VG Hamburg, Urteil vom 27.07.2010 - 10 A 445/09
Fundstelle
openJur 2010, 779
  • Rkr:
Tenor

Der Bescheid vom 16.11.2009 wird aufgehoben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen eine Widerrufsentscheidung nach dem Asylverfahrensgesetz.

Er reiste im Mai 1994 nach Deutschland ein und machte zur Begründung seines unter dem 07.12.1994 gestellten Asylantrages geltend, im Iran gefährdet zu sein aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für den iranischen Geheimdienst.

Mit Bescheid vom 16.11.1995 erkannte die Beklagte den Kläger als asylberechtigt an und stellte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 fest. Die Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten wies das VG Leipzig nach Rücknahme des Begehrens des Klägers zu Art. 16 a GG mit Urteil vom 15.12.1997 (A 3 K 30775/95) ab; der Kläger sei wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten im Falle seiner Rückkehr in den Iran gefährdet. Ein Antrag des Bundesbeauftragten auf Zulassung der Berufung blieb erfolglos (OVG Bautzen, Beschl. v. 11.01.2001, 4 B 4029/98).

In der Folge erhielt der Kläger eine Aufenthaltsbefugnis. Auf die Nachfrage der Ausländerbehörde anlässlich der Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis teilte die Beklagte am 12.02.2003 mit, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 weiterhin vorliegen.

Mit Urteil des Landgerichts Hamburg vom 04.07.2005 wurde der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung wegen Einschleusens von Ausländern verurteilt. Mit weiterem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 24.05.2006 wurde der Kläger im Wesentlichen wiederum wegen Einschleusens von Ausländern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren sowie unter Einbeziehung der vorgenannten Freiheitsstrafe zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Mit Bescheid vom 19.01.2007 wies die Ausländerbehörde den Kläger aus, erteilte aber im Hinblick auf die frühere Feststellung der Beklagten eine Duldung.

Unter dem 11.10.2006 übersandte die Ausländerbehörde der Beklagten Kopie des Urteils des Landgerichts Hamburg vom 24.05.2006 und fragte nach dem Bestand der früheren Feststellung an. Die Beklagte begann am 08.12.2006 eine interne Prüfung. Am 27.08.2008 leitete sie das Widerrufsverfahren ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 08.10.2008 an. Nachdem eine Stellungnahme ausblieb, widerrief die Beklagte mit Bescheid vom 16.11.2009 die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 vorliegen, stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen und auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Wegen der Begründung wird auf den am 20.11.2009 als Einschreiben zur Post gegebenen Bescheid verwiesen.

Der Kläger hat am 07.12.2009 Klage erhoben. Er macht geltend, von ihm gehe keine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 8 AufenthG mehr aus. Auch sei keine wesentliche Änderung der politischen Situation im Iran eingetreten. Auf seine Schriftsätze vom 22.01., 25.01., 03.02. und 26.07.2010 nebst Anlagen wird verwiesen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 16.11.2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Sachakten der Beklagten (Asylakte, Widerrufsakte) sowie die den Kläger betreffenden Ausländerakten haben dem Gericht vorgelegen. Sie sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird ergänzend auf ihren Inhalt sowie den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 16.11.2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; er ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

I.

Der ausgesprochene Widerruf ist rechtswidrig.

1. Die Rechtmäßigkeit des Widerrufs der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Ziffer 1 des Bescheides vom 16.11.2009) beurteilt sich nach § 73 AsylVfG. Dabei ist ohne Bedeutung, dass in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der geltenden Fassung, die wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG allein maßgeblich ist, nur vom Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Rede ist, denn letztere ist mit Inkrafttreten des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und des § 3 AsylVfG in der geltenden Fassung an die Stelle der hier widerrufenen, nach früherem Recht ausgesprochenen Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 getreten.

2. Auf die Widerrufsentscheidung ist § 73 Abs. 7 AsylVfG anzuwenden, da die widerrufene Entscheidung vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden ist. Danach hat die Prüfung nach § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen. Diese Frist war bei Erlass des angefochtenen Bescheides abgelaufen, was im Ergebnis zu seiner Aufhebung führt.

a) Vorliegend ist die Prüfung zwar am 08.12.2006 erstmals begonnen und dann am 27.08.2008 durch verwaltungsinterne Entscheidung und Mitteilung an den Kläger im Anhörungsschreiben vom 08.10.2008 eingeleitet worden. Zu einer Entscheidung, d.h. dem hier angefochtenen Bescheid kam es indes erst am 16.11.2009 und damit lange nach Ablauf der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG.

b) Nach Auffassung des Gerichts erfordert § 73 Abs. 7 AsylVfG nicht etwa nur die Einleitung des Widerrufsverfahrens, sondern grundsätzlich auch den Erlass einer ggf. zu treffenden Widerrufsentscheidung vor Ablauf des 31.12.2008.

Dieses Verständnis legen der Wortlaut, vor allem aber der Sinn und Zweck der Frist nahe; anderenfalls hätte es die Beklagte in der Hand, sich die Entscheidung auf lange Zeit nach Ablauf der Frist noch vorzubehalten, wenn sie denn nur ein Verfahren rechtzeitig eingeleitet gehabt hätte. Damit liefe die Frist praktisch leer; auch sonst würde ihr Zweck verfehlt (in diesem Sinne auch VG Hannover, Urt. v. 28.01.2010, 6 A 386/09 - in juris; auch BVerwG, Urt. v. 12.06.2007, 10 C 24/07 - in juris - legt dieses Verständnis nahe).

Ob der Beklagten in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.06.2007, a.a.O.) über den 31.12.2008 hinaus noch ein angemessener Prüfungsraum zusteht (bejahend VG Frankfurt, Urt. v. 27.01.2010, 6 K 2348/09.F.A - in juris), erscheint angesichts der unterschiedlichen Regelung in § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG („…hat spätestens nach Ablauf von drei Jahren …zu erfolgen.“) und in § 73 Abs. 7 AsylVfG („…hat …spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen.“) fraglich. Bestenfalls käme – jedenfalls wenn besondere Gründe für eine weitere Verzögerung fehlen, etwa zeitaufwendige Nachermittlungen – in Anlehnung an § 75 Satz 2 VwGO eine Nachfrist von drei Monaten in Betracht; aber auch diese war bei Erlass des hier angefochtenen Bescheides lange verstrichen.

c) Daran, dass die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist und ihre Verletzung folglich zur Aufhebung eines gleichwohl ergehenden Bescheides führt, lässt sich nicht durchgreifend zweifeln. Zwar dient das Merkmal „unverzüglich“ in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein Widerrufsbescheid nicht allein deshalb beanstandet werden kann, weil er nicht unverzüglich im Sinne dieser Vorschrift erlassen worden ist (ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Urt. v. 12.06.2007, a.a.O. m.w.N.). Das Bundesverwaltungsgericht hat aber in der eben bereits genannten Entscheidung auch angedeutet, dass anderes zu gelten habe für die Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 20.03.2007 1 C 21/06 - in juris; Schäfer GK-AsylVfG § 73 Rn. 89). Dies muss erst recht für die absolute Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG gelten. Das Gericht folgt diesbezüglich der Begründung des VG Frankfurt (Urt. v. 27.01.2010, a.a.O.) und verweist darauf.

3. Der angefochtene Widerrufsbescheid lässt sich auch nicht unter Berücksichtigung von § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG aufrechterhalten.

a) Soweit danach ein Widerruf ermöglicht wird, setzt dies nach der ersten Satzhälfte der Vorschrift voraus, dass zuvor eine sog. Negativentscheidung ergangen ist (vgl. zu diesem Erfordernis: BVerwG, Urt. v. 20.03.2007, a.a.O.; Urt. v. 25.11.2008, 10 C 53/07 – in juris; Schäfer, a.a.O. Rn. 105). Daran fehlt es vorliegend. Die Mitteilung der Beklagten vom 12.02.2003 an die Ausländerbehörde, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 weiterhin vorliegen, genügt dafür nicht. Der Widerruf steht nach § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG erst dann im Ermessen, wenn zuvor in dem seit dem 01.01.2005 nach § 73 Abs. 2 a AsylVfG vorgeschriebenen Verfahren die Widerrufsvoraussetzungen sachlich geprüft und verneint worden sind (Negativentscheidung). Eine vorher durchgeführte Prüfung nach der alten Rechtslage reicht dafür nicht aus (BVerwG, Urt. v. 25.11.2008, a.a.O.).

b) Zum anderen ist nach Sinn und Zweck der Fristbestimmung einerseits und der Eröffnung von späteren Entscheidungen andererseits davon auszugehen, dass für eine Entscheidung nach § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG ein Widerrufsgrund vorausgesetzt ist, der nach Ablauf der Frist entstanden oder der Beklagten bekannt geworden ist. Auch daran fehlt es hier – alle Umstände, auf die die Beklagte den Widerruf stützt, lagen bereits am 31.12.2008 vor und waren der Beklagten auch bekannt.

c) Schließlich hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid das ihr nach der zweiten Satzhälfte des § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG eröffnete Ermessen – soweit ein Widerruf außerhalb des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG ermöglicht wird – nicht ausgeübt.

Ob ein Fall von § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegt, der im Rahmen von § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG einen Widerruf ohne Ermessensentscheidung ermöglicht, bedarf keiner Entscheidung, da es insoweit jedenfalls an einer früheren Negativentscheidung und zudem an einem neuen Umstand fehlt (vgl. oben a) und b)).

d) Auf die Frage, ob die Voraussetzung für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG der Sache nach vorliegen, kommt es letztlich nach allem nicht an. Hinsichtlich der Gefährdung des Klägers durch seine exilpolitischen Aktivitäten und des ihm dieserhalb zu gewährenden Schutzes fehlt es allerdings auch an der erforderlichen Änderung der Verhältnisse im Heimatstaat. Zwar dürfte die seinerzeitige Zubilligung von § 51 Abs. 1 AuslG 1990 durch das VG Leipzig (Urteil vom 15.12.1997, a.a.O.) – jedenfalls aus heutiger Sicht – auf einer schon damals unzutreffenden Bewertung der Erkenntnislage beruht haben (vg. OVG Bautzen, Beschl. vom 11.01.2001, a.a.O.). Das rechtfertigt indes einen Widerruf nicht. Eine erforderliche wesentliche Änderung der Verhältnisse im Iran für Regimekritiker ist nicht eingetreten (vgl. VG Hamburg, Urt. vom 03.06.2010, 10 A 165/09 m.w.N. – in juris).

4. Die angefochtene Entscheidung lässt sich auch nicht nach § 49 VwVfG rechtfertigen. Ungeachtet aller Anwendbarkeitsfragen ist das ggf. eröffnete Ermessen nicht ausgeübt.

II.

Da der Widerruf der Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG 1990 nicht rechtmäßig erfolgte (Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides), ist für die Aussprüche in Ziffer 2 und 3 des angefochtenen Bescheides kein Raum und sind auch sie folglich aufzuheben.

Die Nebenentscheidungen folgen aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG, § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.