VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.12.1992 - 8 S 2717/92
Fundstelle
openJur 2013, 8492
  • Rkr:

1. Eine unselbständige Anschlußbeschwerde setzt eine Beschwerde voraus, mit der ein anderer Beteiligter eine Abänderung einer Entscheidung zuungunsten des Anschlußbeschwerdeführers erstrebt. Die Anschlußbeschwerde muß sich gegen das vom Beschwerdeführer erstrebte Ziel richten.

Gründe

Die Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen sind zulässig und begründet. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts liegen die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 24.4.1992 nicht vor. Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat der Auffassung, daß bei der im Rahmen von § 80 a Abs. 3 in Verbindung mit § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Abwägung der widerstreitenden Belange dem Interesse der Beigeladenen, von der erteilten Baugenehmigung sofort Gebrauch machen zu können, der Vorrang einzuräumen ist, gegenüber dem Interesse der Antragstellerin an der Erhaltung des bestehenden Zustands bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den gegen die Baugenehmigung eingelegten Widerspruch. Bereits bei der im Rahmen des Aussetzungsverfahrens allein stattfindenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage läßt sich mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, daß der Widerspruch und eine eventuell nachfolgende Anfechtungsklage der Antragstellerin letztlich erfolglos bleiben werden, weil die Baugenehmigung vom 24.4.1992 sie nicht in eigenen Nachbarrechten bauplanungs- oder bauordnungsrechtlicher Art verletzt.

Im Rahmen des vorliegenden summarischen Verfahrens beurteilt der Senat die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen nach der Ortsbausatzung der Beklagten. Entsprechend der langjährigen Rechtsprechung (vgl. u.a. Urteile des Senats vom 18.3.1975 -- VIII 709/73 -- und vom 27.4.1979 -- VIII 1716/77 --) geht der Senat vorbehaltlich der eingehenden Prüfung in den bei ihm anhängigen Berufungsverfahren 8 S 58/92 und 8 S 287/92 von der Gültigkeit der Ortsbausatzung der Beklagten aus (a. A. das nicht rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22.10.1991 -- 6 K 2710/90 --).

Zwar überschreitet das genehmigte Vorhaben die südliche Baulinie, doch dient diese nicht dem Schutz der Antragstellerin als Eigentümerin des westlich angrenzenden Grundstücks. Nach der ständigen Rechtsprechung aller mit Bausachen befaßten Senate des erkennenden Gerichtshofs (vgl. Urt. v. 12.6.1991 -- 5 S 2433/90 --; Beschl. v. 23.7.1991 -- 8 S 1606/91 -- und Beschl. v. 20.1.1992 -- 3 S 2677/91 --) haben Baugrenzen nachbarschützende Wirkung nur gegenüber den an der gleichen Grundstücksseite gelegenen Nachbargrundstücken. Dieser Fall liegt hier nicht vor. Die genehmigte Bebauungstiefe wird durch § 43 Ortsbausatzung gedeckt.

Deshalb kommt zugunsten der Antragstellerin als nachbarschützende Norm nur das in § 31 Abs. 2 BauGB und § 15 BauNVO enthaltene Gebot der Rücksichtnahme in Betracht. Dieses hat aber nur dann drittschützende Wirkung, wenn die tatsächlichen Umstände eindeutig ergeben, auf wen Rücksicht zu nehmen ist, und wenn eine besondere rechtliche Schutzwürdigkeit des Betreffenden anzuerkennen ist. Die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, sind gegeneinander abzuwägen.

Vorliegend ergibt diese Abwägung, daß die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens gegenüber der Antragstellerin nicht zu unzumutbaren Beeinträchtigungen führen wird. Dies gilt auch soweit sich das genehmigte Vorhaben im Erdgeschoß um 2,50 m weiter nach Norden erstreckt als das bestehende Gebäude der Antragstellerin. Zwar wird die Belichtung eines Aufenthaltsraums über das östliche Erdgeschoßfenster im Gebäude der Antragstellerin durch eine Erweiterung des Gebäudes des Beigeladenen nach Norden eingeschränkt, doch erreicht diese Einschränkung unter Berücksichtigung des Abstands des Fensters zur Grenzwand und der Himmelsrichtung der Erweiterung nicht den Grad der Unzumutbarkeit. Gleiches gilt für den Vorbau der Garage in südlicher Richtung. Dabei handelt es sich um eine Garage, die nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 LBO ohne Einhaltung einer Abstandsfläche zulässig ist. Außerdem ist die Garage niedriger als die Unterkante der Erdgeschoßfenster im Gebäude der Antragstellerin.

Das Vorhaben der Beigeladenen verstößt auch nicht gegen die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften. Eine Abstandsfläche ist nach § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LBO nicht erforderlich, da nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muß. Soweit sich Doppelhäuser oder Hausgruppen innerhalb der nach Planungsrecht zulässigen überbaubaren Grundstücksfläche halten, muß grundsätzlich auch bei einer nachträglichen Erweiterung an die Grenze gebaut werden. Die Ausnutzung der planungsrechtlich zulässigen überbaubaren Grundstücksfläche (Bebauungstiefe) auch an der seitlichen Grundstücksgrenze erfordert grundsätzlich nicht eine gemeinsame Erweiterung der Gebäude durch alle Eigentümer. Die planungsrechtliche Zulässigkeit der Grenzbebauung geht den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften, wie § 6 Abs. 1 S. 2 LBO zeigt, vor (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 18.11.1986 -- 3 S 2511/86 --). Die zulässige Bebauungstiefe ergibt sich vorliegend aus § 43 Abs. 3 in Verb. mit § 25 Abs. 1 Ortsbausatzung der Beklagten.

Wenn die Ortsbausatzung der Beklagten nichtig wäre, müßte zwar nach § 6 Abs. 1 S. 1 LBO grundsätzlich mit dem nördlichen Vorbau eine Abstandsfläche eingehalten werden, doch könnte die Antragsgegnerin gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 2 LBO auch eine Bebauung bis zur Grenze zulassen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor. Dies gilt umso mehr, als die Nutzung des Daches des nördlichen Vorbaus als Garage im Grenzbereich nicht zugelassen worden ist. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen zum Gebot der Rücksichtnahme Bezug genommen werden. Die Antragsgegnerin oder die Widerspruchsbehörde könnten jederzeit eine entsprechende Ausnahme nachschieben.

Die Anschlußbeschwerde der Antragstellerin ist unzulässig. Der Beschluß des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24.8.1992 ist den Prozeßbevollmächtigten der Antragstellerin am 14.10.1992 zugestellt worden. Ihre Beschwerde ist am 26.11.1992 und damit nicht innerhalb der Beschwerdefrist von 2 Wochen (vgl. § 147 Abs. 1 VwGO) beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg eingegangen.

Die Beschwerde ist auch nicht als unselbständige Anschlußbeschwerde zulässig. Zwar ist grundsätzlich in entsprechender Anwendung der Vorschriften über die Anschlußberufung (vgl. § 127 VwGO) auch eine Anschlußbeschwerde zulässig. Eine unselbständige Anschlußbeschwerde setzt eine Beschwerde voraus, mit der ein anderer Beteiligter eine Abänderung einer Entscheidung zu Ungunsten des Anschlußbeschwerdeführers erstrebt, weil es nur dann gerechtfertigt ist, dem Anschlußbeschwerdeführer das Recht der Beschwerde auch nach Ablauf der Rechtsmittelfrist einzuräumen. Die Anschlußbeschwerde muß sich gegen das vom Beschwerdeführer erstrebte Ziel richten. Die Antragsgegnerin und die Beigeladenen als Beschwerdeführer begehren die Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts nur bezüglich der vom Verwaltungsgericht ausgesprochenen Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 24.4.1992. Die Anschlußbeschwerde der Antragstellerin bezieht sich ausschließlich auf die Abbruchsanordnung des vorhandenen Gebäudes. Diese stellt gegenüber der Baugenehmigung einen anderen Streitgegenstand dar. Somit richtet sich die Anschlußbeschwerde gegen einen Teil des angefochtenen Beschlusses, der nicht Gegenstand des von der Antragsgegnerin und der Beigeladenen anhängig gemachten Beschwerdeverfahrens ist.