BAG, Urteil vom 16.08.2011 - 1 AZR 314/10
Fundstelle
openJur 2012, 133736
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 9. Februar 2010 - 14 Sa 71/09 - aufgehoben.

2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 17. September 2009 - 8 Ca 86/09 - wird zurückgewiesen.

3. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und Revision zu tragen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Zahlungen aus dem ERA-Anpassungsfonds.

Die Beklagte betreibt ein Unternehmen der Metallindustrie und ist Mitglied im Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. Mit dem bei ihr seit 1979 beschäftigten Kläger schloss sie am 9. Januar 2006 einen "Arbeitsvertrag für verblockte Altersteilzeit". Danach begann die Altersteilzeit am 1. April 2006 und endete am 30. September 2010. In der ersten Hälfte bis zum 30. Juni 2008 erbrachte der Kläger die volle Arbeitsleistung, daran anschließend war er bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses von der Arbeitsleistung freigestellt. Nach § 13 dieses Vertrags fanden auf das Arbeitsverhältnis die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie im Tarifgebiet Nordwürttemberg/Nordbaden in der jeweils geltenden Fassung Anwendung.

Im "Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds" vom 18. Dezember 2003 (TV ERA-APF) ist Folgendes bestimmt:

"...

§ 2

Präambel

Der ERA-Anpassungsfonds dient der Sicherstellung eines gleitenden Übergangs vom heutigen Tarifsystem auf das ERA-Entgeltsystem für alle Beteiligten. Insbesondere sollen durch die vorübergehende Einbehaltung nicht ausgezahlter ERA-Strukturkomponenten und deren spätere Verwendung entweder

zum Ausgleich von betrieblichen Kosten, die eine bestimmte Schwelle überschreiten,

oder

zur unmittelbaren Auszahlung an die Beschäftigten nach der betrieblichen ERA-Einführung

spätere Verwerfungen bei der Umstellung vermieden werden.

§ 3

Aufbau und Verwendung des ERA-Anpassungsfonds

In den Entgeltabkommen der Tarifgebiete (Nordwürttemberg/Nordbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern, Südbaden) vom 15.05.2002 wurden die Erhöhungen des Tarifvolumens auf zwei Komponenten verteilt. Eine Komponente diente der dauerhaften Erhöhung der Tabellenwerte der jeweiligen Entgelte (Löhne und Gehälter, ‚lineares Volumen’). Die andere Komponente (‚restliches Erhöhungsvolumen’) fließt in ERA-Strukturkomponenten, die in der ersten Tarifperiode ausgezahlt, in den folgenden Tarifperioden jedoch noch nicht fällig werden.

...

§ 4

ERA-Strukturkomponente und ERA-Anpassungsfonds

Die in den Entgeltabkommen, dort jeweils § 2.1 a.E., vereinbarten ERA-Strukturkomponenten werden wie folgt ermittelt und verwendet:

a)

Erstmalige Auszahlung von ERA-Strukturkomponenten

In der Tarifperiode, in der sie erstmals entstehen, werden die jeweiligen ERA-Strukturkomponenten individuell nach den Grundsätzen des Entgeltabkommens vom 15. Mai 2002 (siehe dort § 4.2) als Teil der Vergütung ermittelt und zu den dort genannten sowie weiteren, für die künftigen ERA-Strukturkomponenten tariflich noch festzulegenden Stichtagen zur Auszahlung an die Beschäftigten fällig.

...

b)

In den jeweils folgenden Tarifperioden nach ihrer erstmaligen Begründung/Entstehung werden die jeweiligen ERA-Strukturkomponenten aus den vorhergehenden Tarifperioden zwar ebenfalls als Teil der Vergütung ermittelt, aber nicht ausgezahlt, sondern zunächst einbehalten und dem ERA-Anpassungsfonds zugeführt. Die bei der betrieblichen ERA-Einführung in den ERA-Anpassungsfonds befindlichen Beträge müssen entweder zur Deckung betrieblicher Mehrkosten aus der ERA-Einführung oder zur Auszahlung an die Beschäftigten verwendet werden.

Solche Mehrkosten können nach Maßgabe des Einführungstarifvertrags zum ERA-TV insbesondere dadurch entstehen, dass den sog. Überschreitern zeitlich befristete Ausgleichsbeträge zugesagt werden. Anspruchsberechtigt für die Auszahlung nicht zur Kostendeckung benötigter Beträge sind dabei nur solche Beschäftigte, die sowohl zum Aufbau des ERA-Anpassungsfonds beigetragen haben als auch bei der späteren, betrieblich zu vereinbarenden Auszahlung im Betrieb in einem Arbeitsverhältnis stehen (siehe § 4 e).

...

e)

Spätere Verwendung der Mittel aus dem ERA-Anpassungsfonds

Die auf dem ERA-Konto befindlichen Beträge sind eine Verbindlichkeit des Arbeitgebers aus tariflichen Entgelten, die in früheren Tarifperioden entstanden sind, aber nicht ausgezahlt wurden. Die Beträge dürfen nach diesen verbindlichen Vereinbarungen nur für die in § 2 genannten Zwecke verwendet werden. Demgemäß sind sie

entweder zur Deckung betrieblicher Kosten im Rahmen der Regelungen zur betrieblichen Kostenneutralität, die im Einzelnen im Einführungstarifvertrag zum ERA-TV geregelt sind, zu verwenden; hierbei dienen sie insbesondere der Deckung der Ausgleichsbeträge, die sog. Überschreitern für eine Übergangszeit zugesagt werden;

oder, soweit die Beträge hierfür nicht verbraucht werden, sind sie an diejenigen Beschäftigten auszuzahlen, die zum Aufbau des ERA-Anpassungsfonds beigetragen haben.

Im Einzelnen gilt Folgendes:

Die Auszahlung ist in einer Betriebsvereinbarung zu regeln.

Eine Auszahlung (auch von Teilbeträgen) vor der betrieblichen ERA-Einführung ist unzulässig.

Zu Anspruchsberechtigten können nur diejenigen Beschäftigten bestimmt werden, die zum Aufbau des ERA-Anpassungsfonds beigetragen haben und zum Zeitpunkt der späteren Auszahlung in einem Arbeitsverhältnis im Betrieb stehen.

Individuelle Ansprüche auf Beträge aus dem ERA-Anpassungsfonds bestehen vor In-Kraft-Treten dieser Betriebsvereinbarung nicht. Individuelle Konten werden nicht geführt.

Es ist die Auszahlung des Volumens an ERA-Strukturkomponenten zu vereinbaren, das sich zum Stichtag nach den obigen Berechnungen auf dem ERA-Konto befindet. Von diesem Volumen sind die Beträge abzusetzen, die nach den Bestimmungen des Einführungstarifvertrags zum ERA-TV zur Deckung betrieblicher Kosten zu verwenden sind.

..."

Die Beklagte führte am 1. Januar 2008 die ERA-Tarifverträge in ihrem Betrieb ein. Am 11. Juni 2008 schloss sie mit dem bei ihr gebildeten Betriebsrat die "Betriebsvereinbarung Nr. 03/2008 ERA-Anpassungsfond" (BV 03/2008). Danach erhält ein Vollzeitbeschäftigter ohne Ausfallzeiten bei einem maximalen Einzahlungszeitraum von 55 Monaten eine Einmalzahlung in Höhe von 1.200,00 Euro. Für die Zeit der "Altersteilzeit aktiv" sind - ebenfalls bei einem maximalen Einzahlungszeitraum von 55 Monaten - 600,00 Euro vorgesehen. Weiter ist in der BV 03/2008 bestimmt:

"...

Anspruchsberechtigt sind die Beschäftigten, die zum Aufbau des ERA-Anpassungsfonds beigetragen haben und zum Zeitpunkt der Auszahlung in einem ungekündigten aktiven Arbeitsverhältnis stehen (Ausnahme Erziehungsurlaub und BW/Zivi). Anspruchsberechtigt sind nur Mitarbeiter/innen, die mindestens fünf Monate in den ERA-Anpassungsfond einbezahlt haben. Der Auszahlungsbetrag wird für den einbezahlten Zeitraum ermittelt.

..."

Die Beklagte lehnte die Leistung der Einmalzahlung an den Kläger ab, weil sich dieser zum Auszahlungszeitpunkt nicht mehr in einem aktiven Arbeitsverhältnis befunden habe.

Der Kläger hat geltend gemacht, die in der BV 03/2008 vorgenommene Gruppenbildung bei der Bestimmung der Anspruchsberechtigten verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.200,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Oktober 2008 zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage in Höhe von 971,00 Euro stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Gründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat nach der BV 03/2008 einen Anspruch auf die geltend gemachte Einmalzahlung in der in der Revision noch anhängigen Höhe von 971,00 Euro.

I. Die BV 03/2008 ist gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG wegen Verstoßes gegen den Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds unwirksam, soweit sie die Auszahlung der Einmalzahlung vom Bestand eines "ungekündigten aktiven" Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der Auszahlung abhängig macht.

1. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder von den betreffenden Tarifvertragsparteien üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Arbeitsbedingungen sind dann durch Tarifvertrag geregelt, wenn über sie ein Tarifvertrag abgeschlossen worden ist und der Betrieb in den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fällt. § 77 Abs. 3 BetrVG soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisten. Dazu räumt er den Tarifvertragsparteien den Vorrang bei der kollektiven Regelung von Arbeitsbedingungen ein. Arbeitgeber und Betriebsrat sollen weder abweichende noch ergänzende Betriebsvereinbarungen mit normativer Wirkung schließen können (BAG 10. Oktober 2006 - 1 ABR 59/05 - Rn. 20 ff., AP BetrVG 1972 § 77 Tarifvorbehalt Nr. 24 = EzA BetrVG 2001 § 77 Nr. 18).

2. Nach diesen Grundsätzen waren die Betriebsparteien nicht berechtigt, den Anspruch auf Zahlungen aus dem ERA-Anpassungsfonds von anderen als den im Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds geregelten Auszahlungsvoraussetzungen abhängig zu machen.

a) Der Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds findet kraft Tarifbindung der Beklagten im Beschäftigungsbetrieb des Klägers Anwendung. § 4 Buchst. e Abs. 8 TV ERA-APF regelt abschließend, wer vom Arbeitgeber Zahlungen aus dem ERA-Anpassungsfonds verlangen kann. Der Tarifvertrag lässt keine hiervon abweichenden Betriebsvereinbarungen zu. Dies ergibt die Auslegung des Tarifvertrags.

aa) Tarifliche Inhaltsnormen sind wie Gesetze auszulegen. Auszugehen ist vom Wortlaut der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck der tariflichen Regelung zu berücksichtigen, sofern und soweit sie im Regelungswerk ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang der Regelung, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern kann. Bleiben im Einzelfall gleichwohl Zweifel, können die Gerichte ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien zurückgreifen, wie etwa auf die Entstehungsgeschichte und die bisherige Anwendung der Regelung in der Praxis. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG 22. Juli 2008 - 1 AZR 259/07 - Rn. 15, EzA TVG § 4 Versicherungswirtschaft Nr. 7).

bb) Hiernach weist der Tarifvertrag den Betriebsparteien die Aufgabe zu, in einer Betriebsvereinbarung die Auszahlung des Volumens an ERA-Strukturkomponenten zu vereinbaren, das sich auf dem ERA-Konto befindet. Hiervon sind die Beträge abzusetzen, die nach den Bestimmungen des Einführungstarifvertrags zum ERA-TV zur Deckung betrieblicher Kosten zu verwenden sind. Die verbleibenden Mittel aus dem ERA-Anpassungsfonds sind an diejenigen Beschäftigten auszuzahlen, die zum Aufbau des Fonds beigetragen haben, sofern diese zum Zeitpunkt der späteren Auszahlung in einem Arbeitsverhältnis im Betrieb stehen, ohne dass es auf die Pflicht zur Erbringung einer Arbeitsleistung ankommt. Weitere Einschränkungen der Anspruchsberechtigung enthält der Tarifvertrag ebenso wenig wie eine Öffnungsklausel, die es den Betriebsparteien erlauben würde, abändernde oder ergänzende Regelungen zu treffen.

cc) Dieses Normverständnis entspricht auch dem mit der Auszahlung der Beträge aus dem ERA-Anpassungsfonds verfolgten tariflichen Leistungszweck. Dieser besteht nach dem tariflichen Gesamtzusammenhang in der Erfüllung von Verbindlichkeiten des Arbeitgebers, die in früheren Tarifperioden entstanden sind, jedoch nicht ausgezahlt wurden. Leistungen aus dem ERA-Anpassungsfonds sind Entgelt für bereits geleistete Arbeit (BAG 9. November 2005 - 5 AZR 105/05 - Rn. 20, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 196 = EzA TVG § 4 Metallindustrie Nr. 132). Sie sind deshalb denjenigen vorbehalten, die zum Aufbau des Fonds durch Arbeitsleistung beigetragen haben. Eine Öffnung für eine zweckwidrige Beschränkung der Anspruchsberechtigung wäre damit unvereinbar.

b) Soweit die BV 03/2008 vorsieht, dass nur Arbeitnehmer, die sich zum Auszahlungszeitpunkt in einem "ungekündigten aktiven" Arbeitsverhältnis befinden, anspruchsberechtigt sind, schränkt sie die tariflich vorgegebenen Anspruchsvoraussetzungen ein. Dies verstößt gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG und führt zur Unwirksamkeit der darauf bezogenen Anspruchsbeschränkungen.

II. Der Verstoß der BV 03/2008 gegen § 77 Abs. 3 BetrVG hat nicht die Gesamtunwirksamkeit der Betriebsvereinbarung zur Folge.

1. Die Tarifwidrigkeit einzelner Regelungen einer Betriebsvereinbarung führt nicht notwendig zur Unwirksamkeit der gesamten Betriebsvereinbarung. Nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB ist eine Betriebsvereinbarung nur teilunwirksam, wenn der verbleibende Teil auch ohne die unwirksame Bestimmung eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung enthält. Das folgt aus dem Normcharakter der Betriebsvereinbarung, der es gebietet, im Interesse der Kontinuität eine einmal gesetzte Ordnung aufrechtzuerhalten, soweit sie ihre Funktion auch ohne den unwirksamen Teil noch entfalten kann (BAG 29. April 2004 - 1 ABR 30/02 - zu B IV 2 a aa der Gründe, BAGE 110, 252).

2. Nach diesen Grundsätzen ist die BV 03/2008 teilunwirksam. Nach Streichung der tarifwidrigen anspruchsbegrenzenden Anforderung "ungekündigtes aktives" Arbeitsverhältnis verbleibt eine in sich geschlossene sinnvolle Regelung. Die Betriebsparteien hätten zu den Anspruchsvoraussetzungen auch keine andere Regelung treffen können, weil der Tarifvertrag ihnen hierzu keinen Gestaltungsspielraum eröffnet.

III. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des tariflichen Auszahlungsanspruchs. Er hatte zum Aufbau des Fonds beigetragen und war im Zeitpunkt der späteren Auszahlung noch Arbeitnehmer der Beklagten. Über die Höhe der Klageforderung war in der Revision nicht mehr zu befinden, nachdem das Arbeitsgericht die weitergehende Klage im Umfang von 229,00 Euro rechtskräftig abgewiesen hat.

Schmidt

Koch

Linck

Platow

Benrath