VG Düsseldorf, Urteil vom 10.10.2012 - 16 K 2585/12
Fundstelle
openJur 2012, 129512
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage ist unbegründet.

Die Untersagungsverfügung der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.

Die angefochtene Verfügung beruht auf § 69 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG). Hiernach treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, wenn die erforderliche Zulassung oder Registrierung für das Arzneimittel nicht vorliegt.

Die Beklagte konnte hiernach das Inverkehrbringen bzw. Herstellen und Inverkehrbringen der nikotinhaltigen Liquids untersagen, da diese als Arzneimittel einzustufen sind und daher der für Fertigarzneimittel geltenden Zulassungspflicht des § 21 AMG unterliegen.

Definiert wird das Arzneimittel in § 2 Abs. 1 AMG. Danach sind Arzneimittel alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind (sog. Präsentationsarzneimittel) sowie zum anderen alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen (sog. Funktionsarzneimittel). Diese Definition lehnt sich an den Arzneimittelbegriff der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel i.d.F. der Richtlinie 2004/27/EG an und entspricht inhaltlich dem gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriff.

Die hier streitigen E-Zigaretten sind keine Arzneimittel nach der Bezeichnung, erfüllen also den Arzneimittelbegriff der 1. Alternative nicht, da sie nicht zur Heilung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind, sondern in erster Linie als Genussmittel dienen sollen. Jedenfalls werden dem Produkt weder auf der Packung noch in der Werbung Arzneimittelfunktionen zugeschrieben.

Hingegen handelt es sich um Funktionsarzneimittel. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels nach der Funktion fällt, von Fall zu Fall zu treffen; dabei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften - wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann. Das Produkt muss die physiologischen Funktionen nachweisbar und in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Darin liegt das wesentliche Kriterium, auf dessen Grundlage, ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses, zu beurteilen ist, ob ein Funktionsarzneimittel vorliegt,

vgl. EuGH, Urteile vom 15. November 2007 - Rs. C-319/05 -, juris, und vom 15. Januar 2009, NVwZ 2009, 439 - Hecht-Pharma.

Allerdings folgt daraus nicht zwangsläufig, dass Erzeugnisse, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, systematisch als Funktionsarzneimittel eingestuft werden können,

vgl. EuGH Urteil vom 15. November 2007 aaO., Rdnr.60.

Da die Beeinflussung der physiologischen Funktionen den Varianten Wiederherstellen und Korrigieren ergänzend hinzugefügt und damit gleichgestellt wird, muss auch sie zu einer Veränderung führen, die außerhalb der normalen im menschlichen Körper ablaufenden Lebensvorgänge liegt,

vgl. BVerwG NVwZ 2008, 439 f.

Die sonstigen Merkmale sind ergänzend - gleichsam als Korrektiv - heranzuziehen, wenn eine pharmakologische Wirkung positiv festgestellt worden ist,

BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2009 - 3 C 5/09 - Rdnr. 18 - Weihrauchextrakt -.

Entscheidend im Sinne der 2. Alternative des § 2 Abs. 1 AMG ist somit zunächst, ob mit dem Erzeugnis die menschlichen Funktionen durch eine pharmakologische Wirkung beeinflusst werden können (immunologische oder metabolische Eigenschaften kommen im vorliegenden Fall nicht in Betracht). Als pharmakologisch wird eine Wirkung beschrieben, die aus einer Wechselwirkung zwischen Bestandteilen des Stoffes und einem körpereigenen, als Rezeptor bezeichneten Zellbestandteil besteht und die entweder zu einer direkten Wirkung führt oder die Wirkung eines anderen Wirkstoffs blockiert,

vgl. Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, § 2 AMG Anm. 68 zum sog. "Schlüssel-Schloss-Prinzip".

Die pharmakologische Wirkung stellt dabei eine gezielte Steuerung von Körperfunktionen von außen dar; sie ist nicht mit der unspezifischen Aufnahme von Nährstoffen über natürliche Nahrungsmittel vergleichbar, bei der der Körper die benötigten Bestandteile selbst identifiziert und modifiziert,

vgl. BVerwG NVwZ 2008, 439 f. m.w.N.

Dass Nikotin pharmakologisch wirkt, kann als wissenschaftlich gesichert angesehen werden und wird auch von der Klägerin nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Denn Nikotin ist ein Stoff, der sich nennenswert auf den Stoffwechsel auswirkt und somit dessen Funktionsbedingungen wirklich beeinflusst,

vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 23. April 2012 aaO. und OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. Juni 2012 - 3 M 129/12 - und die im angefochtenen Bescheid enthaltene ausführliche Darstellung der Wirkungsweise von Nikotin.

Nikotin ist nicht nur im Allgemeinen ein Stoff, der geeignet ist, die physiologischen Funktionen auf pharmakologische Weise zu beeinflussen; dies ist auch in der besonderen Weise der Inhalation durch E-Zigaretten der Fall. Die Klägerin macht zwar geltend, dass eine pharmakologische Wirkung des Nikotins deutlich geringer als beim Gebrauch einer herkömmlichen Zigarette sei. Ob diese Behauptung zutreffend ist, kann aber offen bleiben. Denn für die Beurteilung, ob eine nennenswerte pharmakologische Wirkung erzielt wird, ist der bestimmungsgemäße Gebrauch maßgeblich. E-Zigaretten werden als Alternative zum Rauchen von Zigaretten bezeichnet, hinsichtlich der Dosierung werden keine konkreten Vorgaben gemacht. Dies macht deutlich, dass es nicht auf einen Vergleich mit dem Rauch einer Zigarette ankommt, sondern darauf, dass es dem Anwender der E-Zigarette überlassen ist, diese in einem Umfang zu nutzen, dass eine dem Rauchen vergleichbare, den individuellen Bedürfnissen entsprechende übliche und gewohnte Nikotinzufuhr erfolgt. Jedenfalls ergibt sich hieraus nicht, dass bei den von der Klägerin vertriebenen nikotinhaltigen Liquids der Stufe mittel (10 mg) oder hoch (15 mg) die Erheblichkeitsschwelle, die zum Ausschluss aus dem Arzneimittelbegriff auch bei pharmakologischen Wirkungen führen kann,

vgl. BVerwG, NVwZ 2009, 1038 m.w.N., EuGH, Urteil vom 15. November 2007 - C-319/05 -,

unterschritten wird. Damit wird zugleich deutlich, dass die Einordnung als Arzneimittel nicht von vornherein deshalb ausscheidet, weil es lediglich bei einem untypischen Gebrauch der E-Zigarette zu der Aufnahme von relevanten Mengen an Nikotin käme. Darauf, dass zweifelhaft und nicht untersucht sei, ob die gleichen Wirkungen wie bei Zigaretten eintreten, kommt es hingegen nicht an, da deren Rauch zahlreiche andere, im Dampf einer E-Zigarette nicht vorhandene Stoffe enthält. Entscheidend ist allein die nicht zweifelhafte pharmakologische Wirkung von Nikotin. Diesbezüglich bedarf es keines (erneuten) wissenschaftlichen Nachweises der pharmakologischen Wirkung.

Da es jedoch nicht allein auf die pharmakologische Wirkung ankommt, sondern alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen sind, kommt es auch darauf an, zu welchen Zwecken das Mittel geeignet ist, ob es Körperfunktionen regulieren kann. Ist es nur Gift, kann es trotz erheblicher physiologischer Wirkung nicht als Arzneimittel eingestuft werden. Kann es hingegen krankheitsverhütende, -beseitigende oder -lindernde Wirkung, mithin arzneiliche Wirkungen entfalten, kommt es nicht noch zusätzlich darauf an, mit welchen subjektiven Absichten das Mittel genommen wird. Denn im Rahmen des funktionalen Arzneimittelbegriffs des § 2 Abs. 1 2. Alt. AMG ist allein auf objektive Kriterien abzustellen. Anderenfalls würden die für Funktionsarzneimittel maßgeblichen stoffbezogenen Eigenschaften bzw. Wirkungen kein Abgrenzungskriterium mehr darstellen, obwohl gerade diese nach dem Gesetzeswortlaut maßgeblich sein sollen und nicht der mit der Einnahme vom Anwender verfolgte Zweck. Setzte man für die Einnahme bzw. Anwendung des Mittels eine therapeutische Absicht voraus,

so OVG NRW aaO.

handelte sich bei einem Funktionsarzneimittel lediglich um einen Unterfall des Präsentationsarzneimittels, da die Deklaration eines Stoffes als Arzneimittel immer vorausgesetzt wird, wenn er zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden soll. Ein solches Normverständnis, bei dem man allein mit dem Begriff des Präsentationsarzneimittels auskäme, wird dem Umstand, dass das Gesetz durch zwei selbständige Arzneimittelbegriffe geprägt wird, nicht gerecht. Ein allein auf die subjektive Zweckbestimmung bezogenes Normverständnis liefe dem Schutzzweck des Arzneimittelgesetzes zuwider, denn es würden arzneilich wirksame Mittel nicht erfasst, die ohne Angabe einer therapeutischen Zweckbestimmung in Verkehr gebracht werden. Daher rechtfertigt die objektive Eignung eines Mittels für den Einsatz zu Therapiezwecken die Einordnung als Funktionsarzneimittel, unabhängig davon, ob es nach dem Willen des Herstellers oder Vertreibers dazu bestimmt ist.

Die nikotinhaltigen Liquids, deren Verkauf der Klägerin untersagt wurde, erfüllen diese Voraussetzungen. Um eine Folgewirkung außerhalb der arzneimittelrechtlich relevanten Wirkungen handelt es sich bei der Wirkung des Nikotins gerade nicht, da dieser Stoff durchaus objektiv geeignet ist, zu arzneilichen Zwecken verwendet zu werden. So können die Liquids zur Minderung von Entzugssymptomen bei Nikotinsucht angewendet und damit im Sinne einer Substitution von Zigaretten, die weitere den Körper belastende Stoffe enthalten, krankhafte Beschwerden gelindert und somit positiv beeinflusst werden.

Im Übrigen ist aber nicht zweifelhaft, dass die vom Konsumenten als angenehm empfundenen pharmakologischen Wirkungen des Nikotin beabsichtigt ausgelöst werden. Selbst starke Raucher sollen auf die elektrische Zigarette umsteigen können, weil sie dabei die benötigte Menge an Nikotin erhielten. Dies macht deutlich, dass gerade die zielgerichtete Beeinflussung physiologischer Funktionen beabsichtigt ist. Die E-Zigaretten werden nicht nur wegen des Geschmacks verwendet, vielmehr soll das Verlangen des Verwenders nach Nikotin befriedigt und die vom Nikotinkonsum ausgehende nervenberuhigende und gleichzeitig gehirnanregende Wirkung erzielt werden. Insoweit liegt also eine Zweckbeziehung im Sinne des § 2 Abs. 1 2. Alt. AMG ("um...zu beeinflussen") vor.

Auch aus dem Umstand, dass mit dem Konsum normaler Zigaretten ganz erhebliche Gesundheitsgefahren verbunden sind, diese aber keine Arzneimittel sind, kann nicht geschlossen werden, dass auch E-Zigaretten keine Arzneimittel sein können. Denn Tabakerzeugnisse i.S.v. § 3 des vorläufigen Tabakgesetzes sind aufgrund der ausdrücklichen Regelung des § 2 Abs. 3 Nr. 3 AMG keine Arzneimittel; diese Ausnahmeregelung legt vielmehr nahe, dass für Tabakerzeugnisse sonst grundsätzlich eine Einstufung als Arzneimittel in Betracht käme, anderenfalls bedürfte einer solchen Regelung nicht.

Handelt es sich somit bei den nikotinhaltigen Liquids für E-Zigaretten um Arzneimittel, dann kommt es nach der sog. Zweifelsfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG nicht darauf an, ob diese zugleich unter die Begriffsbestimmungen eines Erzeugnisses nach Abs. 3 fallen; daher ist es nicht von Belang, ob es sich bei die streitigen Liquids zugleich um ein den Lebensmitteln zuzuordnendes Genussmittel handelt.

Auch die in der angefochtenen Verfügung enthaltene Zwangsgeldandrohung begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 55, 57, 60 und 63 VwVG NRW. Das angedrohte Zwangsgeld, das der Durchsetzung der Aufforderung zu Ziffer 1) in der Ordnungsverfügung dienen soll, ist angesichts der Bedeutung dieser Verfügung für die Arzneimittelsicherheit auch der Höhe nach nicht unangemessen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Zulassung der Berufung ist nach § 124a, 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO erfolgt.