OLG Rostock, Beschluss vom 27.09.2012 - I Ws 133/12
Fundstelle
openJur 2012, 130739
  • Rkr:
Tenor

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

2. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Rostock vom 19.01.2010 - 364 Js 16530/06 - wird zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Landgericht Schwerin - Große Strafkammer 1 als Wirtschaftsstrafkammer - eröffnet.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Rostock hat mit Anklageschrift vom 19.01.2010 Anklage gegen die Angeschuldigten B. und Dr. S. wegen Untreue in zwei (B.) bzw. drei Fällen (Dr. S.) zum Landgericht Schwerin - Wirtschaftsstrafkammer - erhoben. Die Anklage geht dabei von besonders schweren Fällen der Untreue aus, weil die Angeschuldigten jeweils unter Mißbrauch ihrer Befugnisse als Dienstvorgesetzte gehandelt hätten (§ 266 Abs. 2 StGB i.V.m. § 263 Abs. 3 Nr. 4 1. Alt. StGB) und durch die Taten zu 1. und 2. jeweils ein Vermögensverlust großen Ausmaßes verursacht worden sei (§ 266 Abs. 2 StGB i.V.m. § 263 Abs. 3 Nr. 2 1. Alt. StGB).

Mit Beschluss vom 20.02.2012 - Az. 31 KLs 1/10 - hat die zuständige Kammer die Eröffnung des Hauptverfahrens aus - ausweislich des Tenors des Beschlusses - tatsächlichen Gründen abgelehnt. Gegen diesen, der Staatsanwaltschaft am 27.02.2012 zugestellten Beschluss richtet sich die am 28.02.2012 bei dem Landgericht eingegangene sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom selben Tag.

II.

Die gem. § 210 Abs. 2 StPO statthafte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist form- und fristgemäß erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO), mithin zulässig.

Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet.

1.

Nach § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn der Angeschuldigte nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint. Hinreichender Tatverdacht ist anzunehmen, wenn die nach Maßgabe des Akteninhaltes, nicht lediglich aufgrund der Anklageschrift vorzunehmende vorläufige Tatbewertung ergibt, dass die Verurteilung des Angeschuldigten wahrscheinlich ist. Eine solche Wahrscheinlichkeit besteht, wenn unter erschöpfender Zugrundelegung des Ergebnisses der Ermittlungen und der daran anknüpfenden rechtlichen Erwägungen zum objektiven und subjektiven Tatbestand bei Einschätzung des mutmaßlichen Ausgangs der Hauptverhandlung mehr für eine Verurteilung als für einen Freispruch spricht (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt Beschluss vom 17.01.2012 - I Ws 404/11 - m. w. N.).

Dabei wird eine an Sicherheit grenzende Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht gefordert. Auch wird nicht die gleiche Wahrscheinlichkeit verlangt wie beim dringenden Tatverdacht nach § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO. Die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Angeschuldigten muss aber so groß sein, dass es einer Entscheidung durch das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung bedarf, um festzustellen, ob noch bestehende Zweifel gerechtfertigt sind (vgl. KK-Schneider, StPO, 6. Aufl. § 203 Rdz. 4 m. w. N.).

Für den strafrechtlichen Entscheidungsgrundsatz "in dubio pro reo" ist bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts zwar grundsätzlich noch kein Raum, jedoch kann hinreichender Tatverdacht mit der Begründung verneint werden, dass nach Aktenlage bei den gegebenen Beweismöglichkeiten am Ende wahrscheinlich das Gericht nach diesem Grundsatz freisprechen wird (vgl. KK-Schneider a. a. O.; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 203 Rdz. 2; jeweils m. w. N.).

2.

Bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts gem. § 203 StPO sind auch die Grundsätze des Indizienbeweises zu berücksichtigen. Der Indizien- oder Anzeichenbeweis ist ein Beweis, bei dem von einer mittelbar bedeutsamen Tatsache auf eine unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache geschlossen wird. Ein Indiz kann aus persönlichen, z. B. aus dem Verhalten eines Verfahrensbeteiligten, oder sachlichen Beweismitteln geschlossen werden. Grundsätzlich ist eine Gesamtwürdigung aller nicht ausschließbar entscheidungserheblichen Beweisanzeichen notwendig. Die Indizien selbst allerdings müssen unzweifelhaft oder doch mindestens hoch wahrscheinlich feststehen, bevor Rückschlüsse, die nicht lediglich Spekulation sein dürfen, aus ihnen gezogen werden können (vgl. zu Vorstehendem Nack MDR 1986, S. 366; Meyer-Goßner, a. a. O. § 261 Rdz. 25, jeweils m. w. N.). Diese Voraussetzung korrespondiert zwanglos mit dem Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit der Begehung einer Straftat durch einen Beschuldigten nur aus bestimmten Tatsachen, nicht jedoch aus Vermutungen hergeleitet werden darf (Senatsbeschluss a.a.O.; vgl. auch Meyer-Goßner a. a. O. § 112 Rdz. 7).

3.

Im Lichte der vorstehenden Darlegungen konnte die angefochtene landgerichtliche Nichteröffnungsentscheidung keinen Bestand haben. Die Angeschuldigten sind der ihnen mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Rostock vom 19.01.2010 vorgeworfenen Straftaten aufgrund der darin vorgenommenen zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Würdigung hinreichend verdächtig.

a.)

Der angefochtene Beschluss genügt bereits nicht den Begründungsanforderungen des § 204 Abs. 1 StPO, wonach im Falle der Nichteröffnung des Hauptverfahrens aus dem Beschluss klargestellt hervorgehen muss, ob dies auf tatsächlichen oder Rechtsgründen beruht (vgl. dazu Meyer-Goßner a.a.O. § 204 Rdz. 4).

Dementgegen begründet die Kammer ihre Entscheidung entgegen dem Tenor und der Zusammenfassung (BA S. 39) des Beschlusses (Ablehnung der Eröffnung aus tatsächlichen Gründen) überwiegend mit rechtlichen Bewertungen, die aus ihrer Sicht die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens rechtfertigen. Die Kammer sieht aus rechtlichen Gründen eine Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht als nicht gegeben an, jedenfalls sei diese nicht "klar und deutlich" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ferner hält sie den Pflichtwidrigkeitszusammenhang für den anklagegemäß bejahten Schaden für nicht gegeben, weil ihrer Auffassung nach auch bei pflichtgemäßem Verhalten der Schadenseintritt wahrscheinlich nicht habe vermieden werden können; dies aus Rechtsgründen deshalb, weil die Frist zur Rücknahme der Belegenheitsbescheinigungen gemäß § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG M-V abgelaufen sei.

b.)

Entgegen der Auffassung der Kammer - und die diese stützenden und vertiefenden Erwägungen der Verteidigung, zuletzt in den Schutzschriften vom 22.06.2012 (RAe ... für den Angeschuldigten B.) und vom 03.07.2012 (RA ... für den Angeschuldigten Dr. S.) - sind die Angeschuldigten der Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB hinreichend verdächtig.

Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB in der Alternative des sog. Treubruchstatbestands - wie sie den Angeschuldigten in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Rostock vom 19.01.2010 zur Last gelegt wird - erfordert, dass sie

-- kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses zur Tatzeit die Pflicht hatten, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen [bb.)],

-- eine solche, ihnen obliegende Pflicht mit den Tathandlungen verletzt haben [cc.)], und

-- durch pflichtwidriges Handeln (bzw. Unterlassen) dem, dessen Vermögensinteressen sie zu betreuen hatten, Nachteil zufügt haben [dd.)]; darüber hinaus müssen

-- sowohl die Pflichtverletzung als auch die Zufügung des tatbestandsmäßigen Nachteils vom Vorsatz der Angeschuldigten umfasst gewesen sein, wobei bedingter Vorsatz genügt [ee.)].

Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich beider Angeschuldigter in den angeklagten Straftaten sowohl in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht erfüllt.

aa.)

Soweit die Angeschuldigten - insbesondere der Angeschuldigte B. betreffend Fall 2 der Anklage - die Tatbegehung im Tatsächlichen bestreiten, folgt der hinreichende Tatverdacht aus den zutreffenden Erwägungen der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift vom 19.01.2010. Die entgegenstehenden Einlassungen der Angeschuldigten, insbesondere des Angeschuldigten B., sind als unwahre Schutzbehauptungen zu werten. Der Senat verweist in dieser Hinsicht zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Erwägungen der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift sowie in der Abschlussverfügung vom selben Tag (dort Bl. 4 ff., 31 ff. ; Bd. XIX Bl. 118 ff., 145 ff. d.A.).

Aber auch in rechtlicher Hinsicht sind die Angeschuldigten der ihnen vorgeworfenen Straftaten hinreichend verdächtig.

bb.)

Die Kammer geht zunächst in Übereinstimmung mit der Anklageschrift zutreffend davon aus, dass die Angeschuldigten aufgrund des ihnen jeweils übertragenen Amtes als leitende beamtete Mitarbeiter des Finanzministeriums bzw. der (früheren) Oberfinanzdirektion (OFD) die besonders herausgehobene Pflicht hatten, die Vermögensinteressen der öffentlichen Hand wahrzunehmen. Durch ihre Berufung in das von ihnen jeweils bekleidete öffentliche Amt haben die Angeschuldigten dafür Sorge zu tragen, dass das von den Finanzbehörden zu verwaltende öffentliche Vermögen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften zweckentsprechend verwendet und drohende Vermögensnachteile abgewendet werden.

Dieser Pflichtenkreis ist auch hinreichend klar umrissen.

cc.)

Ihren Aufgaben sind die Angeschuldigten in den angeklagten Fällen pflichtwidrig nicht nachgekommen.

(1)

Nach den dazu entwickelten Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 23.06.2010 - 2 BvR 2559/08 - zitiert nach juris) knüpft das Merkmal der Pflichtverletzung an "außerstrafrechtliche Normkomplexe und Wertungen an, die das Verhältnis zwischen dem Vermögensinhaber und dem Vermögensverwalter im Einzelnen gestalten und so erst den Inhalt der - strafbewehrten - Pflicht und die Maßstäbe für deren Verletzung festlegen (Akzessorietät des Tatbestands)", wobei die Pflichtwidrigkeit aus zivil- oder öffentlich-rechtlichen Normen folge (Rn. 95). Das Pflichtwidrigkeitsmerkmal erschöpfe sich nicht nach Art eines Blankettmerkmals in der Weiterverweisung auf genau bezeichnete Vorschriften; es handele sich vielmehr um ein komplexes normatives Tatbestandsmerkmal. Zunächst stelle sich dem Normanwender die Frage, welche außerstrafrechtlichen Bestimmungen zur Beurteilung der Pflichtwidrigkeit heranzuziehen seien. Sodann stelle sich die Frage nach der Auslegung der relevanten Normen, unter denen sich Vorschriften von erheblicher Unbestimmtheit oder generalklauselartigen Charakters befinden können, da sich dem Normtext des § 266 Abs. 1 StGB selbst Anforderungen an die Bestimmtheit der in Bezug genommenen Normen nicht entnehmen lassen (Rn. 96).

(2)

Die Pflicht zu ordnungsgemäßem Verwaltungshandeln ergibt sich vorliegend aus der aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz, dem Haushaltsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sowie dem Grundsatz, dass der Staat keine Geschenke machen darf (BGH NStZ-RR 2005, 83), Zuwendungen also nur bei Vorliegen der hierfür bestehenden Voraussetzungen zu gewähren sind (vgl. BGH NJW 2003, 2179; NStZ 1983, 119).

(3)

Im Bereich der Investitionszulagen obliegt die Zuständigkeit für die materiell-rechtliche Prüfung der bauplanungsrechtlichen Voraussetzung für die Gewährung der Zulage den Kommunalbehörden. Aus der Konzeption der durch deren Bauämter zu erteilenden Belegenheitsbescheinigungen i.S.d. InvZulG 1999, die als Grundlagenbescheide gemäß § 171 Abs. 10 AO für die Finanzbehörden - auch im Fall erkannter bzw. angenommener Rechtswidrigkeit (vgl. Koenig in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl., § 175 Rn. 12 m.w.N., § 182 Rn. 9) grds. bindend sind, ergibt sich mithin eine vom Gesetzgeber gewollte Kompetenzteilung. Anerkannt ist, dass der Finanzbehörde keine eigene Entscheidungs-kompetenz über Grundlagenbescheide zukommt (st. Rspr. des Bundesfinanzhofs, vgl. BFH/NV 2008, 1882 m.w.N.).

(4)

Es besteht jedoch eine - jedenfalls in offensichtlich rechtswidrigen Fällen wie den der Anklage zu Grunde liegenden - zur Pflicht erstarkte Möglichkeit der Finanzbehörden bzw. ihrer - insbesondere leitenden - Mitarbeiter, bei den für den Erlass der Grundlagenbescheide zuständigen Behörden auf materiell rechtmäßiges Verwaltungshandeln hinzuwirken. Die Finanzverwaltung als Teil der an das Grundgesetz gebundenen öffentlichen Verwaltung darf ihre Augen nicht vor rechtswidrigem Verwaltungshandeln verschließen und diesem tatenlos zusehen oder rechtstreue Bedienstete von Remonstrationen abhalten.

(a)

Dass es zu erheblichen Missständen, gefälligkeitshalber bzw. unter Verkennung der Ausle-gungsmaßstäbe des § 3 Abs. 1 Nr. 4 b InvZulG erteilter Belegenheitsbescheinigungen gekommen war, war - wovon auch die Kammer ausgeht - in den Finanzbehörden und damit auch den Angeschuldigten bekannt. Auch die Notwendigkeit der Einflussnahme auf die zuständigen Behörden war mithin bekannt.

(b)

Hierfür stand das Rechtsinstitut der Remonstration zur Verfügung. Dieses Rechtsinstitut ist förmlich nicht geregelt. Maßgeblich sind daher die allgemeinen und durch die Recht-sprechung fortentwickelten Regelungen sowie die Anweisungen des zuständigen Bundes- bzw. Landesministeriums.

(aa)

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar ausdrücklich festgestellt, dass die Gehorsamspflicht des Beamten zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehört und grds. auch dann weiterhin Geltung entfaltet, wenn an den Beamten eine rechtswidrige Weisung erteilt wird. Diese muss der Beamte grds. auch unverzüglich ausführen, aber erst, wenn er das sogenannte Remonstrationsverfahren erfolglos durchlaufen hat. Dies sahen zur Tatzeit die seinerzeit geltenden § 56 Abs. 2 BBG, § 38 Abs. 2 BRRG, § 60 Abs. 2 LBG M-V ausdrücklich vor.

Diese Normen regeln die Pflicht des Beamten, bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seines Tuns oder der Weisung eines Vorgesetzten an diesen heranzutreten und die eigenen Bedenken anzuzeigen. Bleibt dies erfolglos, hat der Beamte - dies erneut gesetzlich als Pflicht ausgestaltet - unverzüglich seine Bedenken dem nächsthöheren Vorgesetzten mitzuteilen. Auf Verlangen des Beamten ist über seine Bedenken schriftlich zu entscheiden.

Die Remonstrationspflicht verlangt somit vom Amtsträger, an ihn gerichtete Weisungen und von ihm zu bearbeitende Vorgänge kritisch zu hinterfragen und auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu untersuchen. Zweifel an der Rechtmäßigkeit dürfen ihn nicht dazu veranlassen, sich hinter seinen Vorgesetzten zurückzuziehen oder aber sich seiner Autorität unreflektiert zu beugen. Die eigenen Zweifel entlasten den Beamten nicht von seiner - zur Tatzeit - in § 56 Abs. 1 BBG, § 38 Abs. 1 BRRG, § 60 Abs. 1 LBG M-V niedergelegten persönlichen Verantwortung für die Rechtmäßigkeit seines dienstlichen Handelns (vgl. dazu Kment, BauR 2005, 1257, 1262 f. m.w.N.).

(bb)

Zu der Bindungswirkung von Grundlagenbescheiden finanzfremder Ressorts und den Möglichkeiten der Finanzverwaltung bei als rechtswidrig erachteten Grundlagenbescheiden hat der Bundesfinanzhof folgende Grundsätze aufgestellt:

"In der Rechtsprechung des BFH ist geklärt, dass von Behörden erteilte Bescheinigungen, die Voraussetzung für die Gewährung von Investitionszulage sind, als Verwaltungsakte zu beurteilen sind, die die Finanzbehörden binden. Der BFH hat zur Rechtsnatur und Bindungswirkung derartiger Bescheinigungen in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass sie materiell-rechtliche Voraussetzung für die Festsetzung von Investitionszulagen sind und weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht der Nachprüfung durch die Finanzverwaltungsbehörde unterliegen, soweit es sich um außersteuerrechtliche Beurteilungen handelt" (BFH/NV 2008, 1882).

"Vertritt das FA eine von der bescheinigenden Gemeinde abweichende Auffassung und hält es den Grundlagenbescheid für rechtswidrig, so ist es nach Remonstration auf den Ver-waltungsrechtsweg verwiesen" (BFHE 196, 191).

"Vermag das FA dem nicht zu folgen, hat dieses nur die Möglichkeit, bei der Gemeinde darauf hinzuwirken, dass sie ggf. ihre Bescheinigung zurücknimmt oder ändert. Das FA kann nicht in eigener Zuständigkeit unter Hinweis auf das Fehlen baurechtlicher Voraussetzungen die erhöhten Absetzungen versagen." (BFHE 182, 175).

"Die in § 1 InvZulG 1969 vorgesehene Bescheinigung des Bundesamtes für gewerbliche Wirtschaft unterliegt weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht der Nachprüfung durch die Finanzverwaltung." "Solange die Wirtschaftsbehörde die Bescheinigung nicht zurückgenommen hat, ist sie für das FA bindend." "Daß der Kläger damit für eine Investition Zulagen enthält, die ihm jedenfalls nach dem Gesetzeswortlaut nicht zustehen, ist eine Entscheidung, die das Bundesamt zu verantworten hat. Vom FA ist diese Entscheidung hinzunehmen." (BFHE 147, 572).

Das Bundesfinanzministerium hat - im Nachgang zu früheren Anweisungen und in zeitlichem Zusammenhang mit den angeklagten Taten - mit Schreiben vom 28.02.2003 - IV A 5-InvZ 1272-6/03 - (BStBl. I, 218) in Abschnitt I Ziff. 6 Abs. 2 ausgeführt:

"Die Bescheinigung ist materiellrechtliche Voraussetzung für die Gewährung der Investitionszulage und Grundlagenbescheid im Sinne des § 171 Abs. 10 AO. Sie ist für die Finanzbehörden und Finanzgerichte bindend, soweit sie die in § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 b InvZulG 1999 bestimmten außersteuerlichen Feststellungen enthält ... Stellt das Finanzamt fest, dass die in der Bescheinigung bezeichneten bauplanungsrechtlichen Voraussetzungen offensichtlich nicht vorliegen, hat es die zuständige Gemeindebehörde zu veranlassen, die Bescheinigung zu überprüfen."

(cc)

Ausdrücklich geregelt ist mithin die Pflicht der Finanzämter zur Remonstration, der die Sachbearbeiter bereits nachgekommen waren. Eine Regelung, ob die Remonstration auf der nächsthöheren Fachebene fortzusetzen ist, findet sich zwar nicht explizit. Sie lässt sich aber aus den vorstehend aufgeführten allgemeinen Grundsätzen ordnungsgemäßen Verwaltungs-handelns und der Pflicht zur Auszahlung nur materiell begründeter Zuwendungen herleiten, die auch und gerade für die in der Leitungsebene der Finanzbehörden tätigen Bediensteten, wie die Angeschuldigten, gelten.

(c)

Es kann dahingestellt bleiben, bis zu welcher maximal denkbaren Fortsetzung der Remonstration - auf dem Verwaltungsweg - eine Einflussnahme der Finanzbehörden hätte erfolgen können und müssen. Denn in allen angeklagten Fällen lagen die Voraussetzungen für die Erteilung der Bescheinigung offensichtlich nicht vor, so dass auch nach den Vorgaben des Bundesfinanzministeriums Anlass für eine Remonstration bestand und gerade deshalb die Finanzämter - teilweise mehrfach - remonstriert hatten. Bereits den naheliegenden nächsten Schritt der ihnen obliegenden Remonstration in den bereits auf der Fachebene streitig behandelten Fällen, nämlich die Einbindung ihrer nächsthöheren Vorgesetzten im Finanzministerium, haben die Angeschuldigten nicht nur unterlassen, sondern es sogar unterbunden, dass die nachgeordneten Finanzämter weiter eine gesetzesgemäße Verwaltungsarbeit einforderten. Die Anordnungen und das Unterlassen der Angeschuldigten führten ohne weiteres erkennbar und vorhersehbar praktisch zu einem Totalausfall des einzigen Korrekturinstruments der Finanzverwaltung zur Abwendung von Schäden durch den bekannt gewordenen Mißbrauch der Grundlagenbescheide. Die Angeschuldigten hätten danach nur dann pflichtgemäß gehandelt, wenn sie in den ihnen - durch entsprechende Berichte der Finanzämter im Rahmen der Vorbereitung der Dienstbesprechung vom 08.04.2003 bzw. aufgrund der Berichte zu Ziff. 2 und 3 der Anklage - bekannt gewordenen Fällen rechtswidrig erteilter Belegenheitsbescheinigungen dafür Sorge getragen hätten, dass erfolglose Remonstrationen der Finanzämter bei fortbestehendem Verdacht der Rechtswidrigkeit durch eine Mitteilung der relevanten Fälle an ihre Vorgesetzten im Finanzministerium von dort aus an das Innenministerium herangetragen worden wären. Angesichts der Vielzahl auch dem Finanzministerium bekannt gewordener Fälle und der Erfolglosigkeit auch mehrfacher Remonstrationen auf der Ebene der Finanzämter und der Gemeinden hätte es niemals sein Bewenden damit haben dürfen, die ablehnende Haltung der Gemeinden einfach hinzunehmen.

(d)

Die in dem angefochtenen Beschluss vertretene Auffassung, eine großzügige Beschei-nigungspraxis sei offenbar "politisch gewollt" gewesen, vermag eine rechtliche Begrenzung des Pflichtenumfangs der Angeschuldigten zum einen schon angesichts diesbezüglich fehlender objektivierbarer Ermittlungserkenntnisse auf politischer Ebene nicht zu begründen, auch wenn indiziell für das Vorliegen entsprechenden "politischen Willens" streiten könnte, dass der (höherrangige) Angeschuldigte B. - im Gegensatz zum Angeschuldigten Dr. S. - im zeitlichen Verlaufe der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in seinem beruflichen Fortkommen sogar noch gefördert worden ist. Zum anderen beseitigt die bedingungslose Befolgung "politisch gewollter" Ziele nicht die damit etwa einhergehende Strafbarkeit solchen Verhaltens, sondern bietet Anlass zu prüfen, ob nicht gegen etwaig "politisch Verantwortliche" ebenfalls mit den Mitteln des Strafrechts vorgegangen werden muss. Es wäre die Pflicht der Angeschuldigten gewesen, ihre Vorgesetzten auf die Rechtswidrigkeit des kommunalen Handelns aufmerksam zu machen und nicht etwa einem (vermeintlich) politischen Willen im Wege vorauseilenden Gehorsams entgegenzuarbeiten.

Solange die Möglichkeit besteht, auf die Herstellung rechtmäßiger Zustände hinzuwirken, besteht jedenfalls in - wie hier - offensichtlichen Fällen die - zumindest für Beamte des gehobenen und höheren Dienstes - leicht erkennbare Verpflichtung, mit Nachdruck auf eine Befolgung der gesetzlichen Vorschriften durch die Kommunen hinzuwirken. Dazu war lediglich die konkrete Befassung des zuständigen Ministeriums mit den jeweiligen Einzelfällen erforderlich. Es gehörte deshalb zum Pflichtenkreis der Angeschuldigten, durch Einbindung ihrer Vorgesetzten die Remonstration auf der Ebene der Fach- bzw. Rechtsaufsicht fortzusetzen, um über Art. 79 KV M-V zu einer der Bindung an Gesetz und Recht entsprechenden Sachbehandlung durch die Gemeinden zu gelangen. Letztlich entsprach dies auch dem Auftrag in der Niederschrift der Dienstbesprechung, im Falle der Ablehnung der Rücknahme durch die Gemeinden an die OFD zu berichten. Wären die Angeschuldigten tatsächlich der Auffassung gewesen, mit einer einmaligen Remonstration auf der Ebene der Finanzämter seien die Möglichkeiten der Finanzverwaltung erschöpft, hätte es der Anordnung der Berichterstattung über konkrete Einzelfälle überhaupt nicht bedurft.

Das Argument einer Pflichtenbeschränkung durch generelles Vertrauenkönnen in die Gesetzmäßigkeit des Handelns anderer Behörden verfängt angesichts des allseits bekannten, bedenklich verbreiteten Phänomens rechtswidriger Belegenheitsbescheinigungen nicht.

Soweit die Kammer unter Berufung auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O., dort Rn. 110 f.) jedenfalls eine klare und deutliche Pflichtwidrigkeit als nicht gegeben erachtet, hat das BVerfG keine umfassende Geltung für alle in Betracht kommenden Fälle der Untreue vorgesehen. Es hat nämlich darauf hingewiesen, dass die Konkretisierung in fallgruppenspezifischen Obersätzen weiterhin der höchstrichterlichen Rechtsprechung obliegt. Mit den Merkmalen "klar und deutlich", "evident", "gravierend" hat das Bundesverfassungsgericht dem weiten Tatbestand der Untreue keine schärferen Konturen verliehen, sondern lediglich weitere Aspekte aufgezeigt, die der Wertung des Einzelfalls durch die Fachgerichte unterliegen. Demgegenüber ist darauf abzustellen, welchen Umfangs die dem betreuten Vermögen drohenden Schäden im Fall pflichtwidrigen Handelns waren und welches Ausmaß das den Angeschuldigten abverlangte pflichtgemäße Handeln demgegenüber hatte. Je höher das Ausmaß des drohenden Schaden ist, desto strengere Anforderungen sind an das pflichtgemäße Handeln der mit der Vermögenssorge Betrauten zu stellen.

Vorliegend waren zum Tatzeitraum bereits Schäden in Millionenhöhe durch Auszahlung von Investitionszulagen auf der Grundlage rechtswidrig erteilter Belegenheitsbescheinigungen eingetreten. Schon eine - ohne größeren Aufwand zu bewerkstelligende, allerdings nicht erfolgte - rechtlich zutreffende Weisung im Rahmen der Dienstbesprechung vom 08.04.2003, in den bereits laufenden Fällen erfolgloser Remonstrationen gegen die von den Sachgebietsleitern als offensichtlich rechtswidrig eingestuften Belegenheitsbescheinigungen die konkreten Fälle zu berichten, um die Remonstration auf der Ebene des Finanzministeriums gegenüber dem Innenministerium fortsetzen zu lassen, war demgegenüber geeignet, bereits eingetretene Schäden zu revidieren bzw. die Auszahlung weiterer gesetzeswidriger Zulagen zu verhindern.

(5)

Nach alledem kann das Handeln und Unterlassen der Angeschuldigten auch und gerade unter Berücksichtigung ihrer hervorgehobenen Dienststellung nicht anders als ein klarer und deutlicher Pflichtenverstoß im Sinne des § 266 StGB gewürdigt werden.

Die Anweisung, noch offene, bereits in der Remonstration befindliche Einzelfälle abzuschließen, bei denen aus Sicht der jeweils konkret befassten Sachbearbeiter der Finanzämter offensichtlich rechtswidrige Belegenheitsbescheinigungen vorlagen, ist als beamtenrechtliche Kernpflichtverletzung und strafrechtliche Verletzung der Vermögens-betreuungspflicht anzusehen. Statt auf Einhaltung der Gesetze durch für die Erteilung der Grundlagenbescheide zuständige Behörden hinzuwirken, bewirkte die unvertretbar enge Auslegung der Remonstrationspflicht durch die Angeschuldigten im Rahmen der Dienstbesprechung und deren nachfolgende Handhabung faktisch eine Abschaffung der Remonstration. Dem Interesse der Gemeinden an Aufrechterhaltung der "investoren-freundlichen" Bescheinigungspraxis haben die Angeschuldigten Vorrang vor dem fiskalischen Interesse auf Gewährung lediglich materiell rechtmäßiger Zuwendungen und damit auch vor der eigenen Pflichtenstellung eingeräumt. Dies entsprach der mehr als deutlich zutage getretenen Auffassung der Angeschuldigten, die sich nicht zuletzt in der Äußerung des Angeschuldigten B. dem Zeugen S. gegenüber manifestierte, angesichts der 95%igen Förderung durch den Bund und der Standortprobleme in M-V könne er die Zurückhaltung der Finanzbeamten nicht verstehen (Bl. 67 der Anklage). Auch in den angeklagten Fällen 2 und 3, in denen die OFD bzw. das Finanzamt Waren bereits erfolglose Remonstrationen berichtet hatten, hätte die Anweisung, die Belegenheitsbescheinigungen anzuerkennen und die Fälle abzuschließen, nicht ohne vorherige Fortsetzung der Remonstration auf der ministeriellen Ebene erfolgen dürfen.

dd.)

Auch der hinreichende Verdacht von durch die pflichtwidrigen Handlungen bzw. Unterlassungen der Angeschuldigten verursachten Vermögensnachteilen zu Lasten des Bundes- und Landeshaushalts ist gegeben.

(1)

Durch die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht muss ein Nachteil für das betreute Vermögen entstanden sein. Nach h.M. ist dieser gleichbedeutend mit dem Schadensbegriff des § 263 StGB, wonach nach dem Prinzip der Gesamtsaldierung der Wert des Gesamtvermögens vor und nach der pflichtwidrigen Tathandlung verglichen wird (vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., § 266 Rn. 115 m.w.N.; Schönke/Schröder-Perron, StGB, 28. Aufl. § 266 Rz. 39 ff. m.w.N.). Ferner ist - wovon das Landgericht zutreffend ausgegangen ist - ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang erforderlich, an dem es dann fehlt, wenn der festgestellte Nachteil bei einem pflichtgemäßen Alternativverhalten aller Voraussicht nach ebenfalls eingetreten wäre, vorliegend m.a.W. das den Angeschuldigten vorgeworfene Verhalten aktiver und passiver Art keine Auswirkung auf den Verlauf der inkriminierten Förderfälle gehabt hätte.

(a)

Der Nachteil in vorbezeichnetem Sinne ist in der Höhe der jeweils - materiell zu Unrecht - ausgezahlten Zulagen zu sehen. Im Fall des Abbruchs der Remonstration bei bereits erfolgten Auszahlungen ist von einem bereits eingetretenen Vermögensschaden auszugehen, der im Verzicht auf einen Rückzahlungsanspruch in Höhe der zuvor ausgezahlten Zulage besteht. Der pflichtwidrige Verzicht auf Remonstrationen (als Voraussetzung für die Rücknahme der Belegenheitsbescheinigungen, die wiederum Voraussetzung für eine Abänderung/Aufhebung der Investitionszulagebescheide war, in dessen Folge die Rückforderung der Investitionszulage hätte erfolgen können) ist als Ausbleiben einer Vermögensmehrung zu werten, die dann als Schaden anzusehen ist, wenn eine gesicherte Aussicht des Treugebers auf den Vorteil bestand (vg. Fischer a.a.O. Rn. 116 m.w.N.). Dies war im Tatzeitraum der Fall.

Soweit die Verteidigung moniert, es werde die Höhe der gewährten Zulagen zu Unrecht mit der Höhe der im Fall der Fortsetzung der Remonstrationen ausgebliebenen Vermögensmehrung gleichgesetzt, begründet sie ihre Auffassung mit Blick auf erst nach 2007 erfolgte - nur bedingt erfolgreiche - Rücknahmen. Im Fall ordnungsgemäßer Fortsetzung der Remonstrationen im Jahre 2003 ist aber davon auszugehen, dass Gründe eines durch Zeitablauf erwachsenen Vertrauens der Begünstigten die Rückforderungsansprüche der öffentlichen Hand eben nicht tangiert hätten. Grundsätzlich ist daher die nominelle Höhe der jeweils gewährten Zuwendung zutreffend als Höhe des Anspruchs auf Rückzahlung anzusetzen. Soweit bei dieser Betrachtung Einzelfallaspekte außer Betracht bleiben, sind diese im Tatzeitraum von untergeordneter Bedeutung gewesen. Im Übrigen bestehen auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine grundsätzlichen Bedenken, unvermeidlich verbleibende Prognose- und Beurteilungsspielräume durch vorsichtige Schätzung auszufüllen (BVerfG a.a.O. Rn. 150). Anhaltspunkte für ein besonderes Ausfallrisiko waren ex ante nicht ersichtlich. Bei den Antragstellern handelte es sich jeweils um gewerbliche Wohnungsbauunternehmen bzw. Antragsteller, die für eine größere Anzahl von Grundstücken die Belegenheits-bescheinigungen und damit Investitionszulagen erhalten hatten und entsprechend erfolgreich am Markt tätig waren, oder sogar - wie in den Fällen WoGeSa und Wohnungsbaugesell-schaft Pasewalk - um kommunale Wohnungsbaugesellschaften.

(b)

Es handelt sich auch um kausal durch die vorzuwerfenden Pflichtwidrigkeiten verursachte Vermögensnachteile, weil davon auszugehen ist, dass eine Fortsetzung der Remonstration wegen des bei - vorliegend gegebenen - objektiv rechtswidrigen Verwaltungsakten auf Null reduzierten Ermessens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Rücknahme der Belegenheitsbescheinigungen und Rückzahlungen bzw. unterbliebenen Auszahlungen von Fördergeldern geführt hätte.

(c)

Die Argumente, die die Kammer zur Begründung ihrer Auffassung anbringt, auch im Falle pflichtgemäßer Fortsetzung der Remonstrationen wäre der Vermögensnachteil aller Wahrscheinlichkeit nach eingetreten, überzeugen nicht. Soweit die Kammer insbesondere meint, der Erfolg weitergehender Remonstration sei vom nicht mehr feststellbaren Handeln der zuständigen Mitarbeiter der Gemeinden abhängig gewesen, die eine Aufhebung der Bescheinigungen weder für erforderlich noch möglich gehalten und überdies kein Interesse daran gehabt hätten, verkennt sie, dass die Remonstration gerade nicht auf der bisherigen Fachebene, sondern auf dem Dienstweg hätte fortgesetzt werden können und müssen. Die Staatsanwaltschaft weist zutreffend darauf hin, dass die Durchsetzung der Aufhebung auf diesem Wege im Zuge der Ermittlungen letztlich erfolgreich gewesen ist. Dass diese nach den Ausführungen der Verteidigung teilweise keinen Bestand gehabt haben mögen, war allein dem Zeitablauf zuzuschreiben und rechtfertigt keine andere strafrechtliche Würdigung.

(2)

Überdies lagen die Voraussetzungen einer Rücknahme der begünstigenden Bescheide gemäß § 48 VwVfG M-V vor. Aspekte des Einzelfalls (Vertrauensschutz, einzelfallspezifische Ermessenserwägungen) standen der von der Staatsanwaltschaft angenommenen Ermessensreduzierung auf Null jedenfalls im Tatzeitraum nicht entgegen.

(a)

Gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG M-V kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, ein begünstigender Verwaltungsakt nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 der Norm. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG M-V legt fest, dass die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt zulässig ist, zu dem die Behörde Kenntnis von den die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen erlangt hat.

(b)

Aufgrund der Entscheidung des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.12.1984 (BVerwGE 70, 356 ff.) ist für den Beginn des Fristenlaufes darauf abzustellen, ob die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr alle weiteren für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Zu diesen gehören auch die für die Gewährung von Vertrauensschutz und für die Ausübung des Ermessens relevanten Tatsachen. Diese hat die Behörde zunächst zu ermitteln. Regelmäßig hat sie dazu eine Anhörung des Betroffenen durchzuführen. Ohne eine solche Anhörung sind nämlich die eine Rücknahme ggf. ganz oder teilweise ausschließenden Umstände i.S.v. § 48 Abs. 2 VwVfG M-V überhaupt nicht einzuschätzen.

Der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgt auch das Verwaltungsgericht Greifswald (Urteil vom 13.04.2006 - 6 A 2056/05 - zitiert nach juris).

(c)

In den der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalten hatten sich die Gemeindebehörden jeweils nur gegenüber dem Finanzamt mit der Frage einer etwaigen Rücknahme auseinandergesetzt. Eine umfassende Prüfung hätte aus den o.a. Gründen aber auch die Einbeziehung/Anhörung der Betroffenen - u.a. zu Aspekten etwaigen Vertrauensschutzes - erfordert. Solange diese nicht erfolgt war, lag keine für den Beginn des Laufs der Rücknahmefrist erforderliche Entscheidungsreife vor.

Eine Anhörung hatte in keinem der hier relevanten Fälle stattgefunden. Die zuständigen Behörden waren deshalb noch gar nicht in der Lage, die Frage des Vertrauensschutzes zu klären, um über eine Rücknahme ermessensfehlerfrei entscheiden zu können.

Der Rücknahme der rechtswidrigen begünstigenden Bescheide stand von daher in zeitlicher Hinsicht zum Tatzeitpunkt nichts durchgreifendes entgegen.

(d)

Dies würde auch unter Heranziehung neuerer Rechtsprechung (Urteil des VGH Mannheim vom 05.04.2007 - 8 S 2090/06 - DStRE 2007, 1430) gelten, wonach die Rücknahmefrist bereits dann beginne, wenn die Behörde zu erkennen gegeben habe, dass nach ihrer Rechtsauffassung der für eine Rücknahmeentscheidung erhebliche Sachverhalt keiner weiteren Klärung mehr bedürfe und nicht erst dann, wenn ein bei zutreffender Anwendung der Rücknahmevoraussetzungen darüber hinausgehender Klärungsbedarf gedeckt sei. Für den Beginn der Frist sei die Entscheidungsreife aus Sicht der Behörde maßgeblich. Wenn diese eine weitere Sachverhaltsaufklärung - so auch eine Anhörung - nicht für erforderlich, sondern eine Rücknahme bereits aus anderen Gründen für unzulässig halte, könne dies den Fristbeginn nicht verhindern. Dieser Auffassung hat sich mittlerweile das VG Greifswald angeschlossen (5 A 1839/08 Bl. 6 f. UA, 5 A 276/08 Bl. 10 f. UA).

Die Rechtswidrigkeit der Belegenheitsbescheinigungen ist den jeweiligen Gemeinden spätestens mit der erstmaligen Remonstration durch die Finanzämter bekannt geworden.

Der Fristbeginn gemäß § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG M-V wäre demgegenüber auch nach dieser neueren Rechtsprechung frühestens auf den Zeitpunkt der erstmaligen Ablehnung der Rücknahme zu datieren, im Fall H. auf den Zeitpunkt der Mitteilung an das Finanzamt, dass die Bescheinigung zurückgenommen werde. Vorher war die Entscheidungsreife aus Sicht der jeweiligen Gemeinden keineswegs gegeben. In keinem Fall begann die Frist daher vor Mitte Oktober 2002, im Fall K. sogar erst im März 2003. Dies steht im Einklang mit dem Umstand, dass durch die Publikation in der Novemberausgabe 2002 der Monatszeitschrift des Städte- und Gemeindetages Mecklenburg-Vorpommern e.V. "Der Überblick" durch den Abdruck des vollständigen Urteils des VG Greifswald vom 06.09.2001 und die dazu abgegebene Stellungnahme jedenfalls ab diesem Zeitpunkt Anlass bestand, die Rechtmäßigkeit bisher erteilter Belegenheitsbescheinigungen in Zweifel zu ziehen. Damit hätte in jedem Fall noch ausreichend Zeit - nämlich mindestens mehrere Monate - bestanden, um innerhalb der Frist seitens des Finanzministeriums an das Innenministerium heranzutreten, welches seinerseits über die zuständigen Landräte auf die Herstellung rechtmäßiger Verhältnisse hätte hinwirken können.

Zur Tatzeit gab es entsprechende Einschränkungen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allerdings überhaupt noch nicht, so dass aus objektiver ex-ante-Sicht die Rücknahmefrist bei Abbruch der Remonstrationen noch in keinem Fall begonnen hatte, geschweige denn abgelaufen war.

(e)

Soweit die Strafkammer sowie die Verteidigung der Angeschuldigten - bei unterschiedlichen Ansätzen - demgegenüber u.a. unter Berufung auf mehrere gutachterliche Stellungnahmen (Prof. Dr. Schenke, VRiBFH a.D. Herden) nicht zuletzt aus Gründen der vorgeblichen Ermessensbeschränkung bzw. Verwirkung von Rückforderungsrechten auf Seiten der Zuwendungsgeber und des Vertrauensschutzes der begünstigten Zuwendungsempfänger zu anderen Schlüssen gelangen, liegt dies neben der Sache.

(aa)

Die gesetzlich nicht geregelte, aus dem Verbot des venire contra factum proprium - allge-meiner Rechtsgedanke des § 242 BGB - resultierende, auch im öffentlichen Recht geltende Verwirkung setzt kumulativ voraus, dass das Recht über längere Zeit nicht geltend gemacht worden ist und besondere Umstände vorliegen, die die Rechtsausübung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (vgl. dazu Palandt-Grüneberg, BGB, § 242 Rz. 87 ff. m.w.N.). In der Regel wird hierzu ergänzend angeführt, der Begünstigte müsse Vermögens-dispositionen im Hinblick auf das Vertrauen in den Bestand des Verwaltungsakts getroffen haben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30.10.2007 - 8 B 52/07 - zit. nach juris).

Diese Voraussetzungen sind u.a. angesichts der im Tatzeitraum noch nicht lange zurückliegenden Erteilung der Belegenheitsbescheinigungen für die anklagegegen-ständlichen Fälle fernliegend.

(bb)

Dasselbe gilt für Aspekte eines etwaigen Vertrauensschutzes der Begünstigten der Belegenheitsbescheinigungen.

Gemäß § 48 Abs. 2 VwVfG M-V kommt eine Rücknahme eines rechtswidrigen Verwal-tungsaktes nur dann in Betracht, wenn Gründe des Vertrauensschutzes unter Abwägung des öffentlichen Interesses dem nicht entgegenstehen bzw. das Vertrauen nicht schutzwürdig ist. Letzteres ist nach Satz 3 Nr. 3 im genannten Absatz der Fall, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.

Schutzwürdig ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich (nur) derjenige Bürger, der sich mit guten Gründen auf die Rechte aus der begünstigenden hoheitlichen Maßnahme verlassen durfte, insbesondere wenn deren Fehlerhaftigkeit nicht in seinem Verantwortungsbereich liegt, ihm nicht bekannt war und auch nicht bekannt sein musste.

In den der Anklage zugrunde liegenden Fällen ist jedoch davon auszugehen, dass die jeweils Begünstigten sich nicht auf Vertrauensschutz berufen können, da ihnen jedenfalls eine grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit vorzuwerfen ist. Die Rechtswidrigkeit der Belegenheitsbescheinigungen war derart offensichtlich, dass sich ihre Unrichtigkeit auch bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre aufdrängen musste, zumal es sich bei den einzelnen Begünstigten um gewerbliche bzw. kommunale Bauträger handelte, deren Kenntnis von den tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 InvZulG 1999 vorauszusetzen ist.

(cc)

Die Anklage fußt zutreffend auf der allgemein bei materiell unrichtigen Geldzuwendungen zum Zuge kommenden Erwägung intendierten Ermessens. Einen solchen Fall bejaht das Bundesverwaltungsgericht in Fällen zu Unrecht gewährter Subventionen, in denen ein Vertrauensschutz des Betroffenen nach § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG ausgeschlossen ist (Urteil vom 23.05.1996 - 3 C 13/94 -). Ist der Verwaltungsakt in einem solchen Regelfall zurückzunehmen, bedarf es - ebenfalls in der Regel - keiner weitergehenden Begründung oder Abwägung, es sei denn, besondere Umstände rechtfertigten eine andere Beurteilung oder Entscheidung. Nach diesem Regelfall, den die Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung zu Recht zugrunde gelegt hat, ist grundsätzlich von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen.

Soweit die Verteidigung auf Aspekte des (Mit)Verschuldens der Behörden abstellt, überzeugt nicht, dass ausgerechnet in Fällen eines besonders hervorstechenden behördlichen Fehlers, der geradezu nach Richtigstellung drängt, das Ermessen dahingehend auszuüben sein soll, die rechtswidrigen Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Dies umso mehr, wenn zuvor festgestellt wird, dass sich den Begünstigten die Rechtswidrigkeit ebenfalls aufgedrängt haben muss. Soweit in den von der Verteidigung bemühten, im Jahr 2010 vom VG Greifswald entschiedenen Fällen die erhebliche Zeitdauer seit Bekanntsein der Rechtswidrigkeit bis zur Rücknahme - im Jahre 2007 - berücksichtigt worden ist, kann zwanglos daraus geschlossen werden, dass bei tatzeitnaher Rücknahme - noch im Jahr 2003 - Aspekte des Zeitablaufs der Rücknahme nicht entgegengestanden hätten.

ee.)

Die Angeschuldigten sind überdies hinreichend verdächtig, (wenigstens bedingt) vorsätzlich in Kenntnis ihrer Dienstpflichten sowohl die Pflichtverletzungen begangen als auch die Zufügung des tatbestandsmäßigen Nachteils billigend in Kauf genommen zu haben.

(1)

Dass den Angeschuldigten bewusst war, dass es in einer erheblichen Anzahl von Fällen zu materiell rechtswidrigen Auszahlungen von Investitionszulagen gekommen war, steht für den Senat außer Zweifel. Dies gilt auch für das Bewusstsein der Vermögensbetreuungs-pflicht als Finanzbeamte in leitender Funktion hinsichtlich der an Recht und Gesetz ausgerichteten Gewährung/Belassung von Zulagen.

Eine Schädigungs- oder Bereicherungsabsicht erfordert der vorsatzumfasste Tatbestand des § 266 StGB nicht (vgl. Schönke/Schröder-Perron a.a.O. § 266 Rz. 49).

(2)

Soweit die Angeschuldigten - Volljuristen mit im Tatzeitraum langjähriger bzw. mehrjähriger Berufserfahrung im höheren Dienst der Finanzverwaltung - tatsächlich (irrig) der Auffassung gewesen sein sollten, diese Sorge falle wegen der Bindungswirkung der Grundlagenbescheide und der durch den Gesetzgeber vorgenommenen Kompetenzteilung aus ihrem Verantwortungsbereich, handelt es sich um die Frage der Reichweite der Pflichtenstellung. Sofern insoweit überhaupt von einem Verbotsirrtum auszugehen sein sollte, stellt sich dieser nach dem Ergebnis der Ermittlungen jedenfalls als vermeidbar dar. Denn die Rechtsprechung stellt an die Unvermeidbarkeit hohe Anforderungen, denen die Angeschuldigten hier nicht genügt haben: Der Täter muss bei der ihm nach den Umständen sowie seinem Lebens- und Berufskreis zuzumutenden Gewissensanspannung sowie bei Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht in der Lage gewesen sein, das Unrecht einzusehen (vgl. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. § 17 Rz. 7 m.w.N.). Dass das der Fall gewesen sein könnte, ist nicht ersichtlich.

III.

Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und die Anklage der Staatsanwaltschaft Rostock vor der Großen Strafkammer 1 - als Wirtschaftsstrafkammer - des Landgerichts Schwerin zur Hauptverhandlung zuzulassen.

Die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer ergibt sich unmittelbar aus § 74c Abs. 1 Nr. 6 a) GVG. Den Angeschuldigten werden Straftaten der Untreue im Sinne des § 74c Abs. 1 Nr. 6 a) GVG vorgeworfen, deren Beurteilung besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erfordern. Die den Angeschuldigten vorgeworfenen Taten stehen im engen Zusammenhang mit Straftaten des Subventionsbetruges. Die für die strafbare Untreue maßgeblichen Treue- und Vermögensbetreuungspflichten sind aus besonderen Vorschriften zu Subventionen (InvZulG1999) und aus dem Steuerrecht (AO) sowie aus dem Verfassungs- und allgemeinen Verwaltungsrecht sowie dem Haushaltsrecht abgeleitet.

Von der Möglichkeit einer Verweisung an eine andere Kammer des Gerichts gemäß § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO Gebrauch zu machen sah der Senat keine Veranlassung.