VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.11.2008 - 10 S 2719/08
Fundstelle
openJur 2013, 14811
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. September 2008 - 1 K 2386/2008 - geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis vom 13.08.2008 wird wiederhergestellt.  

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.  

Der Streitwert wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf je 10.000,- EUR festgesetzt.  

Gründe

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.  

Aus den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ergibt sich, dass abweichend von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug der Verfügung des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis vom 13.08.2008 vor einer endgültigen Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug der Verfügung vorgeht. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Widerspruch des Antragstellers und eine eventuell nachfolgende Anfechtungsklage Erfolg haben werden, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung bestehen.  

Das Landratsamt hat dem Antragsteller nach § 3 Abs. 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV die Fahrerlaubnis entzogen, weil er ein nach § 13 Satz 1 Nr. 2c FeV angefordertes Gutachten nicht beigebracht hat. Keine rechtlichen Bedenken bestehen gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Fahrt des Antragstellers am Steuer eines Kraftwagens mit einem Blutalkoholgehalt von 1,66 ‰ ernstliche Zweifel an dessen Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen aufkommen lässt. Kraftfahrer, die mit einer Blutalkoholkonzentration über 1,6 ‰ auffällig werden, leiden regelmäßig bereits an einer dauerhaften ausgeprägten Alkoholproblematik (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.07.1988 - 7 C 46.87 - juris m.w.N.; Amtliche Begründung zu § 13 Nr. 2c FeV, abgedruckt bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl. § 13 FeV Rdnr. 2). Hat ein Kraftfahrer im Straßenverkehr ein Fahrzeug mit einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 1,6 ‰ geführt, hat die Verkehrsbehörde daher grundsätzlich die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde ein von ihr zu Recht gefordertes Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV).  

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts dürfte vorliegend aber die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG der Anordnung, ein Gutachten beizubringen, entgegenstehen. Will die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, so kann sie § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung u.a. der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Mit dieser Vorschrift soll die sowohl dem Strafrichter (vgl. § 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (vgl. § 3 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass Doppelprüfungen unterbleiben und die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung findet seine innere Rechtfertigung darin, dass auch die Entziehung der Fahrerlaubnis durch den Strafrichter als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Insofern deckt sich die dem Strafrichter übertragene Befugnis mit der Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde. Während die Behörde allerdings die Kraftfahreignung aufgrund einer umfassenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers zu beurteilen hat, darf der Strafrichter nur eine Würdigung der Persönlichkeit vornehmen, soweit sie in der jeweiligen Straftat zum Ausdruck gekommen ist. Deshalb ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung auch nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Verwaltungsbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat. Deshalb entfällt die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 15.07.1988 - a.a.O.; BVerwG, Beschl. v. 20.12.1988 - 7 B 199.88 - juris). Die in § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG angeordnete Bindungswirkung gilt nicht nur für die Maßnahme der Entziehung selbst, sondern nach ihrem Sinn und Zweck für das gesamte Entziehungsverfahren unter Einschluss der vorbereitenden Maßnahmen, so dass in derartigen Fällen die Behörde schon die Beibringung eines Gutachtens nicht anordnen darf (BVerwG, Urt. v. 15.07.1988 - a.a.O.).  

Ausgehend von diesen Grundsätzen war die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG voraussichtlich gehindert, ein medizinisch-psycho-logisches Gutachten anzuordnen. Mit Strafurteil des Amtsgerichts Karlsruhe vom 11.12.2007 wurde der Antragsteller wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr verurteilt, weil er am 26.10.2007 einen Pkw mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,66 ‰ geführt hat. Im Urteil wird festgestellt, dass sich der Antragsteller durch die Tat nicht als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen i.S. von § 69 StGB erwiesen habe, weil er nur eine sehr kurze Strecke gefahren sei. Bei der Strafzumessung wurde zugunsten des Antragstellers berücksichtigt, dass er lediglich zwei Fahrzeuglängen habe fahren wollen, um sein Fahrzeug umzuparken; zu Ungunsten des Antragstellers wurde berücksichtigt, dass er sehr erheblich alkoholisiert war. Damit hat das Strafgericht aufgrund einer - wenn auch nur knappen - Beurteilung der Eignungsfrage von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen. Die Urteilgründe lassen keinen Raum für die Annahme, das Strafgericht habe von einer eigenständigen Bewertung der Kraftfahreignung abgesehen und diese Frage letztlich offen lassen wollen. Es liegt auch kein Anhaltspunkt dafür vor, dass das Strafgericht nicht aufgrund einer Eignungsbeurteilung, sondern aufgrund anderer Umstände - etwa im Hinblick auf die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit - von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen hat (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 20.12.1988 - a.a.O.) oder lediglich an der Ungeeignetheit gezweifelt hat.  Auch eine Auslegung dahingehend, dass das Strafgericht nur das Vorliegen eines Regelfalles nach § 69 Abs. 2 StGB verneint hat, so dass eine umfassende Prüfung der Kraftfahreignung nach § 69 Abs. 1 StGB geboten ist, dürfte nicht in Betracht kommen. Vielmehr folgt aus der knappen, aber klaren Begründung des Strafurteils, dass der Vorfall vom 26.10.2007 der Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen nach Auffassung des Strafgerichts nicht entgegensteht. Auch der Umstand, dass nach dem Wortlaut des Strafurteils die Eignung des Antragstellers nicht positiv festgestellt wird, rechtfertigt keine andere Einschätzung. Denn eine Unterscheidung zwischen positiver Feststellung der Eignung ("... ist geeignet") und negativer Feststellung der Ungeeignetheit ("... ist nicht ungeeignet") ist rechtlich ohne Bedeutung. Ist die Ungeeignetheit nicht gegeben, muss der Kraftfahrer im Rechtssinn als geeignet angesehen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.07.1988 -a.a.O).

Schließlich ist die Fahrerlaubnisbehörde auch nicht von einem umfassenderen Sachverhalt als das Strafgericht ausgegangen. Die abgeurteilte Straftat war die Trunkenheitsfahrt am 26.10.2007 mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,66 ‰. Auch die Anordnung der Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens beruhte ausschließlich auf diesem Vorfall. Der Fahrerlaubnisbehörde lagen ausweislich der Akten keine anderen Erkenntnisse als dem Strafrichter vor. Die Beibringung eines medizinisch-psycho-logischen Gutachtens sollte vielmehr erst der Ermittlung eines umfassenderen Sachverhalts dienen. Zu Recht weist das Verwaltungsgericht zwar darauf hin, dass das Strafgericht nicht der Frage nachgegangen ist, ob der Antragsteller deutlich normabweichende Trinkgewohnheiten aufweist, wofür die hohe Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ nach gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis spricht, und er es deshalb unter Umständen an der gebotenen Trennung zwischen Alkoholkonsum und Teilnahme am Straßenverkehr fehlen lässt. Es spricht daher einiges dafür, dass das Strafgericht nicht ohne weitere Ermittlungen - etwa durch Anordnung einer Begutachtung - die Eignung des Antragstellers hätte feststellen dürfen. Die Bindungswirkung verwehrt es der Fahrerlaubnisbehörde aber, das Strafurteil auf seine inhaltliche Richtigkeit zu prüfen. Würdigt das Strafgericht einen Vorfall anders als die Fahrerlaubnisbehörde, fehlt es deswegen nicht am Merkmal des gleichen Sachverhalts. Es gibt keinen Anhaltspunkte dafür, dass das Strafgericht den Umstand, dass der Antragsteller mit einer hohen Blutalkoholkonzentration von 1,66 ‰ gefahren ist, bei der Beurteilung der Kraftfahreignung außer Acht gelassen hat.  

Die Bindungswirkung dürfte schließlich auch nicht deshalb entfallen, weil § 13 Satz 1 Nr. 2c FeV die Fahrerlaubnisbehörde zur Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verpflichtet. Denn § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG geht als formelles Gesetz der Fahrerlaubnisverordnung vor (Himmelreich, NZV 2005, 337, 342).

Die Straßenverkehrsbehörde durfte den Vorfall vom 26.10.2007 daher nicht zum Anlass für die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nehmen. Ist die Gutachtensanordnung nicht rechtmäßig, kann aus der Weigerung des Antragstellers, dieses Gutachten beizubringen, oder aus der Fristversäumung nicht der Schluss auf seine Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen gezogen werden (BVerwG, Urt. v. 15.07.1988 - a.a.O).  

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.  

Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie in § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 und Abs. 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 und 46.1, 46.3, 46.4 und 46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004. Dem Antragsteller ist die Fahrerlaubnis der Klassen A, B, BE, C 1, C1 E, CE* und L entzogen worden. Davon haben die Klassen A, B, C und E nach § 6 Abs. 3 FeV eigenständige Bedeutung (vgl. Senatsbeschl. v. 13.12.2007 - 10 S 1272/07 -). Für die Hauptsache errechnet sich demnach ein Betrag von 20.000,- EUR. Dieser Betrag ist für das vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu halbieren (10.000,- EUR). Die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts war entsprechend zu ändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 GKG).

Der Beschluss ist unanfechtbar.