforderungsanspruch das nationale Recht - vor allem die Regelungen des BGB a. F. und dort die Vorschrift des § 195 - keine im Sinne des Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 längere Verjährungsfristen vorsieht. Vor diesem Hintergrund bedarf es nach dem Dafürhalten des Senats an sich nicht einer (weiteren) Prüfung, ob eine analoge Anwendung des § 195 BGB a. F. auf Rückforderungsansprüche wegen zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattungen auch gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt. Allein im Hinblick darauf, dass der Europäische Gerichtshof auf die vorstehend beschriebene Vorlagefrage geurteilt hat, dass unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen der Grundsatz der Rechtssicherheit den Behörden und Gerichten eines Mitgliedstaats grundsätzlich nicht verwehrt, im Kontext des in der Verordnung Nr. 2988/95 festgelegten Schutzes der finanziellen Interessen der Union und in Anwendung des Art. 3 Abs. 3 dieser Verordnung auf Rechtsstreitigkeiten über die Rückforderung einer zu Unrecht gezahlten Ausfuhrerstattung "analog" eine einer nationalen Auffangregelung entnommene Verjährungsfrist anzuwenden, vorausgesetzt allerdings, dass eine solche sich aus einer Rechtsprechungspraxis ergebende Anwendung hinreichend vorhersehbar war, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist (Rz. 55, 1. Leitsatz), stellt der Senat ergänzend Folgendes klar:

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 05.05.2011 (C-201/10) deutlich gemacht, dass "jede "analoge" Anwendung einer Verjährungsvorschrift für den Betroffenen hinreichend vorhersehbar sein" muss (Rz. 32). Vor diesem Hintergrund hat er herausgestellt, dass eine "analoge" Anwendung einer allgemeinen Verjährungsfrist des Zivilrechts auf Rückforderungsansprüche wegen zu Unrecht gezahlter Ausfuhrerstattungen den Grundsatz der Rechtssicherheit nur wahrt, wenn sie auf eine "hinreichend vorhersehbare Rechtsprechungspraxis" zurückgeht (Rz. 34). Ob eine solche hinreichend vorhersehbare Rechtsprechungspraxis - in concreto also eine analoge Anwendung des § 195 BGB a. F. - besteht, ist freilich nicht ex post, also im Zeitpunkt des Ergehens dieser gerichtlichen Entscheidung, sondern ex ante, d. h. zum Zeitpunkt der endgültigen Gewährung der Ausfuhrerstattung - zu beurteilen. Denn der Wirtschaftsteilnehmer muss bereits im Zeitpunkt der Beantragung und Gewährung der Erstattung umfassend seine Rechte und Pflichten kennen und das Risiko, eventuell Rückforderungsansprüchen ausgesetzt zu sein, zuverlässig abschätzen können. Weder im April 1993 bei Beantragung der Ausfuhrerstattung im Wege der Vorfinanzierung noch im Sommer 1993 bei Freigabe der Sicherheiten war indes für die Klägerin auch nur ansatzweise zu erkennen, welchen Verjährungsfristen Rückforderungsansprüche wegen zu Unrecht gezahlter Ausfuhrerstattungen unterliegen. Erstmals im November 2000 und damit sogar nach Erlass des streitgegenständlichen Rückforderungsbescheides hat das Finanzgericht Hamburg die Verjährungsvorschriften des BGB entsprechend auf die Rückforderung von zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattung angewandt (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 22.11.2000, IV 835/97). Der Bundesfinanzhof hat zwar in seiner hierauf ergangenen Revisionsentscheidung vom 07.05.2002 (VII R 5/01) in einem obiter dictum bemerkt, zwar sei die Klägerin in ihrer Revision auf die Ausführungen des Finanzgerichts nicht eingegangen, mit denen es die Verjährung des Rückforderungsanspruchs verneint habe, so dass sich der Senat darauf beschränken könne, dass er die Ausführungen des Finanzgerichts insoweit für zutreffend halte. Sowohl die Entscheidung des Finanzgerichts Hamburg als auch das Judikat des Bundesfinanzhofs sind indes vereinzelt geblieben; sie können daher nach keiner Betrachtungsweise eine Rechtsprechungspraxis abbilden. Ob möglicherweise Gerichte anderer Gerichtsbarkeiten im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Verjährungsregelung des § 195 BGB a. F. analog herangezogen haben, ist im zu betrachtenden Kontext ohne Belang. Denn eine für einen Ausführer und die Klägerin hinreichend vorhersehbare Rechtsprechungspraxis entsprechend der vom Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 05.05.2011 formulierten Vorgabe kann sich allein aus einer Praxis der Gerichte ergeben, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit über Rückforderungsansprüche betreffend zu Unrecht gewährter Erstattungen zu urteilen haben. Das sind in der Bundesrepublik Deutschland freilich einzig die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit, die allerdings - wie bereits dargelegt - keine Rechtsprechungspraxis - und erst recht keine für die Klägerin als Wirtschaftsteilnehmer hinreichend vorhersehbare Rechtsprechungspraxis - in Bezug auf eine analoge Anwendung der allgemeinen Verjährungsfristen des Zivilrechts auf Rückforderungsansprüche wegen zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattungen herausgebildet hatten.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 143 Abs. 2 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO), sind nicht gegeben.