OVG des Saarlandes, Urteil vom 16.09.2011 - 3 A 352/09
Fundstelle
openJur 2012, 136922
  • Rkr:

1. Sunniten und Kurden droht im Irak mangels ausreichender Verfolgungsdichte keine Gruppenverfolgung in Anknüpfung an ihre Religions- und Volkszugehörigkeit.

2. Zur Behandelbarkeit einer psychischen Störung im Irak.

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der laut eigenen Angaben 1982 in Erbil geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Anfang Oktober 2005 reiste er nach eigenem Bekunden auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier - unter einem Alias-Namen - ein Asylgesuch. Vor einer Entscheidung hierüber reiste der Kläger noch im Jahr 2005 zunächst weiter nach Belgien, sodann nach Großbritannien und stellte dort unter verschiedenen Personalien jeweils einen Asylantrag. Am 2.2.2007 wurde er in die Bundesrepublik Deutschland rücküberstellt. Am 12.2.2007 beantragte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Beklagten (Bundesamt) erneut seine Anerkennung als Asylberechtigter.

Zur Begründung seines Asylbegehrens führte der Kläger im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt der Beklagten am selben Tag im Wesentlichen aus, sein Vater sei Grundschullehrer im Gebiet Badinan gewesen. Dieser habe seine Mutter seinerzeit entführt, weil deren Familie in eine Heirat nicht eingewilligt habe. Danach sei der Vater nach Erbil verzogen. Zwar habe sich sein Vater später mit seinem Schwiegervater versöhnt. Ein Cousin seiner Mutter sei mit der Versöhnung allerdings nicht einverstanden gewesen, da er diese habe selbst heiraten wollen. Zudem sei sein Vater Mitglied der Baath-Partei gewesen und er habe viele kurdische Feinde gehabt. Er vermute, sein Vater habe mit der Regierung zusammengearbeitet. Nach der Befreiung Kurdistans habe sein Vater nicht mehr in Erbil bleiben können und sei 1991 nach Bashir umgezogen. Etwa 10 bis 15 Tage vor seiner Ausreise im Jahr 2005 sei sein Vater vermutlich aus Rache auf dem Weg zur Schule getötet worden. Seine Schwester sei bei dem Vorfall verletzt worden. Er selbst habe zu dieser Zeit Vieh gehütet. Diejenigen Personen, die seinen Vater ermordet hätten, hätten sich in der Folge auch nach seiner Familie erkundigt und gedroht, sie ebenfalls umzubringen. Ob diese Personen Angehörige der Baath-Partei oder von dem Cousin seiner Mutter beauftragt gewesen seien, wisse er nicht. Da er als der älteste Sohn besonders gefährdet gewesen sei, habe ihn seine Familie ins Ausland geschickt. Von Iran aus sei er über den Landweg in die Bundesrepublik eingereist. Seine drei jüngeren Geschwister - zwei Schwestern und ein Bruder - seien mit der Mutter bei einer Tante in Kirkuk geblieben. Vor ca. 6 bis 7 Monaten habe er zuletzt Kontakt zu ihr gehabt. Wegen Augenproblemen sei er nur 1 ½ Jahre zur Schule gegangen und würde sich daher als Analphabet bezeichnen. Er habe keinen Beruf erlernt und bei der Tierzucht mitgeholfen. Wegen seiner Augenprobleme habe er auch keinen Wehrdienst leisten müssen. Weder mit staatlichen Stellen noch irgendwelchen Organisationen habe er selbst Schwierigkeiten gehabt.

Mit Bescheid vom 19.4.2007 lehnte das Bundesamt der Beklagten den Asylantrag des Klägers ab, stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen, forderte den Kläger zur Ausreise auf und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in den Irak oder einen anderen Staat an, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei.

Zur Begründung ist unter Darlegung im Einzelnen ausgeführt, auf das Asylgrundrecht nach Art. 16 a Abs. 1 GG könne sich der Kläger aufgrund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht berufen. Es bestehe auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 kein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Kläger habe nicht glaubhaft machen können, in seiner Heimat Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG erlitten zu haben bzw. solche bei einer gegenwärtigen Rückkehr dorthin befürchten zu müssen. Staatliche Verfolgungsmaßnahmen habe der Kläger, der keine Schwierigkeiten mit irakischen Sicherheitskräften gehabt und sich auch nicht politisch engagiert habe, nicht geltend gemacht. Aus dem Umstand, dass der Kläger angeblich von unbekannten Personen mit dem Tode bedroht worden sei, ergebe sich auch keine nichtstaatliche Verfolgung, da eine solche Bedrohung nicht an asylerhebliche Merkmale anknüpfte. Im Übrigen sei sein Vorbringen insgesamt pauschal und unsubstantiiert geblieben sei und weise in wesentlichen Punkten erhebliche Ungereimtheiten auf. Soweit der Kläger vermute, die Bedrohung gehe von ehemaligen Baath-Parteimitgliedern aus, sei nicht nachvollziehbar, warum diese gerade den Kläger hätten bedrohen sollen, zumal er sich in keiner Weise politisch engagiert habe. Aus welchem Grund der Cousin seiner Mutter die Familie des Klägers nach so vielen Jahren mit dem Tode habe bedrohen sollen, sei ebenfalls nicht nachvollziehbar. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Insbesondere begründe die angespannte Sicherheits- und Versorgungslage im Irak keinen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zwar könnten aus der allgemeinen Lage im Irak resultierende Gefahren für Leib und Leben nicht völlig ausgeschlossen werden. Die dortige Sicherheits- und Versorgungslage sei jedoch nicht derart schlecht, dass jeder Rückkehrer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde.

Am 4.5.2007 hat der Kläger unter Verweis auf sein bisheriges Vorbringen Klage erhoben und geltend gemacht, er sei als ältester Sohn der Familie aufgrund der von ihm geschilderten Umstände im Irak Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt gewesen. Angesichts der sich allgemein im Irak auflösenden Ordnung und der weiterhin steigenden allgemeinen Unsicherheit hätten sich gerade Fälle der sogenannten Blutrache in den letzten Jahren deutlich verstärkt. Zumindest bestehe in seinem Fall jedoch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19.4.2007 zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegt,

hilfsweise,

festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Klage im Wesentlichen unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid entgegengetreten.

Mit Urteil vom 13.3.2008 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen (2 K 645/07).

Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG lägen nicht vor. Dass der Kläger einer politischen Verfolgung durch den irakischen Staat ausgesetzt gewesen wäre, habe er selbst nicht geltend gemacht. Es bestehe auch kein greifbarer Anhalt für die Annahme, dass der Kläger im Irak einer im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG beachtlichen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt gewesen wäre. Soweit sich der Kläger auf eine angeblich von unbekannten Personen ausgehende Bedrohung berufen und insoweit geltend gemacht habe, diejenigen Personen, die seinen Vater ermordet hätten, hätten auch seinen Bruder und ihn töten wollen, vermöge dieses Vorbringen die Annahme einer Verfolgung aus politischen Gründen im Sinne von § 60 Ab. 1 AufenthG schon deshalb nicht zu rechtfertigen, weil nicht erkennbar sei, dass die von dem Kläger befürchteten Racheakte an asylerheblich unverfügbare Merkmale wie etwa politische Überzeugung, Religion oder Rasse anknüpften.

Darüber hinaus habe der Kläger konkrete diesbezügliche Anhaltspunkte auch nicht ansatzweise glaubhaft dargelegt. Der Sachvortrag des Klägers sei insgesamt pauschal und unsubstantiiert geblieben und weise zudem erhebliche Ungereimtheiten auf, die der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht in nachvollziehbarer Weise aufzulösen vermocht habe. Als wenig nachvollziehbar stelle sich die Vermutung des Klägers dar, bei den Tätern handele es sich entweder um Angehörige der Familie seiner Mutter oder um Personen, denen von der Baath-Partei, der sein Vater angehört habe, Schaden zugefügt worden sei. Überzeugende Gründe hierfür habe er nicht angegeben. Unglaubhaft erscheine auch die Behauptung des Klägers, er habe nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erfahren, dass Familienangehörige seiner Mutter nach ihm suchten, weshalb er nach Belgien ausgereist sei. Auch hinsichtlich der Finanzierung seiner Ausreise gebe es Widersprüche und Ungereimtheiten. Daher sei anzunehmen, dass der Kläger lediglich eine Verfolgungsgeschichte zur Stützung seines Asylbegehrens konstruiert habe.

Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

Für eine konkret-individuelle Gefährdung des Klägers im Falle seiner Rückkehr in den Irak bestehe angesichts der fehlenden Glaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens kein greifbarer Anhalt. Dem Kläger könne auch nicht wegen allgemeiner, im Irak bestehender Gefahren aufgrund der angespannten Sicherheitslage Abschiebungsschutz unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gewährt werden, da insoweit die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG entgegenstehe.

Eine extreme Gefahrenlage, die eine derartige Sperrwirkung überwinden könne, sei nicht anzunehmen. Zwar sei die allgemeine Kriminalität im Irak nach dem Sturz des früheren Regimes stark angestiegen. Überfälle und Entführungen seien ebenso wie offene Kampfhandlungen verschiedener Gruppierungen, die auch zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten, an der Tagesordnung. Auch wenn hiervon eine nicht zu unterschätzende Gefährdung für die dort lebenden Menschen ausgehe, rechtfertige ausgehend von den Angaben verschiedener Erkenntnisquellen die Anzahl der durch Terrorakte sowie andauernder Kampfhandlungen zu beklagenden zivilen Opfer in Relation zu der ca. 27,5 Millionen Menschen betragenden Bevölkerungszahl des Irak selbst unter Berücksichtigung einer "Dunkelziffer" nicht die Annahme, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit Gefahr laufen, Opfer entsprechender Anschläge oder Kampfhandlungen zu werden.

Gleiches gelte auch im Hinblick auf die allgemeine Versorgungslage im Irak. Konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder gar eine Hungerkatastrophe bestünden gegenwärtig nicht.

Gegen das ihm am 9.4.2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8.5.2008 Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, dem der Senat durch Beschluss vom 5.5.2009 entsprochen hat (3 A 219/08).

Zur Begründung seiner Berufung führt der Kläger im Wesentlichen aus, ihm drohten allein schon wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Ermordung, Verstümmelung oder andere schwere asylrelevante Rechtsverletzungen durch nichtstaatliche Akteure. Im Irak sei eine Gruppenverfolgung von Sunniten durch Schiiten anzunehmen.

Die Sicherheitslage im Irak sei nach Beendigung der Kampfhandlungen im Mai 2003 geprägt durch terroristische Anschläge sowie durch fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits. Auch wenn vor allem Soldaten, Sicherheitskräfte und Politiker Hauptanschlagsziel von Terroristen seien, trage der weitgehend ungeschützte Teil der irakischen Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast, ohne dass Schutz gegen diese zahllosen Übergriffe erlangt werden könne.

Im Übrigen sei der Kläger aufgrund des von ihm geschilderten persönlichen Schicksals vorverfolgt aus dem Irak ausgereist.

Hinsichtlich einer Gefährdungslage im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG habe sich das Verwaltungsgericht zu Unrecht maßgeblich auf den Erwägungsgrund Nr. 26 vor Art. 1 QRL gestützt. Die Vorschrift sei gemeinschaftskonform in Anwendung des Art. 15 lit. c QRL auszulegen.

Des Weiteren legte der Kläger eine fachärztliche Bescheinigung des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie F. M. vom 5.10.2009 sowie ein Ergänzungsschreiben vom 4.1.2010 vor, wonach ihm eine hochgradige Traumatisierung und behandlungsbedürftige Belastungsstörung sowie suizidale Tendenzen bescheinigt werden. In einem weiteren Attest vom 4.7.2011 stellt der Arzt fest, dass der Kläger durch bisherige regelmäßige therapeutische Führung sowie pharmakotherapeutische Behandlung bis März 2011 eine positive Entwicklung durchlaufen habe. Der Kläger sei in der Lage gewesen, durch ein soziales Training seine Ängste schrittweise abzubauen. Es sei auch möglich gewesen, seine Pharmakotherapie auf ein Minimum als Erhaltungsdosis zu reduzieren.

Vor Beendigung seiner kassenärztlichen Tätigkeit zum 1.5.2011 habe er den Kläger am 20.4.2011 zuletzt gesehen. Für den Kläger gelte immer noch, dass er eine schwerwiegende psychische Erkrankung durch Eigenmotivation, Compliance und therapeutische Führung zum Teil habe bewältigen können. Nach Abbruch der Behandlung entstehe eine instabile Phase, weswegen der Patient besonders rückfallgefährdet sein werde.

Des Weiteren reichte der Kläger eine Stellungnahme der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie St. N., W., vom 30.11.2009 über eine stationäre Krankenhausbehandlung zu den Akten. Dort heißt es unter anderem:

"Zusammenfassend führten starke Ängste, Schwindel und Panikattacken mit sich aufdrängenden Suizidphantasien zur stationären Aufnahme. Im medizinischen Diagnosemodell wäre eine schwere depressive Episode (ICD-10: F32.2) bei V.a. posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F42.1) zu beschreiben. Auf psychosozialer Ebene schien vor allem die schwierige Lebenssituation und die ständig im Hintergrund drohende Abschiebung in den Irak zu der aktuellen Symptomatik geführt zu haben."

Der Kläger verweist insoweit darauf, dass zwei unabhängige Ärzte bzw. Institutionen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) angenommen hätten. Soweit im Attest der Klinik lediglich von einem "Verdacht auf PTBS" die Rede sei, sei dies darauf zurückzuführen, dass dort keine umfassende Anamnese und Diagnose erstellt worden sei. Sowohl die privatärztlichen als auch die klinische Bescheinigung bestätigten eine psychische Erkrankung des Klägers. In dem äußerst prekären Gesundheitssystem des Irak stünden kaum psychologische, psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die wenigen, überwiegend in privaten Kliniken bestehenden Möglichkeiten seien für einen "Normalbürger" nicht finanzierbar. Gleiches gelte für die Versorgung mit Medikamenten unabhängig von der Frage, ob diese im Irak überhaupt vorhanden seien.

Ferner legte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ein Attest der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. vom 15.9.2011 vor, in dem ausgeführt ist, beim Kläger liege diagnostisch eine in erster Linie reaktiv bedingte depressive Störung vor.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des aufgrund mündlicher Verhandlung vom 13. März 2008 ergangenen Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes - 2 K 645/07 - die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. April 2007 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,

hilfsweise,

festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG vorliegen,

weiter hilfsweise,

festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie führt im Wesentlichen aus, das pauschale, unsubstantiierte und widersprüchliche Vorbringen des Klägers zu seinen individuellen Verfolgungsgründen sei unglaubhaft und rechtfertige bereits deshalb nicht die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Ebenso wenig könne subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 lit.c QRL - gewährt werden, da die erforderliche Verdichtung allgemeiner Gefahren für die Zivilbevölkerung im Irak selbst in Konfliktregionen nicht angenommen werden könne.

Von einer Zuspitzung der Gefahr durch individuelle Umstände könne im Fall des Klägers ebenfalls nicht ausgegangen werden.

Was die geltend gemachte psychische Erkrankung des Klägers anbelange, genüge das fachärztliche Gutachten vom 5.10.2009 bereits nicht den Mindestanforderungen, die Anlass zu einer weiteren Sachaufklärung böten. Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung sei nicht hinreichend dargelegt. Darüber hinaus stünden die ärztlichen Ausführungen in Widerspruch zu den eigenen Schilderungen des Klägers.

Auch der Behandlungsbericht des St. N. Hospitals vom 23.11.2009 habe sich auf die Diagnose einer schweren depressiven Episode bei "Verdacht auf" PTBS beschränkt, ohne dies mit heimatbezogenen Erlebnissen in Verbindung zu bringen. Eine zielstaatsbezogene Re-Traumatisierung sei daher nicht zu erwarten. Den ärztlichen Attesten lasse sich auch nicht entnehmen, auf welche medikamentöse Behandlung der Kläger derzeit unverzichtbar angewiesen sei, um eine alsbaldige erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu vermeiden. Hinsichtlich der psychiatrischen Versorgung sei im Übrigen nach Berichten der WHO in den letzten Jahren eine tendenziell verbesserte Situation festzustellen.

Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 16.9.2011 zu seinen Asylgründen informatorisch angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Ausländerbehörde verwiesen, der ebenso wie die bei Gericht geführte Dokumentation Irak, insbesondere hinsichtlich der in der Anlage zur Sitzungsniederschrift bezeichneten Teile, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde.

Gründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Bescheid der Beklagten vom 19.4.2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Dem Kläger steht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) kein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.

I.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG.

Die von dem Kläger begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG ist abzulehnen, weil er nicht glaubhaft darlegen konnte, dass er aus begründeter Furcht vor (bereits erlittener oder unmittelbar bevorstehender) politischer Verfolgung aus seinem Heimatland ausgereist ist bzw. dass ihm gegenwärtig eine solche aus den in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gründen droht. Er ist im Oktober 2005 unverfolgt aus dem Irak ausgereist und muss im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, bei einer Rückkehr dorthin relevanten Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt zu sein.

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28.6.1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist, wobei eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung in diesem Sinne kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG von dem Staat (lit. a), Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (lit. b) oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter lit. a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (lit. c).

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 3 AsylVfG unterliegt im Wesentlichen den gleichen Anforderungen, nach denen auch eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG erfolgt

hierzu etwa BVerwG, Urteil vom 29.5.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186 ff.; zur Vorgängerregelung des § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18.2.1992 - 9 C 59.91 -, DÖV 1992, 582 f., zur Deckungsgleichheit von Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 ff.

Auch die Annahme einer relevanten Verfolgungssituation i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG setzt voraus, dass eine spezifische Zielrichtung vorliegt, d.h. die Verfolgung muss nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit an die vorstehend genannten Merkmale anknüpfen. An einer solchen gezielten Rechtsverletzung fehlt es indes regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen

hierzu BVerfG, Beschluss vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 ff.; BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 ff.; siehe in diesem Zusammenhang auch Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -).

Allerdings geht der Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG teilweise über den Schutz des Asylgrundrechts nach Art. 16 a GG hinaus. So kann gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG eine Verfolgung auch durch nichtstaatliche Akteure ein Abschiebungsverbot begründen.

Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt, sind zudem gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG die Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) ergänzend anzuwenden, so insbesondere Art. 4 Abs. 4 sowie Art. 7 bis 10.

Die zum Asylgrundrecht nach Art. 16 a GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe, je nach dem, ob der Ausländer seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist

vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2.7.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341, und vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315

haben in die Qualifikationsrichtlinie keinen Eingang gefunden. Der sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit ist insoweit durch die Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ersetzt worden, die sowohl für den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG als auch für die weiteren unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG gilt. Als Prognosemaßstab ist daher allein der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen

vgl. BVerwG, Urteile vom 1.6.2011 - 10 C 10.10 und 10 C 25.10, vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 -, siehe auch EuGH, Urteil vom 2.3.2010, Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a., OVG Münster, Urteil vom 17.8.2010 - 8 A 4063/06.A -, jeweils zitiert nach juris.

Nach Art. 4 Abs. 4 QRL i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5, Abs. 11 AufenthG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Die Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 QRL begründet mithin für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit einer Verfolgung bzw. des Eintritts eines sonstigen ernsthaften Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 - m.w.N., zitiert nach juris.

Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen musste

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08 - m.w.N., zitiert nach juris.

Aus den in Art. 4 QRL geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Schutzsuchenden folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er ist gehalten, unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung im genannten Sinne droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen.

Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung gewinnen. Aufgrund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründenden Vorgänge im Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können. Es genügt insoweit in der Regel Glaubhaftmachung, während für Vorgänge innerhalb des Zufluchtlandes - prinzipiell - der volle Nachweis zu fordern ist. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag indes kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden

vgl. BVerwG, Entscheidungen vom 21.7.1989 - 9 B 239.89 -, vom 16.4.1985 - 9 C 109.84 - und vom 29.11.1977 - 1 C 33.71 -, jeweils zitiert nach juris.

Von diesen Maßstäben ausgehend kann der Kläger auch unter Anwendung der Bestimmungen der sog. Qualifikationsrichtlinie die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung in den Irak nicht beanspruchen. Das gilt sowohl im Hinblick auf sein Individualschicksal als auch im Hinblick auf die zu verneinende Gruppenverfolgung wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit und kurdischen Volkszugehörigkeit.

Der Kläger ist im Oktober 2005 unverfolgt ausgereist.

Zu seinem Individualschicksal hat er bekundet, er habe sich niemals selbst politisch betätigt und vor seiner Ausreise auch keinerlei Probleme mit irakischen hoheitlichen Stellen gehabt. Als verfolgungsbegründend führt er allein einen kurz vor seiner Ausreise im Oktober 2005 angeblich erfolgten Überfall an, bei dem sein Vater durch dem Kläger unbekannte Täter getötet und seine Schwester verletzt worden sein soll. Bezüglich der Urheberschaft des Vorfalls und der dafür maßgeblichen Motivation hat er die Vermutung geäußert, er gehe entweder auf die frühere Mitgliedschaft seines Vaters in der Baath-Partei oder auf einen Racheakt von Familienmitgliedern seiner Mutter, die sein Vater seinerzeit gegen den Willen der Eltern geehelicht habe, zurück.

Aus diesem Vortrag kann auf eine den Anforderungen des § 60 Abs. 1 AufenthG entsprechende staatliche oder nichtstaatliche Individualverfolgung des Klägers vor seiner Ausreise nicht geschlossen werden.

Dies gilt selbst dann, wenn ungeachtet der bestehenden erheblichen Zweifel an der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens insgesamt in diesem Punkt zu seinen Gunsten unterstellt wird, dass der Vorfall selbst mit den beschriebenen Folgen tatsächlich stattgefunden hat, was angesichts der allgemeinen Lage im Irak durchaus im Bereich des Möglichen erscheint, ebenso wie eine Unaufklärbarkeit von Hintergründen und Motiven

vgl. hierzu Urteil des Senats vom 1.6.2011 - 3 A 429/08 - dokumentiert bei juris.

Im Grundsatz geht der Senat, wie bereits das Verwaltungsgericht, von einer weitgehend konstruierten Verfolgungsgeschichte aus. Hierzu wird zunächst auf die eingehenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu unterschiedlichen Varianten und Widersprüchen im Vortrag des Klägers Bezug genommen.

Nur beispielhaft sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass er auch widersprüchliche Angaben bezüglich der Finanzierung seiner Ausreise - in einer Variante durch seine Mutter, in einer andern durch seine Mutter und eine Tante und zuletzt durch seinen Großvater väterlicherseits - gemacht hat, ebenso bezüglich der Finanzierung seiner Bahnfahrt nach Belgien, und dass er zudem vor dem Bundesamt angegeben hatte, er habe wegen eines Augenleidens nur 1 ½ Monate die Schule besuchen können und sei als Schafhirte tätig gewesen, während er vor dem Senat nicht nur erklärte, er könne (sogar) die deutsche Sprache lesen und auch schreiben, sondern auch, er sei von Beruf Installateur für Heizung und Sanitär, wenn auch mit der Einschränkung, dass er keine Ausbildung habe, die für Deutschland gültig sei.

Denn ungeachtet dessen enthält der Vortrag des Klägers zu dem zu seinem Gunsten als glaubhaft unterstellen Vorfall der Tötung seines Vaters und Verletzung seiner Schwester zum einen keinerlei konkrete Anhaltspunkte, welche geeignet sind, die eine oder die andere von ihm geäußerte Vermutung zu Urheberschaft und Motivation zu stützen, und zum anderen erscheinen beide Vermutungen auch nicht plausibel im Hinblick auf eine eigene Verfolgungsgefahr für den Kläger.

Soweit der Kläger die Mutmaßung eines Racheakts von Familienmitgliedern seiner Mutter angestellt hat, erscheint schon der Ausgangspunkt dieser Überlegung nicht plausibel. Es erscheint nicht nachvollziehbar, dass nach einer Zeitspanne von 30 Jahre, nachdem der Vater des Klägers dessen Mutter gegen den Willen der Familie "entführt" haben soll, und insbesondere, nachdem zwischenzeitlich sogar eine Versöhnung mit dem Vater seiner Mutter, d.h. dem Oberhaupt der mütterlichen Verwandtschaft erfolgt sein soll, Angehörige seiner Mutter an seinem Vater Rache genommen und ihn getötet haben sollen. Hätten derartige Nachstellungen, insbesondere seitens des angeblich ebenfalls heiratswilligen Cousins der Mutter gedroht, so wären sie zeitnah zu erwarten gewesen. Die weitere Frage der Beachtlichkeit einer derartigen Bedrohung im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG bedarf mit Rücksicht hierauf keiner Erörterung.

Soweit der Kläger die Mutmaßung eines Racheakts wegen der Mitgliedschaft bzw. Mitarbeit seines Vaters in der Baath-Partei angestellt hat, vermag auch dies nicht zur Annahme einer Individualverfolgung des Klägers im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG zu führen. Zum einen waren zum damaligen Zeitpunkt von derartigen Anschlägen allenfalls hochrangige Funktionäre der Baath-Partei betroffen, die persönlich Verbrechen oder Grausamkeiten verübt hatten, nicht aber sonstige Parteimitglieder, und zum anderen waren selbst in diesen Sonderfällen nur die betreffenden Parteifunktionäre selbst, nicht aber deren Familienangehörige gefährdet

hierzu etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH - vom 27.1.2006, Zur Gefährdung von ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei; Deutsches Orient-Institut - DOI - an VG München vom 1.9.2006 (2112 al/br.) zu Az. M 9 K 05.50273; EZKS, Stellungnahmen an VG Köln vom 17.12.2004 im Falle des Sohnes eines Einsatzleiters einer Sonderstreife in Mossul, der mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet hatte, sowie Urteil des Senats vom 1.6.2011 - 3 A 429/08 - dokumentiert bei juris.

Eine nach dem von ihm geschilderten Angriff unmittelbar bevorstehende Gefahr entsprechender Verfolgung (auch) des Klägers ist daher zu verneinen.

Der Kläger war zum Zeitpunkt seiner Ausreise auch nicht mit Rücksicht auf seine kurdische Volkszugehörigkeit und sunnitische Religionszugehörigkeit vorverfolgt. Eine an diese Merkmale anknüpfende Gruppenverfolgung im Irak war und ist zu verneinen

vgl. hierzu bereits Urteile des Senats vom 29.9.2006 - 3 R 6/06 -und vom 1.6.2011 - 3 A 429/08 - dokumentiert bei juris, letzteres betreffend einen sunnitischen Kurden aus Mossul.

Dabei ist im Einzelnen von Folgendem auszugehen: Die Gefahr einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG kann sich nicht nur aus gegen den Betroffenen selbst gerichteten Maßnahmen (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines relevanten Merkmals verfolgt werden, das der Asylbewerber mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (sog. Gruppenverfolgung)

hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 ff.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt dabei zunächst voraus, dass die festgestellten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an das die verfolgte Gruppe kennzeichnende relevante Merkmal treffen. In Betracht kommt eine unmittelbare Anknüpfung an das die Verfolgung begründende Gruppenmerkmal - etwa die Volks- oder Religionszugehörigkeit - aber auch eine Verfolgung, der dieses Merkmal mittelbar zugrunde liegt.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt ferner eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es allerdings dann nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht

hierzu BVerwG, Entscheidungen vom 2.2.2010 - 10 B 18.09 -, vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 - und vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, jeweils zitiert nach juris,

was vorliegend jedoch nicht der Fall ist.

Für die Feststellung der sonst erforderlichen Verfolgungsdichte ist eine so große Vielzahl von Eingriffshandlungen in nach § 60 Abs. 1 AufenthG geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht

hierzu etwa BVerwG, Entscheidungen vom 2.2.2010 - 10 B 18.09 - und vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 -, jeweils zitiert nach juris.

Für die Beurteilung, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Allein die Feststellung "zahlreicher" oder "häufiger" Eingriffe reicht nicht aus. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten möglicherweise bereits als bedrohlich erweist, kann bei einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie in Bezug auf die Zahl der Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der Gruppe darstellt.

Bei der Prüfung einer Gruppenverfolgung sind die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte nicht mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen, sondern es genügt, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Dabei darf bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet auch aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe erfolgen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden.

Einen Verzicht auf die Quantifizierung der Verfolgungsschläge hat das Bundesverwaltungsgericht nur bei besonders kleinen Gruppen zugelassen, bei denen auch die Feststellung reichen kann, derartige Übergriffe seien "an der Tagesordnung"

hierzu etwa BVerwG, Entscheidungen vom 21.2.2009, a.a.O. und vom 23.12.2002 - 1 B 42.02 -, zu syrisch-orthodoxen Christen in Tur Abdin, zitiert nach juris.

Bei der erforderlichen wertenden Gesamtschau der Verfolgungssituation sind nur asylrechtlich beachtliche, an die Merkmale in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anknüpfende Maßnahmen zu berücksichtigen

BVerwG, Urteil vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 -, zitiert nach juris.

Nicht einzubeziehen sind hingegen rein kriminelle Verbrechen und ungezielte terroristische Anschläge, die allein die Destabilisierung der Lage bezwecken.

Eine nach diesen Maßstäben anzunehmende Gruppenverfolgung sunnitischer Religionszugehöriger und kurdischer Volkszugehöriger im Irak i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit den europarechtlichen Bestimmungen der sog. Qualifikationsrichtlinie kann - auch für den Zeitpunkt der Ausreise des Klägers - weder landesweit noch bezogen auf das Herkunftsgebiet des Klägers angenommen werden.

Es fehlt bei einer relativierenden Betrachtung der Anzahl der Opfer von Verfolgungsschlägen und des jeweiligen Anteils der sunnitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppe an einer hinreichenden Verfolgungsdichte. Dies hat der Senat zuletzt mit Urteil vom 1.6.2011

- 3 A 429/08 - dokumentiert bei juris

unter Verwertung zahlreicher Erkenntnisquellen festgestellt. Wegen der Einzelheiten wird hierauf Bezug genommen.

Auch individuell gefahrerhöhende Umstände sind im Falle des Klägers nicht erkennbar.

Ist der Kläger demnach unverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist, kommt ihm für die Beurteilung der Frage, ob er im Falle seiner Rückkehr eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG zu befürchten hat, die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht zugute und ist hierfür der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden.

Nach diesem Maßstab ist eine Verfolgung im Sinne der genannten Bestimmung im Falle seiner Rückkehr nicht zu prognostizieren.

Dies gilt sowohl mit Blick auf die von ihm geltend gemachte individuelle Verfolgungsgefahr wegen der Mitgliedschaft bzw. Mitarbeit seines Vaters in der Baath-Partei als auch mit Blick auf die ihm angeblich drohende Gefahr für Leib und Leben wegen Verletzung der Familienehre durch seinen Vater als auch im Hinblick auf seine sunnitische Religionszugehörigkeit und kurdische Volkszugehörigkeit.

Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse lassen - wie für die Zeit vor seiner Ausreise - auch für die Zeit nach seiner Ausreise bis heute den Schluss auf eine entsprechende Gefährdung des Klägers im Rückkehrfall nicht zu

vgl. Urteil des Senats vom 1.6.2011 - 3 A 429/08 -, dokumentiert bei juris.

Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgetragen hat, sein Problem sei ein Stammesproblem gewesen, womit er die Entführung seiner Mutter vor 30 Jahren meine, und daraus sei ein politisches Problem geworden, weil sein Vater bei der Baath-Partei mitgearbeitet habe, um über die politische Tätigkeit Schutz wegen der aus der Entführung resultierenden Gefährdung zu erlangen, rechtfertigt dies ebenso wenig eine andere Einschätzung, wie der Vortrag, er habe nach seiner Einreise in die Bundesrepublik im Jahre 2005 in B-Stadt einen Freund seines Vaters getroffen, der ihm gesagt habe, er habe seine Feinde hier gesehen, deshalb solle er besser in ein anderes Land gehen. Weder hält der Senat das Vorbringen bezüglich des Freundes seines Vaters für glaubhaft, noch eine Bedrohung des Klägers durch "seine Feinde" selbst in der Bundesrepublik. Was insbesondere die angebliche Information "eines Freundes seines Vaters" im Jahre 2005 in B-Stadt anbelangt, hat der Kläger - jeweils im Zusammenhang mit seiner Weiterreise von B-Stadt nach Belgien - noch bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt erklärt, als er in B-Stadt angekommen sei, habe er Kurden getroffen, die gesagt hätten, dass es hier nicht so gut sei und dass man kein Asylrecht bekommen würde, woraufhin er B-Stadt wieder verlassen habe. Demgegenüber hat er bei seiner Anhörung vor dem Verwaltungsgericht erklärt, er habe in B-Stadt von einer Person, die früher mit seinem Vater zusammengearbeitet habe, gehört, dass er von den Familienangehörigen seiner Mutter gesucht werde. Vor dem Senat hat er nunmehr die oben genannte weitere Abwandlung hinzugefügt. Ergänzend wird auf die oben bereits dargelegten Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens insgesamt hingewiesen.

Nach allem lässt sich dem Vortrag des Klägers nicht entnehmen, dass im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland die Gefahr einer Individualverfolgung des Klägers im Sinne des § 60 Abs.1 AufenthG mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gegeben ist.

Auch eine Gruppenverfolgung des Klägers wegen dessen sunnitischer Religions- und kurdischer Volkszugehörigkeit ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt - ebenso wie für den Zeitpunkt seiner Ausreise bereits dargelegt - zu verneinen.

Zwar ist nach den vorliegenden Erkenntnissen von einer immer noch instabilen Sicherheitslage auszugehen, jedoch ist gegenüber früheren Jahren eine fortschreitende Stabilisierung zu verzeichnen. Die vorliegenden Erkenntnisse weisen insgesamt in eine positive Richtung. Insbesondere hat die interkonfessionelle Gewalt (zwischen Sunniten und Schiiten) seit dem energischen Durchgreifen der irakischen Regierung gegen Milizen seit dem Frühjahr 2008 in einem relevanten Maß nachgelassen

hierzu etwa BAMF, Dokumentation Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010; BAMF, Briefing Notes vom 27.12.2010; Schweizerischen Flüchtlingshilfe (im Folgenden SFH) Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak - Update vom 5.11.2009 -; UNHCR, Positionspapier zum Schutzbedarf irakischer Asylbewerber und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde vom 13.5.2009 und Stellungnahme vom 16.9.2009 an den Hessischen VGH; ai-Report 2010, Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; EZKS, Stellungnahme an VG München vom 20.1.2009 zu Az. M 4 K 08.50041 u.a..

Auf die diesbezüglichen Darlegungen im Urteil des Senats vom 1.6.2011

- 3 A 429/08 -, dokumentiert bei juris,

wird vollinhaltlich Bezug genommen.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen sind die im Irak sowie in der Heimatstadt bzw. der Heimatregion des Klägers zu verzeichnenden Anschläge, deren Hintergründe und Zuordnung zu bestimmten Gruppierungen oder Stellen nach der Erkenntnislage im Einzelnen kaum bzw. schwer zu klären sind, zwar häufig als Akte willkürlicher Gewalt zu bewerten. Indes lassen sich auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder bezogen auf die Gruppe sunnitischer Religionszugehöriger die für die Annahme einer Gruppenverfolgung im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG erforderliche Verfolgungsdichte, noch bezogen auf die Person des Klägers besondere gefahrerhöhende Umstände feststellen.

Den Lageberichten Irak des Auswärtigen Amtes

vom 28.11.2010 vom 11.4.2010,

zufolge wird die Gesamtbevölkerung Iraks auf etwa 32,3 Mio. Menschen geschätzt. Hiervon machen die Schiiten, die vorwiegend den Südosten bzw. Süden des Landes bewohnen, einen Anteil von 60 bis 65 %, (arabische) Sunniten, die mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak leben, einen Anteil von 17 bis 22 % und die vor allem im Norden lebenden Kurden einen Anteil von ca. 15 bis 20 % aus.

In Relation zu diesen Größenordnungen wird die Zahl der dokumentierten Todesfälle den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an die erforderliche Intensität der Verfolgungsdichte offenkundig nicht gerecht. Selbst unter Berücksichtigung der fehlenden Einbeziehung von (Schwer)Verletzten, Traumatisierten und im Sinne des Art. 9 QRL Geschädigten in die vorliegenden Statistiken sowie der Unterstellung einer nachvollziehbaren erheblichen Dunkelziffer und Addition verschiedener Schädigungsformen ist eine in diesem Sinne beachtliche Verfolgungsdichte nicht feststellbar.

Hinsichtlich der Einschätzung der landesweiten Verfolgungsdichte, die im Jahr 2010 auf den bislang tiefsten Stand seit 2003 mit 4028 Opfern gefallen ist,

hierzu etwa BAMF, Irak - Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010; Bundesasylamt (Österreich), Bericht Irak, Die Sicherheitslage in Bagdad vom 26.1.2011

kann im Einzelnen auf die Urteile des Senats vom 1.6.2011

- 3 A 429/08 - und - 3 A 451/08 - , dokumentiert bei juris

verwiesen werden.

Etwas anderes gilt auch nicht mit Blick auf die Herkunftsregion des Klägers, die Region Tamim (Kirkuk). Dort gab es im Jahr 2008 je 100.000 Einwohner 29 Tote (je festgestellter Vorfall 3 Tote) und im Jahr 2009 je 100.000 Einwohner 31,9 Tote (288 Tote bei 99 Vorfällen, d.h. 2,9 Tote je Vorfall). Im Jahr 2010 gab es in der Provinz bei 77 Vorfällen 91 Tote, das sind 10,1 Tote je 100.000 Einwohner und je 1,2 Tote je Vorfall.

Bezüglich des Geburtsorts des Klägers, Erbil (Sitz der Regierung der Autonomen Region Irakisch-Kurdistan), sind die Zahlen noch geringer. So gab es im Jahr 2008 in der ersten Jahreshälfte 7 Tote und 4 Vorfälle, im zweiten Halbjahr wurde kein Vorfall bekannt. Somit waren dort 0,5 - 0,4 Tote je 100.000 Einwohner (1,75 je dokumentierter Vorfall) zu verzeichnen. Im Jahr 2009 waren bei 28 Vorfällen 31 Tote zu beklagen (2,2 Tote je 100.000 Einwohner und 1,1 Toter pro Vorfall). Diese Zahl sank im Jahr 2010 auf 0,4 Tote je 100.000 Einwohner (6 Tote bei 2 Vorfällen).

vgl. BAMF, Irak - Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Januar 2010.

Die (Gesamt-)Opferzahlen bis Mai 2011 belaufen sich, soweit bislang bekannt, auf mindestens 1033 Tote, davon waren 65 Tote in der Herkunftsprovinz Tamim (Kirkuk) des Klägers, d.h. 7,2 Tote je 100.000 Einwohner und 1,6 Tote je dokumentiertem Vorfall und in der Provinz seines Geburtsorts Erbil 4 Tote zu beklagen, d.h. 0,3 Tote je 100.000 Einwohner, 2 Tote pro Vorfall

vgl. hierzu BAMF, Irak - Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte von Juni 2011.

Die meisten Toten und Verletzten gab es bis zu diesem Zeitpunkt im Januar/Februar 2011 bei Anschlägen auf schiitische Pilger in der Nähe von Kerbala (mindestens 45 Tote und 150 Verletzte) und Samarra (50 Tote, 80 Verletzte)

hierzu BAMF, Briefing Notes vom 7.3.2011, FR und taz vom 21.1.2011, FAZ vom 21. und 25.1.2011, NZZ vom 28.1.2011 und FR vom 14.2.2011, SZ vom 14.2.2011; zu den bisherigen Gesamtopferzahlen ferner BAMF, Briefing Notes vom 17.1.2011, vom 14.3.2011, vom 4.4.2011, vom 11.4.2011, NZZ vom 12.4.2011, FAZ vom 13.4.2011, NZZ vom 18. und 19.4.2011, FAZ vom 30.4. und 6.5.2011.

In der darauffolgenden Zeit war der Juni mit 271 Todesopfern, davon 155 Zivilisten, 77 Polizisten und 39 Soldaten der Monat mit dem meisten Todesopfern im Jahr 2011, dazu waren 454 Verletzte zu verzeichnen

hierzu BAMF, Briefing Notes vom 4.7.2011.

Im Juli 2011 kam es bei einem Angriff in dem überwiegend von Sunniten besiedelten Taji zu 35 Toten und 28 Verletzten, anderen Quellen nach zu noch weiteren 58 Verletzten

vgl. hierzu BAMF, Briefing Notes vom 11.7.2011.

Angesichts dieser Opferzahlen in Relation zur Gesamtbevölkerungszahl ist eine Gefährdungslage für den Kläger in dem Sinne, dass er als Angehöriger der Gruppe der (kurdischen) Sunniten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aktuell Gefahr liefe, im Rückkehrfall allein wegen seiner gruppenspezifischen Merkmale einer Verfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ausgesetzt zu sein, klar zu verneinen.

Aufgrund der kontinuierlich rückläufigen Tendenz solcher Vorfälle und Übergriffe in den vergangenen Jahren, insbesondere ab 2008, ist auch für die absehbare Zukunft eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak nicht zu prognostizieren. Dies belegen auch die Opferzahlen für 2011.

Ausgehend von den vorstehend dargestellten Opferzahlen kann schließlich auch im Hinblick auf die Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Kurden, die ca. 15-20 % der Gesamtbevölkerung ausmacht,

vgl. Lagebericht Irak des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010

eine ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit drohende gruppenspezifische Verfolgung nicht angenommen werden.

Darüber hinaus wäre für den in Erbil/Nordirak geborenen Kläger die Möglichkeit einer zumutbaren Aufenthaltsnahme im Nordirak gegeben, aus dem seine Familie stammt. Dies gilt sowohl unter den vorgetragenen Aspekten der Zugehörigkeit zu einer ehemals baathistisch ausgerichteten Familie als auch der sunnitischen Religionszugehörigkeit und kurdischen Volkszugehörigkeit.

Eine Pro-baathistische Betätigung löst nach Einschätzung von EZKS

- H. Siamend - vom 22.3.2007 an VG Magdeburg zu Az. 4 A 190/04 MD und vom 24.11.2007 an VG Karlsruhe zu Az. A 3 K 10823/05

die Gefahr von Sanktionen etwa der KDP und der PUK im - kurdisch dominierten - Nordirak nur dann aus, wenn sich die betreffende Person im Zuge ihrer Betätigung für die Baath-Partei besonderer Grausamkeiten schuldig gemacht hat oder in hohen Positionen befindlichen KDP- bzw. PUK-Politikern oder deren Verwandten geschadet hat.

Derartiges steht bei dem Kläger nicht im Raum.

Eine dem Kläger mit Blick auf seine sunnitische Religionszugehörigkeit und kurdische Volkszugehörigkeit drohende, im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Gefährdung ist daher nicht anzunehmen.

Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Rechtsprechung anderer Obergerichte, die ebenfalls eine Gruppenverfolgung von Sunniten und Kurden im Irak verneinen

vgl. etwa OVG Münster, Urteil vom 29.10.2009, a.a.O., VGH Mannheim, Urteil vom 25.3.2010 - A 2 S 364/09 - und Beschluss vom 12.8.2010 - A 2 S 1134/10; VGH München, Beschlüsse vom 14.7.2011 - 20 B 10.30316 - und vom 5.7.2011 - 20 B 10.30312 -, jeweils im Falle eines sunnitischen Kurden aus der Region Tamim/Kirkuk sowie Urteil vom 21.1.2010 - 13a B 08.30285 - im Falle eines kurdischen Volkszugehörigen sunnitischer Religionszugehörigkeit aus Mossul, jeweils zitiert nach juris.

Ein Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ist daher sowohl mangels individueller als auch mangels gruppenbezogener Verfolgung zu verneinen.

II.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG

zur Prüfungsfolge von unionsrechtlichem und nationalem Abschiebungsschutz etwa BVerwG, Urteil vom 29.6.2010 - 10 C 10.09 -, zitiert nach juris.

Konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 (konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung) und nach § 60 Abs. 3 AufenthG (Gefahr der Todesstrafe aufgrund einer von dem Schutzsuchenden begangenen Straftat) sind weder vom Kläger vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Auch die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegen im Falle des Klägers nicht vor.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.

Die von dem Kläger in seiner Berufungsbegründung angesprochenen Zweifelsfragen zur Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 lit. c QRL, insbesondere des Verständnisses des von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verwendeten Begriffs der "erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben" sowie des Begriffs der "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" im Sinne des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG - QRL - sind durch die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts

vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 und vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 -, juris,

sowie durch Urteil des Europäischen Gerichtshofs

vom 17.2.2009 - C-465/07 -, EuGRZ 2009, 111

hinreichend geklärt. Die Frage, ob § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 lit. c der Richtlinie eine Sperrwirkung entfaltet, ist durch das o.g. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.6.2008 ebenfalls geklärt.

Nach dem vorgenannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009, a.a.O., kann sich eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die zugleich die entsprechenden Voraussetzungen des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt, auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet. Eine derartige Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann aber unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist dabei unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 lit. c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt muss sich dabei nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O..

Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Antragstellers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird, den "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat

vgl. EuGH, Urteil vom 17.2.2009, a.a.O..

Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Nach Art. 2 lit. e QRL muss der Ausländer bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt.

Gemessen an diesen Maßstäben kann für den Kläger keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen oder internationalen Konflikts im Irak bzw. in dessen Teilen festgestellt werden. Nach dem auch hier anzuwendenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vielmehr zu verneinen.

Ob die aktuelle allgemeine Lage im Irak und insbesondere in Bashir, der Herkunftsstadt des Klägers in der Region Tamim (Kirkuk), oder etwa in Erbil, seinem Geburtsort, bereits die Annahme eines landesweiten oder auch nur regionalen innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG rechtfertigen könnte, kann vorliegend offenbleiben

ebenso offen gelassen zum Vorliegen eines landesweiten Konflikts im Irak etwa: VGH München, Urteil vom 24.3.2011 - 20 B 10.30021 -, OVG Münster, Urteil vom 29.10.2010 - 9 A 3642/06.A - und VGH Mannheim, Urteil vom 12.8.2010 - A 2 S 1134/10 - und auch OVG Lüneburg, Urteil vom 13.4.2011 - 13 LB 66/07 - sowie Urteil des Senats vom 1.6.2011 - 3 A 429/08 -, dokumentiert bei juris.

Denn jedenfalls fehlt es an der geforderten erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers als Angehöriger der Zivilbevölkerung.

Auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL kann sich der Kläger nicht berufen. Er ist nicht vorverfolgt ausgereist. Dies gilt sowohl mit Blick auf seine sunnitische Glaubenszugehörigkeit und kurdische Volkszugehörigkeit als auch hinsichtlich der geltend gemachten Betätigung seines Vaters in der Baath-Partei. Insoweit kann vollumfänglich auf die diesbezüglichen Ausführungen im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG verwiesen werden.

Darüber hinaus ist auch der erforderliche Zusammenhang zwischen der geltend gemachten (Vor-)Verfolgung und dem künftigen befürchteten Schaden sowie mit dem Zweck des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, den Schutz des Betroffenen vor Gefahren im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts sicherzustellen, nicht erkennbar.

Die von der bereits dargestellten, immer noch instabilen Sicherheitslage im Irak ausgehende Gefährdung betrifft neben Angehörigen spezieller Personengruppen, so insbesondere von Regierungs-, Streit- und Sicherheitskräften, eine Vielzahl von Zivilpersonen ohne eindeutige Zuordnung und stellt damit eine Gefahr dar, der letztlich die Bevölkerung im Irak allgemein ausgesetzt ist.

Jedoch kann die für die Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderliche erhebliche individuelle Gefahr - wie dargelegt - erst dann bejaht werden, wenn sich allgemeine Gefahren eines Konflikts mit der Folge einer ernsthaften individuellen bzw. persönlichen Betroffenheit aller Bewohner der maßgeblichen Region verdichten oder sich für den Einzelnen durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche individuellen gefahrenerhöhenden Umstände können sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Dies setzt aber eine solche Gefahrendichte voraus, dass ein in sein Heimatland zurückkehrender Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten muss, gezielt (oder auch zufällig) selbst Opfer eines Terroranschlages zu werden oder infolge stattfindender Kampfhandlungen am Leben oder seiner körperlichen Unversehrtheit beschädigt zu werden

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O.; OVG Münster, Urteil vom 29.10.2010, a.a.O..

Dies kann vorliegend nach den vorstehenden Darlegungen nicht angenommen werden.

Zur allgemeinen Gefahrendichte insbesondere für die Jahre 2010 und 2011 kann im Einzelnen auf die Ausführungen in den Urteilen des Senats vom 1.6.2011

- 3 A 429/08 - und 3 A 451/08 - , jeweils dokumentiert bei juris

verwiesen werden.

Zwar gehört die Herkunftsregion des Klägers, die Region Tamim (Kirkuk) zu den instabilsten Gebieten im Irak. Jedoch sind - wie im Einzelnen im Rahmen der Prüfung einer Gruppenverfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG dargelegt - insbesondere seit dem Jahr 2010 bis heute beständig rückläufige Opferzahlen zu verzeichnen.

Daher könnte selbst bei Annahme eines innerstaatlichen Konflikts in der Herkunftsregion Tamim (Kirkuk) nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Die sunnitische Religions- und kurdische Volkszugehörigkeit des Klägers wirkt sich bezogen auf die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorrangig in den Blick zu nehmende Herkunftsregion des Klägers ebenfalls nicht gefahrerhöhend aus. Die Sicherheit der Gruppe der Heimkehrer hängt nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes

vgl. Lageberichte vom 28.11.2010 und vom 11.4.2010

im Wesentlichen davon ab, ob die Ethnie bzw. Glaubensgemeinschaft, welcher sie angehören, in der betreffenden Region die Mehrheit bildet. Da Kurden mit 40 % und Sunniten mit 20% in Kirkuk/Tamim, einem ethnischen Mischgebiet, eine Hauptbevölkerungsgruppe darstellen

vgl. BAMF, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, von Juni 2011 und von Januar 2010

kann bezüglich des Klägers nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad eine Gefährdung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen und/oder ethnischen Minderheit angenommen werden

zur Verfolgungs- und Gefährdungssituation i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vgl. etwa etwa OVG Lüneburg, Urteil vom 13.4.2011 - 13 LB 66/07 - im Falle eines aus der Provinz Dohuk stammenden Kurden; VGH Mannheim, Urteil vom 25.3.2010 - A 2 S 364/09 - (implizit) im Falle eines Kurden aus Kirkuk.

Gleiches gilt, wenn man eine Rückkehr des Klägers in seine Stammregion, die Provinz Erbil, in der 95 % Kurden leben, zugrunde legt. Dort sind noch weit geringere Zahlen als für den Bereich Tamim/Kirkuk festzustellen.

Es liegen bei dem Kläger auch keine weiteren individuellen gefahrerhöhenden Umstände vor. Er gehört insbesondere keiner der in den o.g. Lageberichten des Auswärtigen Amtes und weiteren Erkenntnisquellen bezeichneten gefährdeten speziellen Personengruppen an.

Dass die angebliche frühere Mitgliedschaft des Vaters des Klägers in der Baath-Partei keinen gefahrerhöhenden Umstand darstellt, wurde bereits dargelegt.

Nach allem liegt ein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht vor.

III.

Auch nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht gegeben.

Anhaltspunkte dafür, dass eine Abschiebung des Klägers nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist, sind nicht ersichtlich.

Dem Kläger drohen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch keine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Vorschrift gewährt Schutz bei Gefahren, die nicht bereits vom Regelungsbereich der vorangegangenen Absätze erfasst werden. Sie betrifft nur solche Gefahren, die sich aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für diesen Ausländer herleiten und ausschließlich dort drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote). Unerheblich ist, ob die Gefahren von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren ausgehen oder wodurch sie hervorgerufen werden. Zu unterscheiden ist dabei die erhebliche konkrete Gefahr, die den Ausländer aus individuellen Gründen betrifft und die Gefahr, die - wenn auch in individualisierbarer Weise - aus allgemeinen Gefahren herrührt. Der Ausdruck "erheblich" bezieht sich dabei auf die Gefährdungsintensität. Zusätzlich wird durch das Element der "konkreten Gefahr" für "diesen" Ausländer das Erfordernis einer einzelfallbezogenen und individuell bestimmten Gefährdungssituation aufgestellt

hierzu Huber, AufenthG, § 60 Rdnr. 105 m.w.N..

Die Abgrenzung zwischen einer Gefahr aus allgemeinen und einer Gefahr aus individuellen Gründen kann im Einzelfall schwierig sein. Einer Abgrenzung bedarf es hier jedoch letztlich nicht. Denn vorliegend kann weder davon ausgegangen werden, dass dem Kläger bei Rückkehr in sein Heimatland aus allein in seiner Person liegenden individuellen noch aus allgemeinen Gründen eine beachtliche Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen würde.

Dies gilt zunächst mit Blick auf die von ihm (angeblich) befürchteten Nachstellungen und Gefährdungen seitens Verwandter seiner Mutter wegen Verletzung der Familienehre, die im Rahmen der Prüfung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von Relevanz sein können

vgl. etwa OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.1.2006 - 1 LB 22/05 -, zitiert nach juris,

Denn diese hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht. Auf die diesbezüglichen Ausführungen zu § 60 Abs. 1 AufenthG wird Bezug genommen.

Dem Kläger droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch keine i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtliche Gefahr mit Blick auf die allgemeine Versorgungslage im Irak.

Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fallen die schwierigen Existenzbedingungen einer Vielzahl von Irakern, insbesondere hinsichtlich der Erlangung eines Arbeitsplatzes und der Sicherstellung allgemeiner und medizinischer Versorgung, die aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen hervorgehen, auch wenn sie den einzelnen Ausländer in individualisierbarer Weise betreffen sollten, hinsichtlich des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen prinzipiell nicht in die Entscheidungszuständigkeit des Bundesamtes. Bei derartigen - auch erheblichen - Gefährdungen ist die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Satz 3 der Vorschrift "gesperrt", wenn diese Gefahren zugleich einer Vielzahl anderer Personen im Abschiebezielstaat drohen

hierzu BVerwG, Entscheidungen vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 - u.a.; vom 23.8.2006 - 1 B 60.06 -, Urteil vom 8.112.1998 - 9 C 4.98 - u.a., sowie grundlegend bereits BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199 zu der nahezu wortgleichen Bestimmung des § 53 Abs. 6 AuslG, zitiert nach juris.

Fehlt in einem solchen Fall eine Entscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG, ist aus verfassungsrechtlichen Gründen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Einzelfallentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nur dann ausnahmsweise zulässig und geboten, wenn die obersten Behörden der Bundesländer trotz einer - landesweiten - extremen Gefahrenlage von ihrer Ermessensermächtigung aus § 60 a AufenthG keinen Gebrauch gemacht haben (sog. "verfassungskonforme Überwindung der Sperrwirkung")

vgl. auch hier BVerwG, Entscheidungen vom 29.6.2010 - 10 C 9.09 und 10 C 10.09 - und vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 -, zitiert nach juris.

Eine derartige landesweite Extremgefahr hat der Senat zuletzt in seinen Urteilen vom 1.6.2011,

- 3 A 429/08 - und - 3 A 451/08 -, dokumentiert bei juris,

verneint. Eine durchgreifende Änderung ist seitdem nicht erkennbar. Derartiges wird von dem Kläger auch nicht vorgetragen.

Zwar ergibt sich aus der Auskunftslage,

vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 28.11.2010; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak vom 5.11.2009, UNHCR an Hess.VGH vom 16.9.2009

dass sich im Irak Einschränkungen beim Zugang zu Lebensmitteln, Unterkunft, Grundversorgungsdienstleistungen (wie Wasser, Strom), Einkommen, Beschäftigung, medizinischer Versorgung und Bildung feststellen lassen. Indes sind durchgreifende Anhaltspunkte für i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 relevante Gefahren wie eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder eine bevorstehende Hungerkatastrophe nicht zu verzeichnen. Weiterhin fließen internationale Hilfsgelder in den Irak und werden vom Handelsministerium Lebensmittel verteilt. Zudem versucht die irakische Regierung finanzielle Anreize zu gewähren, um ins Ausland geflohene Iraker zu einer Rückkehr zu bewegen. Bis Ende 2008 sind 40.060 Familien in den Irak zurückgekehrt. Im Jahr 2010 kehrten 118.890 Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge in den Irak bzw. an ihre Heimatorte zurück. Dies waren zwar 40 % weniger als im Jahr 2009, belegt jedoch einen insgesamt aufstrebenden Rückkehrwillen

vgl. zu letzterem UNHCR: Iraq Refuges Returns fell from in 2010 vom 28.1.2011; siehe in diesem Zusammenhang auch Urteile des Senats vom 1.6.2011 - 3 A 429/08 und 3 A 451/08 -.

Ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann daher mit Blick auf die allgemeine Versorgungslage nicht angenommen werden.

Schließlich lässt sich im Falle des Klägers auch nicht im Hinblick auf eine Erkrankung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG feststellen. Im Berufungsverfahren hat sich der Kläger auf das Vorliegen einer postraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bzw. auf eine schwerwiegende psychische Erkrankung mit latenter Suizidalität berufen sowie darauf, dass diese bei einer Rückkehr in den Irak nicht bzw. nicht ausreichend behandelt werden könne.

Grundsätzlich kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts

vgl. etwa Entscheidungen vom 24.5.2006 - 1 B 118/05 -, vom 29.7.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58/96 - und vom 11.9.2007 - 10 C 8.07 -, jeweils zitiert nach juris

die drohende Verschlimmerung einer Krankheit des ausreisepflichtigen Ausländers als konkrete erhebliche Gesundheitsgefahr ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen. Ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann vorliegen, wenn die Erkrankung des Schutzsuchenden im Zielstaat der Abschiebung nicht oder nicht zureichend behandelt werden kann oder wenn die Krankheit dort zwar prinzipiell hinreichend behandelt werden kann, der Betroffene zu der verfügbaren medizinischen Behandlung aber aus finanziellen oder anderen faktischen Gründen keinen Zugang hat. Voraussetzung ist jedoch, dass die fehlende Behandlungsmöglichkeit zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führt, d.h. eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität erwarten lässt. Davon ist auszugehen, wenn sich der Gesundheitszustand des betreffenden Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine derartige erhebliche und konkrete Gefahr ist in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Nur ausnahmsweise ist sie als allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG mit der entsprechenden Sperrwirkung zu qualifizieren, namentlich bei Aidserkrankungen (in afrikanischen Ländern)

vgl. hierzu BVerwG, Entscheidungen vom 23.7.2007 - 10 B 85/07 -, vom 24.5.2006 - 1 B 118/05 - und vom 18.7.2006 - 1 C 16.05 -, jeweils zitiert nach juris.

In diesem Zusammenhang hat das Bundesverwaltungsgericht

Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 16.05 -, a.a.O.

- ebenfalls im Falle eines irakischen Staatsangehörigen - klargestellt, dass die unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mit der Begründung verneint werden kann, der Schutzsuchende sei von einer schlechten medizinischen Versorgung in seinem Herkunftsland gleichermaßen wie alle anderen Bewohner, die an der gleichen Erkrankung leiden, betroffen. Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 (damals Satz 2) AufenthG greift vielmehr nur bei einer großen Anzahl potenziell Betroffener und einem Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung ein. Dies ist hier nicht anzunehmen.

Jedoch kann unter Zugrundelegung der von dem Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und Würdigung seines Sachvortrags, auch seiner aktuellen Bekundungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, nicht davon ausgegangen werden, dass im Falle des Klägers eine auf Tatsachen gestützte beachtliche Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer erheblichen individuellen Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen gegeben ist.

Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen rechtfertigen nicht die Annahme einer Krankheit, mit deren wesentlicher Verschlimmerung im Zielland der Abschiebung zu rechnen wäre. Sie begründen auch keine Pflicht zu weiterer gerichtlicher Sachaufklärung.

Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang mit Blick auf die Vorlage von Attesten und deren Beurteilung durch die Gerichte nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts

vgl. Beschlüsse vom 29.4.2005 - BVerwG 1 B 119.04 - und Urteil vom 11.9.2007 - 10 C 8.07 -, jeweils zitiert nach juris,

dass diese in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess zwar regelmäßig Anlass zu weiterer Sachaufklärung geben, da eine Pflicht der Beteiligten zur Glaubhaftmachung im Sinne des § 294 ZPO, ebenso wie eine Beweisführungspflicht regelmäßig zu verneinen ist.

Jedoch ist regelmäßig zu fordern, dass das vorgelegte fachärztliche Attest gewissen Mindestanforderungen genügt. Dies gilt mit Rücksicht auf dessen Unschärfen und vielfältige Symptome insbesondere bezogen auf das Krankheitsbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Aus dem fachärztlichen Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist. Diese Anforderungen an die Substantiierung ergeben sich aus der Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO), die in besonderem Maße für Umstände gilt, die in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen

vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.2.1995 - BVerwG 1 B 205.93 -.

Werden Atteste vorgelegt, die den vorbeschriebenen Anforderungen genügen, ist grundsätzlich eine eigene medizinische Sachkunde des Gerichts, insbesondere zu einer abweichenden Bewertung von Schwere und Ausmaß der attestierten Erkrankung, zu verneinen und darf die Gefahr der möglichen Verschlimmerung der Erkrankung des Betroffenen bei Rückkehr in sein Heimatland oder Herkunftsgebiet nicht ohne weitere gerichtliche Aufklärung verneint werden. Diese hat, auch ohne dass es eines förmlichen Beweisantrages des Betroffenen bedarf, grundsätzlich in Form der Einholung fachärztlicher Gutachten oder Stellungnahmen zu erfolgen

vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 11.9.2007 - 10 C 8.07 -, Beschluss vom 24.5.2006 - 1 B 118/05 -, jeweils zitiert nach juris..

Vorliegend hat der Kläger indes kein Attest über das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung vorgelegt, das diesen Anforderungen entspricht. Die vorgelegten Schreiben des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie M. an die Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 5.10.2009, 4.1.2010 und 4.7.2011 werden den dargelegten Standards nicht gerecht. Die ärztliche Bescheinigung des St. N.-Krankenhauses W. (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie) vom 30.11.2009 und das Attest der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. W. vom 15.9.2011 beschreiben schon nicht das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

In seinem ersten Schreiben vom 5.10.2009 führt der Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie M. zunächst aus, die Kriegsereignisse im Irak hätten in einem katastrophalen Ausmaß zur Instabilität des Landes sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich geführt. Rivalisierende ethnische und religiöse Minderheiten hätten das Chaos genutzt um alte Rechnungen zu begleichen. Es sei zu einem regelrechten Gemetzel innerhalb dieser Gruppierungen gekommen, der Kläger und sein Schicksal belegten dies. Weiter heißt es u.a.: "Der junge Patient ist Zeuge der Greueltaten mit Tötungsdelikten an seinen Familienmitgliedern gewesen und hat deswegen aus Todesangst sein Heimatland fluchtartig verlassen. Herr Saleh ist hochgradig traumatisiert und ist allein aus dieser Indikation dringend behandlungsbedürftig." In seinem zweiten Schreiben vom 4.1.2010 führt er aus, die Diagnose sei "auf der Grundlage der leitliniengerechten psychiatrischen Diagnostik nach dem Schlüssel ICD-10 gestellt" und "die Kriterien, die zur Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung führen" seien allesamt erfüllt. Es verstehe "sich von selbst, dass das Trauma sehr wohl in seinem Heimatland stattgefunden hat und die posttraumatischen Krankheitsfolgeerscheinungen erst 3 bis 6 Monate nach dem Trauma in Erscheinung treten" könnten. Schließlich führt er in seinem letzten Schreiben vom 4.7.2011 nochmals aus, die Diagnose sei auf der Grundlage der leitliniengerechten psychiatrischen Diagnostik gestellt worden. "Die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Migranten hänge natürlich sehr davon ab", ob man "über die soziopolitischen Begebenheiten des Ursprungslandes der Betroffenen Bescheid" wisse. Für seine Person gebe es keinen Grund, an den Aussagen des Klägers, wie sie sich aus seiner ärztlichen Bescheinigung vom 5.10.2009 ergäben, zu zweifeln.

Hiernach hat der Facharzt M. seiner Diagnose offenkundig einen anderen Sachverhalt zugrunde gelegt, als der Kläger selbst ihn im vorliegenden Verwaltungsstreitverfahren geschildert hat. Nach dessen eigenem Vortrag ist er nämlich selbst nicht "Zeuge der Greueltaten mit Tötungsdelikten an seinen Familienmitgliedern gewesen und hat deswegen aus Todesangst sein Heimatland fluchtartig verlassen". Vielmehr ist danach (nur) ein Familienmitglied getötet worden, war er selbst nicht Zeuge der Tat und hat er sein Heimatland auch nicht fluchtartig aus Todesangst verlassen, sondern in einem gewissen zeitlichen Abstand, nach entsprechender Planung und Organisation durch die Familie. Einen Sachverhalt, wie ihn der Arzt zugrunde gelegt hat, hat der Kläger im vorliegenden Verfahren auch nach Vorlage der genannten ärztlichen Bescheinigungen zu keinem Zeitpunkt geschildert. Auch auf Nachfrage des Senats in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu seinen Asylgründen gab er nichts hiervon Abweichendes an. Da der Kläger auf weitere Nachfrage auch bekundete, sich mit dem Psychiater iranischer Herkunft in einer dem Kurdischen ähnlichen Dialekt sprachlich gut verständigt zu haben, scheiden Sprachschwierigkeiten zur Erklärung oder Auflösung dieses eklatanten Widerspruches aus.

Ging der Facharzt bei seiner Diagnose danach schon nicht von einem - gemessen am Vortrag des Klägers im vorliegenden Verfahren - zutreffenden Sachverhalt aus, so kann seiner Diagnose schon deshalb nicht gefolgt werden. Mit anderen Worten: Hat das vom Arzt angenommene traumatische Erlebnis im Heimatland nicht stattgefunden, so kann sich daraus auch keine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben. Es kommt deshalb daneben nicht mehr entscheidend darauf an, dass die genannten Schreiben des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie M. vom 5.10.2009, 4.1.2010 und 4.7.2011 zudem in medizinischer Hinsicht wenig aussagekräftig erscheinen, da sie überwiegend nur pauschale Angaben enthalten, nicht aber eine - auf der Basis einer Einzelexploration mit Anamnese und Befunderhebung - nachvollziehbare fachärztliche Diagnose.

Aus der Bescheinigung des St. N.-Krankenhauses W. (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie) vom 30.11.2009 über eine stationäre Behandlung des Klägers in der Zeit vom 19.11.- 26.11.2009 lässt sich das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung schon nicht entnehmen. Zwar ist eine schwere depressive Episode (ICD-10.F 32.2) bei Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10. -F 42.1) und eine latente Suizidalität des Klägers beschrieben sowie auf einen während des Krankenhausaufenthalts erfolgten Suizidversuch (mit oberflächlichen Wunden am Handgelenk) hingewiesen.

Der "Verdacht" auf Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung ist jedoch erkennbar nicht verifiziert worden. Vielmehr war das Behandlungsziel offenbar die Beseitigung einer damals akuten Suizidalität. Auch im Berichtteil der Bescheinigung vom 30.11.2009 betreffend "Therapie und Verlauf" heißt es zur "psychotherapeutischen Begleitung und Stützung" allein, dass Thema "die aktuell belastende Lebenssituation" gewesen sei. Anhaltspunkte für die Thematisierung eines im Heimatland erlebten Traumas des Klägers, die das zielstaatsbezogene Abschiebungshindernis einer "Retraumatisierung" im Rückkehrfall begründen könnten, lassen sich der o.g. Bescheinigung nicht entnehmen. Zudem erfolgte die Entlassung im November 2009 in "ausreichend stabilisierten, affektiv ausgeglichenerem Zustand" mit einer antidepressiven Medikation.

Auch dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgelegten Attest der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. W. vom 15.9.2011 lässt sich lediglich entnehmen, dass nach deren Einschätzung bei dem Kläger derzeit eine in erster Linie reaktiv bedingte depressive Störung vorliegt, die durch eine medikamentöse Therapie in niedriger Dosierung behandelt werden kann. Weder vom Vorliegen noch von einem Verdacht auf Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung des Klägers ist die Rede.

Auf eine solche kann aktuell auch nicht auf Grundlage des Vortrages des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geschlossen werden. Nach seinen eigenen Aussagen ist der Kläger ein instabiler Mensch, der keine Ruhe findet und Schlafstörungen hat. Andere gravierende körperliche Auswirkungen als Folge seiner Unruhe und Nervosität hat der Kläger nicht beschrieben.

Von dem Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung kann daher nicht ausgegangen werden.

Auch Anhaltspunkte für eine sonstige schwerwiegende psychische Erkrankung oder für eine latente Suizidalität des Klägers, die u. U. eine zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründen könnten, liegen danach nicht vor.

Zwar spricht auch das Schreiben des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie M. vom 4.1.2010 eine Suizidalität des Klägers an und führt aus, er sei hochgradig gefährdet, soweit es seine suizidalen Tendenzen anbelange, weil er sich permanent verfolgt fühle und in einer dauerhaften Angst lebe. Einen nachvollziehbaren konkreten Hintergrund für diese Einschätzung, insbesondere Tatsachen jenseits der nicht mit dem Vortrag des Klägers im vorliegenden Verfahren übereinstimmenden angeblichen Traumatisierung in seinem Heimatland, benennt das Schreiben jedoch ebenso wenig wie die weiteren Schreiben vom 5.10.2009 und 4.7.2011. In dem Schreiben vom 4.7.2011 ist von einer Suizidalität des Klägers nicht mehr die Rede. Vielmehr wird festgestellt, dass der Kläger durch die bisherige regelmäßige therapeutische Führung sowie Medikamenteneinnahme bis zum Behandlungsende am 20.4.2011 eine durchaus positive Entwicklung durchlaufen habe, insbesondere seine Ängste schrittweise abzubauen und mit einer Minimaldosierung des Medikamentes auszukommen vermocht habe. Für die Annahme einer aktuellen Suizidalität oder der drohenden wesentlichen Verschlimmerung einer vorhandenen schwerwiegenden psychischen Erkrankung des Klägers nach Rückkehr in das Herkunftsland lässt sich hieraus nichts gewinnen. Gleiches gilt für das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Attest der den Kläger derzeit behandelnden Ärztin Dr. W. vom 15.9.2011.

Schließlich sprechen auch die eigenen Angaben des Klägers in der mündlichen mit Gewicht dagegen, dass von dem Vorliegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung oder - latenten - Suizidalität oder auch nur von einem ernstzunehmenden Verdacht auf Derartiges auszugehen wäre.

Der Kläger hat auf ausdrückliches Befragen des Senats zu seiner ärztlichen Behandlung und zu seinem Befinden erklärt, der zuvor behandelnde Arzt M., der im April 2011 seine kassenärztlichen Zulassung zurückgegeben habe, habe ihm nach Beendigung der dortigen Behandlung auf spätere telefonische Nachfrage Rezepte ausgestellt und ihm den Versuch angeraten, auch gänzlich ohne das eingesetzte Medikament (Citalopram) auszukommen und "ruhiger" zu werden. Man habe dann die Dosis von 40 mg auf 20 mg und schließlich auf 10 mg verringert. Da er bei der Dosis von 10 mg keine Ruhe gefunden habe, habe er Dr. W. aufgesucht. Mit dieser könne er sich auf Deutsch verständigen. Unter deren Behandlung nehme er derzeit täglich 20 mg Citalopram sowie bei Bedarf eine Schlaftablette (Zolpidem), weitere Medikamente nehme er nicht. Schwerwiegende Störungen oder noch bestehende Selbstmordgedanken hat der Kläger nicht beschrieben, sondern lediglich - wie dargelegt - eine allgemeine Instabilität, Unruhe und gelegentliche Schlafstörungen, die er nach Behandlungsabbruch im April 2011 auch ohne ärztliche Behandlung allein durch Einnahme von Citalopram sowie bei Bedarf gelegentlich von Zolpidem hat bewältigen können. In der immerhin vier Monate währenden Zeit zwischen dem Behandlungsende bei dem Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie M. am 20.4.2011 und dem Aufsuchen der Fachärztin Dr. W. am 25.8.2011 ist danach offenkundig keine relevante Verschlimmerung des gesundheitlichen Zustands des Klägers eingetreten. Greifbare und nachhaltige Hinweise auf eine schwerwiegende psychische Erkrankung, die sich bei Rückkehr in sein Heimatland aufgrund fehlender bzw. unzureichender ärztlicher und medikamentöser Versorgung wesentlich verschlimmern könnte, liegen danach aktuell nicht vor. Derartiges ist auf Grundlage der dargestellten Erkenntnisse auch nicht zu prognostizieren.

Auszugehen ist vielmehr davon, dass die Krankheitssymptome, wegen derer der Kläger sich derzeit in ärztlicher Behandlung befindet, auch im Rückkehrfall behandelt werden können und eine wesentliche Verschlimmerung seines Krankheitsbildes im Sinne einer konkreten Gesundheitsgefahr von erheblicher Intensität nicht zu befürchten ist.

Zwar ist nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen

vgl. hierzu etwa Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 28.11.2010; SFH, Die sozioökonomische Situation im Nordirak, Mai 2010: Die Behandlung von PTSD in Erbil vom 10.3.2010, ferner Bericht vom 10.7.2007: Die sozioökonomische Situation in den von der KRG verwalteten Provinzen; GIGA an VG Düsseldorf vom 10.5.2007 zu Az.: 16 K 5213/06.A -; DOI an VG Saarlouis vom 6.3.2006 zu Az.: 2 K 1/06.A; EZKS an VG Ansbach vom 4.2.2006 zu Az.: AN 9 K 04.32341 -,

die inhaltlich im Wesentlichen übereinstimmen, die Versorgungslage im Irak in medizinischer Hinsicht trotz einer tendenziell anzunehmenden Verbesserung

hierzu insbesondere SFH, Die sozioökonomische Situation im Nordirak, Mai 2010 unter Berufung auf einen Bericht der WHO

nach wie vor angespannt.

Grundsätzlich kann sich zwar jeder Iraker überall im Land in öffentlichen Krankenhäusern kostenfrei behandeln lassen, wobei Unterschiede zwischen dem Zentralirak und dem kurdisch verwalteten Norden nicht bestehen. De facto existiert aber nach den Angaben verschiedener Erkenntnisquellen im Irak eine Zwei-Klassen-Medizin. Die öffentlichen Krankenhäuser sind schlecht ausgestattet und leiden vor allem an einem Mangel an Medikamenten und technischem Gerät. Medikamente sind danach zumeist nur theoretisch kostenfrei und müssen meistens zu hohen Preisen privat in Apotheken gekauft werden. Psychische Krankheiten werden häufig nur medikamentös behandelt

hierzu etwa EZKS an VG Ansbach vom 4.2.2006 zu Az.: AN 9 K 04.32341 u.a., Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 28.11.2010; SFH, Die sozioökonomische Situation im Nordirak, Mai 2010.

Dennoch ist nach Auskunftslage

vgl. etwa Botschaft BRD an VG Ansbach vom 20.5.2010 zu Az.: AN 9 K 09.30128

etwa eine depressive Anpassungsstörung oder depressive Episode in Mossul prinzipiell behandelbar. Die Kosten hierfür hängen von Art und Dauer der Behandlung ab und können daher - auch infolge fehlender ärztlicher Gebührenordnung - nicht allgemein und pauschal abgeschätzt werden.

Nach der

Auskunft des (Vertrauensarztes des) Generalkonsulats Erbil vom 29.4.2010 an VG Bayreuth zu Az.: B 3 K 30045

gibt es auch in Erbil, in anderen Teilen Kurdistans ebenso wie im Gesamtirak eine erhebliche Anzahl von Nervenärzten, die an Depressionen leidende Patienten gut behandeln können. Psychopharmaka sind danach vorhanden und preisgünstig, die ärztliche Beratung kann nach dieser Quelle in staatlichen Krankenhäusern kostenlos erfolgen sowie in privaten Praxen für ca. 10 €.

Zwar gibt es über die Verfügbarkeit des von dem Kläger derzeit zur Bekämpfung seiner Unruhezustände eingenommenen Medikaments Citalopram im Irak nach Ansicht des EZKS aus dem Jahr 2006

vgl. EZKS an VG Ansbach vom 4.2.2006, a.a.O.

widersprüchliche Aussagen verschiedener befragter Ärzte und kann nach dessen Einschätzung jedenfalls nicht von einem regelmäßigen und kostenfreien Bezug des Medikaments ausgegangen werden.

Ausgehend von den vorgenannten aktuellen Erkenntnisquellen aus dem Jahr 2010 lassen sich jedoch derartige Einschränkungen bei der allgemeinen Verfügbarkeit von vergleichbaren Medikamenten zur Behandlung psychischer Erkrankungen wie der zuletzt bei dem Kläger diagnostizierten "depressiven Störung" nicht feststellen. Hieraus ist zu folgern, dass zumindest die zur Behandlung "einfacher" psychischer Erkrankungen, wie einer depressiven Störung, erforderlichen Medikamente ebenso wie hierzu ergänzende Schlafmittel dem Kläger im Irak grundsätzlich zur Verfügung stehen oder beschafft werden können.

Da die Familie des Klägers nach dessen eigenem Bekunden in der mündlichen Verhandlung wirtschaftlich nach wie vor gut gestellt ist, ist eine für ihn konkret erforderliche ärztliche Behandlung und Medikation in seinem Heimatland in vergleichbaren Intervallen wie in der Bundesrepublik Deutschland auch tatsächlich erreichbar.

Eine weitere Sachaufklärung, insbesondere die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Thema der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Klägers sowie einer möglichen medizinischen Versorgung in seinem Heimatland drängte sich nach alledem - ungeachtet des Umstandes, dass der anwaltlich vertretene Kläger einen förmlichen Beweisantrag hierzu nicht gestellt hat - nicht auf.

Ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen einer Gesundheitsgefährdung erheblichen Ausmaßes kann hiernach ebenfalls nicht angenommen werden.

Die Berufung des Klägers wird daher zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen.