LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 16.08.2012 - L 3 U 123/10
Fundstelle
openJur 2012, 128869
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 25. März 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) - Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können -.

Der 1958 geborene Kläger erlernte ab dem 01. September 1973 den Beruf des Facharbeiters für Eisenbahnbau – Spezialisierung Gleisbau –. Im Anschluss an die Ausbildung arbeitete er bei der Deutschen Reichsbahn bzw. der Deutschen Bahn. Bis circa Dezember 1979 war er mit Gleisbauarbeiten beschäftigt. Ab etwa Januar 1980 bis circa Januar 1986 war er als Gleisbauarbeiter, SKL-Fahrer, Arbeitszugführer und Sicherungsposten eingesetzt. Von Januar 1997 bis Mai 2001 arbeitete er als Haus- und Hofarbeiter, wobei er zumindest bis Mitte 2000 auch im Gleisbau eingesetzt war. Von Juni 2001 bis zum 31. März 2005 wurde er neben seiner Tätigkeit als Haus- und Hofarbeiter im Rahmen der Rufbereitschaft auch als Gleisbauer eingesetzt. Ab dem 01. April 2005 war er von der Arbeitsleistung freigestellt, seit dem 01. August 2005 bezieht er Rente wegen voller Erwerbsminderung. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt (Bescheid vom 19. April 2001).

Etwa 1985/1986 stellten sich bei dem Kläger in Zusammenhang mit seiner Arbeit erstmalig behandlungsbedürftige Beschwerden im unteren LWS-Bereich mit einem nach rechts abstrahlendem Schmerzcharakter ein. Diese Beschwerden wurden mit konservativen Therapien, Spritzen und Tabletten behandelt. Der Kläger war wiederholt wegen LWS-Beschwerden arbeitsunfähig. 1996 stellten sich zunehmende ischialgieforme Schmerzen im Bereich des rechten Beines mit zusätzlich auftretendem Taubheitsgefühl von der rechten Gesäßhälfte bis zum rechten Fuß ziehend ein. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten einen Bandscheibensequester L5/S1 rechts. Am 06. September 1996 wurde im E Krankenhaus L eine Nucleotomie in Höhe L 5/S1 rechts mit Anschlussheilbehandlung im Reha-Zentrum S (01. bis 29. Oktober 1996) durchgeführt. Der Kläger war nach Aktenlage vom 29. Juli 1996 bis zum 25. Januar 1997 arbeitsunfähig. Ab 2001 traten erneut verstärkte LWS-Beschwerden mit ischialgieformen Schmerzen bei dem Kläger auf. Ein Rezidivprolaps wurde mittels Computertomografie ausgeschlossen.

Im Oktober 2001 zeigte der Hausarzt des Klägers Dr. B der Beklagten wegen LWS-Beschwerden und Bandscheibenschaden den Verdacht einer BK an. Die Beklagte leitete das Feststellungsverfahren ein und zog vom Hausarzt des Klägers und vom Gesundheitsservice der D B die vorliegenden medizinischen und bahnärztlichen Untersuchungsbefunde bei. Sodann veranlasste die Beklagte Ermittlungen ihres Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) zur Belastungsexposition während der beruflichen Tätigkeit des Klägers. In seiner Stellungnahme vom 16. August 2002 ermittelte der TAD nach Rücksprache mit dem Kläger und Auswertung der Verwaltungsakte, dass bezüglich des Zeitraumes vom 01. September 1973 bis zum 16. August 2002 der Grenzwert der kritischen Lebensbelastungsdosis nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) i. H. v. 25 MNh nicht erreicht werde. Nach Einholung einer Stellungnahme des Gewerbearztes lehnte die Beklagte gestützt auf die Stellungnahme ihres TAD hieraufhin mit Bescheid vom 12. November 2002 die Anerkennung einer BK 2108 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. April 2003 zurück.

Mit seiner am 20. Mai 2003 beim Sozialgericht Potsdam (SG) eingegangenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt und insbesondere zu den Belastungen im Rahmen einer BK 2108 und der Dauer des Einwirkungszeitraumes vorgetragen.

Nach ergänzendem Vortrag des Klägers hat die Beklagte Stellungnahmen ihres TAD vom 05. September 2003, 18. Juli 2007 (Lebensbelastungsdosis des Klägers bezogen auf den Zeitraum vom 01. September 1973 bis ca. Januar 1997: 13,9 MNh), 23. Juli 2008 (Lebensbelastungsdosis des Klägers bezogen auf den Zeitraum vom 01. September 1973 bis zum April 2005 unter Berücksichtigung der betriebsärztlich festgestellten Untauglichkeit für Gleisbauarbeiten ab Mai 2001: 14,4 MNh) und 03. April 2009 (Lebensbelastungsdosis für den Zeitraum vom 01. September 1973 bis Mai 2005 unter Zugrundelegung der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts <BSG>: 18,2 MNh = 72,8 % des Orientierungswertes von 25 MNh) zum Verfahren gereicht.

Das SG hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. W. In seinem nach körperlicher Untersuchung und Begutachtung des Klägers am 17. September 2009 sowie nach Auswertung von am Untersuchungstag gefertigten Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule in zwei Ebenen und von CT-Aufnahmen der LWS aus dem Jahr 2001 Gutachten vom 18. September 2009 ist der Sachverständige unter Zugrundelegung der Medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der LWS (Konsensempfehlungen) zu der Feststellung gelangt, dass die beim Kläger bestehende monosegmentale Bandscheibendegeneration bei L5/S1 (Zustand nach Nucleotomie L5/S1 und Osteochondrose) mit rezidivierendem Wurzelreizsyndrom nicht nachweislich und mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die berufliche Tätigkeit des Klägers zurückzuführen sei. Es liege eine Fallkonstellation B2 nach den Konsensempfehlungen vor. Anhaltspunkte für eine Konstellation B3 lägen nicht vor. Die oberhalb von L5/S1 liegenden Segmente der LWS seien nicht höhengemindert, wiesen keine altersüberschreitenden, subchondralen Sklerosierungen oder abnorme osteophytäre Ausziehungen auf. So genannte Black-Disc-Phänomene (Aushöhlungen der Bandscheibe) an mindestens zwei an das betroffene Segment L5/S1 angrenzenden Segmenten seien anhand der CT-Aufnahmen auszuschließen. Auch hätten nach den vom TAD getroffenen Feststellungen keine besonders intensive Belastung und kein besonderes Gefährdungspotential vorgelegen. Die für die Brustwirbelsäule (BWS) und Halswirbelsäule (HWS) erhobenen Befunde wiesen vielmehr darauf hin, dass eine anlagebedingte Erkrankung des Achsorgans auf die Schadensentwicklung eingewirkt habe. Bei dem Kläger bestehe eine Spondylitis hyperostotica, welche Folge genetischer Disposition sei. Die gesamte BWS sei von ausgeprägten ventralen osteophytären Ausziehungen befallen. Bis an die obere LWS heran zeigten sich knöcherne Spangen, welche die einzelnen Bandscheibenfächer überbrückten und zu einer inneren Versteifung führten. Auf der HWS zeigten sich diese Veränderungen in geringerer Ausprägung. Insgesamt sei die Befundausbreitung an der HWS und vor allem der BWS wesentlich höhergradiger als an der LWS, wo lediglich ein Segment betroffen sei. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 21. März 2010 hat der Sachverständige seine Beurteilung aufrecht erhalten.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 25. März 2010 abgewiesen. Zwar sei der maßgebliche Orientierungswert nach dem durch das BSG modifizierten MDD i. H. v. 12,5 MNh hier bei einer vom TAD ermittelten Lebensbelastungsdosis von 18,2 MNh überschritten, es fehle hier jedoch unter Zugrundelegung der auch nach der Rechtsprechung des BSG maßgeblichen Konsensempfehlungen an den medizinischen Voraussetzungen für die Feststellung einer BK 2108. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. W-R handele es sich hier um einen monosegmentalen Bandscheibenschaden bei L5/S1, der der Fallkonstellation B2 der Konsensempfehlungen zuzuordnen sei, da keine Begleitspondylose vorliegen. Die Ergänzungskriterien der Fallkonstellation B3 lägen nicht vor. Darüber hinaus bestehe eine konkurrierende Ursache i. Form einer Spondylitis hyperostotica, die Folge einer genetischen Disposition sei.

Gegen das am 02. Juni 2010 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. Juni 2010 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) eingegangene Berufung des Klägers, mit der er geltend macht, auch die Veränderungen im Bereich der BWS seien berufsbedingt. Darüber hinaus seien auch monosegmentale Bandscheibenschäden im Rahmen der BK 2108 anzuerkennen, so genannte belastungsadaptive Reaktionen seien nicht zu fordern. Er hat seine SVA in Kopie zu den Akten gereicht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 25. März 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2003 aufzuheben und festzustellen, dass bei ihm eine BK nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat eine Gesamtleistungsauskunft der Bahn-BKK/Ost vom 02. September 2010 eingeholt sowie die Schwerbehindertenakte des Klägers vom Landesamt für Soziales und Versorgung und die Rentenakte von der DRV KBS beigezogen. Auszüge aus der Schwerbehindertenakte sind in den Rechtsstreit eingeführt worden. Ferner hat das Gericht aus der Gesundheitsakte des Klägers bei der DB N AG u. a. die Befunde der Tauglichkeitsuntersuchungen/-feststellungen, die Meldungen von Arbeitsunfällen bzw. BKen, den Befund der Einstellungsuntersuchung sowie die Qualifikationsnachweise angefordert und in den Rechtsstreit eingeführt.

Danach hat der Senat den Radiologen Prof. Dr. M mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens betraut. In dem am 17. November 2010 unter Mitarbeit von Frau Dr. R fertig gestellten Gutachten ist dieser nach Erstellung aktueller MRT-Aufnahmen der gesamten Wirbelsäule am 20. Oktober 2010 zu dem Ergebnis gelangt, aktuell bestünden im Segment L5/S1 eine Chondrose Grad III sowie Retrophyten Grad 2, die als altersuntypisch zu werten seien. Der Befund sei kombiniert mit Sklerosen im Bereich der Wirbelkörperabschlussplatten, die ebenfalls als altersuntypisch anzusehen seien und deutlichen spondylophytären Anbauten mit Zeichen der Überbrückung sowie einer schweren hypertrophen Spondylarthrose der beiden Facettenglenke L5/S1. In den übrigen Segmenten der LWS bestünden keine altersuntypischen Höhenminderungen der Zwischenwirbelräume, keine dorsale Bandscheibenvorwölbungen und auch keine Black Discs. Auffällig sei eine deutliche Spondylarthrose in den Segmenten L2/3, L3/4, L4/5 und L5/S1 (Grad II). In den Segmenten der mittleren und unteren BWS zeigten sich Signalminderungen der Bandscheiben i. S. e. Black Disc, jedoch keine altersuntypische Degeneration oder Bandscheibenvorfälle. Auffällig seien ausgeprägte ventrale und ventrolaterale spondylophytäre Anbauten. Bei nachweisbarer Signalminderung aller Bandscheiben in den Segmenten C2 bis C7 in der T2-Wichtung zeigten sich im Bereich der HWS keine Bandscheibenvorwölbungen oder –vorfalle; Höhenminderungen der Zwischenwirbelräume lägen nicht vor. In den Segmenten C4/5, C5/6 und C6/7 bestünden vorwiegend ventrale und geringe dorsale spondylophytäre Anbauten, die über das Altersmaß hinausgingen. Insgesamt seien die beschriebenen ventralen und ventrolateralen spondylophytären Anbauten im Rahmen einer Spondylosis hyperostotica (Morbus Forestier) zu werten. Es sei mit Sicherheit von einer anlagebedingten Erkrankung des Achsorgans auszugehen, die auf die Schadensentwicklung eingewirkt habe. Insgesamt liege somit im Segment L5/S1 ein altersüberschreitender Bandscheibenschaden vor. In den übrigen Segmenten der LWS könnten altersuntypische Bandscheibenveränderungen ausgeschlossen werden. Ein monosegmentaler Bandscheibenvorfall ohne Begleitspondylose sei nach den Konsensempfehlungen nicht für eine Anerkennung als berufsbedingter Schaden geeignet (Fallkonstellation B10).

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein weiteres Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. H eingeholt. In dem im September 2011 fertig gestellten Gutachten ist dieser zu dem Schluss gelangt, bei dem Kläger bestünden auf seinem Fachgebiet folgende Gesundheitsstörungen:

·Chronisches lumbales Pseudoradikulärsyndrom rechts bei Zustand nach Nucleotomie und resultierendem Segmentaufbrauchschaden mit schwerer Osteochondrose L5/S1, beginnender Anschlussdegeneration des Segmentes L4/5 sowie relativer lumbaler Spinalkanalenge L3/4 bei hypertropher Facettengelenkarthrose der mittleren LWS·Spondylosis hyperostotica der HWS und BWS·Chronisches subakromiales Schmerzsyndrom rechtes Schultergelenk bei Rotatorenmanschettenläsion und subakromialer Stenose sowie Akromioklavikulargelenkarthrose rechtes Schultergelenk·Initiale Coxarthrose beidseits·Degenerative Meniskopathie sowie laterale Bandinstabilität rechtes Kniegelenk.Er stimme im Wesentlichen der Beurteilung durch den Vorgutachter Dr. W-R zu. Es handele sich um eine monosegmentale, fortgeschrittene bandscheibenbedingte Erkrankung des Segmentes L5/S1, wobei nachweislich seit September 1996, aber wahrscheinlich auch schon zuvor, auch ein chronisches, mit den morphologischen Veränderungen korrelierendes klinisches Beschwerdebild vorliege. Ein ursächlicher Zusammenhang der Bandscheibenerkrankung des Klägers mit seiner beruflichen Tätigkeit sei denkbar, aber aufgrund des Gesamtschadensbildes des Achsorgans unwahrscheinlich. Es liege eine Fallkonstellation B10 nach den Konsensempfehlungen vor.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 14. Oktober 2011 und 25. Oktober 2011 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erklärt.

Zum übrigen Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten, die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten sowie rückverfilmte Rentenakte der DRV KBS (VSNR 38 280458 W 035), die dem Senat vorlagen und Gegenstand der Beratung waren.

Gründe

Die mit der Berufung verfolgte kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage § 54 Abs. 1 Satz 1 und§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG)ist zulässig. Die Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist aber unbegründet. Das Urteil des SG vom 25. März 2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 12. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2003 2007 sind im Ergebnis nicht zu beanstanden. Wie das SG zutreffend festgestellt hat, liegt bei dem Kläger keine BK 2108 vor.

Als Versicherungsfall gilt nach § 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII erleidet (§ 9 Abs. 1 SGB VII). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann BKen auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen.

Gemäß diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf. bei einzelnen Listen-BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung“, „Einwirkungen“ und „Krankheit“ müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG in SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 und SozR 4-2700 § 8 Nr. 17) Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.).

Von Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV werden „bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können“, erfasst.

Nach dem Tatbestand der BK 2108 muss also der Versicherte aufgrund einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben. Durch die spezifischen, der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden besonderen Einwirkungen muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine BK 2108 nicht vor (vgl. Urteil des BSG vom 30. Oktober 2007 – B 2 U 4/06 R -, inSozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 5 sowie Urteile vom 18. November 2008 - B 2 U 14/07 R – und – B 2 U 14/08 R – jeweils zitiert nach Juris) und ist nicht anzuerkennen.

Der Kläger erfüllt zunächst die so genannten arbeitstechnischen Voraussetzungen, d. h. die im Sinne der BK 2108 erforderlichen Einwirkungen durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw. Arbeit in Rumpfbeugehaltung. Dies ergibt sich aus den vorliegenden Berechnungen des TAD der Beklagten nach dem MDD (vgl. dazu die grundlegende Veröffentlichung von Jäger u. a., ASUMed 1999, 101 ff., 112 ff.). Das MDD legt selber für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die auf Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen. Von diesem Verständnis geht auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur BK 2108 aus, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist (BArbBl 2006, Heft 10 S. 30 ff.) Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden; umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von vornherein aus (vgl. BSG Urteile vom 30. Oktober 2007 a. a. O. sowie vom 18. November 2008 a. a. O.).

Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der die Wirbelsäule belastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (vgl. BSG Urteile vom 30. Oktober 2007 a. a. O. sowie vom 18. November 2008 a. a. O.).

Das BSG hat daher in seinen Entscheidungen vom 30. November 2008 – B 2 U 14/07 R und B 2 U 14/08 R - Modifizierungen zur Anwendung des MDD für notwendig erachtet. Danach ist die dem MDD zu Grunde liegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang bei Männern nurmehr mit dem Wert 2.700 N pro Arbeitsvorgang anzusetzen. Auf eine Mindesttagesdosis ist nach dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von 2.700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen Ansatz (Kraft mal Kraft mal Zeit) zu berechnen und aufzuaddieren. Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist zumindest bei Männern auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh, also auf 12,5 MNh, herabzusetzen. Ausweislich der Stellungnahme des TAD der Beklagten vom 03. April 2009 war der Kläger in dem relevanten Beschäftigungszeitraum vom 01. September 1973 bis zum 30. April 2005 insgesamt einer Belastungsdosis von 18,2 MNh ausgesetzt.

Der Feststellungsanspruch scheitert jedoch an den medizinischen Voraussetzungen. Nach den überzeugenden Feststellungen des im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Orthopäden Dr. W-R in seinem Gutachten vom 18. September 2009 und sowie nach denjenigen des im Berufungsverfahren gehörten Prof. Dr. M vom 17. November 2010 sind die medizinischen Voraussetzungen zur Anerkennung der BK 2108 letztlich nicht erfüllt.

In der medizinischen Wissenschaft ist anerkannt, dass Bandscheibenschäden und Bandscheibenvorfälle insbesondere der unteren LWS in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vorkommen. Sie sind von multifaktorieller Ätiologie. Da diese Bandscheibenerkrankungen ebenso in Berufsgruppen vorkommen, die während ihres Arbeitslebens keiner schweren körperlichen Belastung ausgesetzt waren, genauso wie in solchen, die wie der Kläger auch schwere körperliche Arbeiten geleistet haben, kann allein die Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen im Sinne des MDD die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen Kausalzusammenhanges nicht begründen (vgl. Merkblatt zu der BK 2108 der Anlage 1 zur BKV, BArbBl. 2006, Heft 10 S. 30 ff. ). Im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Beurteilung des Ursachenzusammenhanges bei der BK 2108 war die medizinische Wissenschaft gezwungen, weitere Kriterien zu erarbeiten, die zumindest in ihrer Gesamtschau für oder gegen eine berufliche Verursachung sprechen. Diese sind niedergelegt in den medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der LWS, die als Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung auf Anregung der vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe anzusehen sind (vgl. Trauma und Berufskrankheit Heft 3/2005, Springer Medizin Verlag, S. 211 ff.). Ein neuerer, von den Konsensempfehlungen abweichender Stand der wissenschaftlichen Diskussion zu den bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS ist weder von den Sachverständigen Dr. W-R und Prof. Dr. M aufgezeigt worden noch dem Senat aus anderen Verfahren bekannt. Der Senat geht daher weiterhin davon aus, dass diese nach wie vor den aktuellen Stand der nationalen und internationalen Diskussion zur Verursachung von Bandscheibenerkrankungen der LWS durch körperliche berufliche Belastungen darstellen (vgl. auch BSG, Urteil vom 27. Oktober 2009 – B 2 U 16/08 R -, zitiert nach Juris, und Urteil vom 27. Juni 2006 – B 2 U 13/05 R – in SozR 4-2700 § 9 Nr. 9). Zur Gewährleistung einer im Geltungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung gleichen und gerechten Behandlung aller Versicherten begegnet es daher keinen Bedenken, wenn die befassten Gutachter und die Sozialgerichtsbarkeit diese Konsensempfehlungen anwenden.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK 2108 hier nicht gegeben. Zwar besteht bei dem Kläger nachweislich eine bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen des gesamten Gerichtsverfahrens, insbesondere den Gutachten des Sachverständigen Dr. W-R vom 18. September 2009 sowie dem Gutachten des Prof. Dr. M vom 17. November 2010. Unabdingbare, aber nicht hinreichende Voraussetzung für den Nachweis einer bandscheibenbedingten Erkrankung ist nach den Konsensempfehlungen unter Punkt 1.3 jedoch der bildgebende Nachweis eines altersuntypischen Bandscheibenschadens, d. h. einer Höhenminderung der Bandscheibe (=Chondrose) bzw. eines Bandscheibenvorfalls. Hinzu treten muss eine damit korrelierende klinische Symptomatik. Erforderlich ist ein Krankheitsbild, das über einen längeren Zeitraum andauert, also chronisch oder zumindest chronisch wiederkehrend ist, und das zu Funktionseinschränkungen führt, die eben eine Fortsetzung der genannten Tätigkeit unmöglich machen. Erforderlich sind daher ein bestimmtes radiologisches Bild sowie ein damit korrelierendes klinisches Bild (vgl. das aktuelle Merkblatt zur BK 2108 sowie die Konsensempfehlungen Punkt 1.3).

Als mögliche sekundäre Folge des Bandscheibenschadens können bildgebend darstellbare Veränderungen wie die Spondylose, die Sklerose der Wirbelkörperabschlussplatten, die Retrospondylose, die Spondylarthrose, die degenerative Spondylolisthesis und eine knöcherne Enge des Spinalkanals auftreten. Teilweise können der artige Veränderungen auch unabhängig von einem Bandscheibenschaden auftreten, wie z. B. bei der primären Spondylarthrose, der Spondylarthrose aufgrund eines Hohlkreuzes oder dem anlagebedingt engen Spinalkanal (vgl. die Konsensempfehlungen Punkt 1.3).

Bei den klinischen Krankheitsbildern ist laut Punkt 1.3 der Konsensempfehlungen bzw. Punkt III. des Merkblattes zu unterscheiden:

Typ I: Lokales Lumbalsyndrom, für das folgende Kriterien erfüllt sein sollen:

·Radiologie: altersuntypische Höhenminderung einer oder mehrerer Bandscheiben·Symptom: Schmerz durch Bewegung·Klinik: Segmentbefund mit provozierbarem Schmerz·Funktionell: Entfaltungsstörung der LWS·Muskulär: erhöhter Tonus·Ggf. Pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung.Typ II: Lumbales Wurzelsyndrom, für welches folgende Kriterien erfüllt sein sollen:

·Radiologie: Vorfall oder Chondrose mit Bandscheibenverschmälerung mit Nervenwurzelbedrängung, ggf. in Verbindung mit Retrospondylose, Spondylarthrose, Recessusstenose und/oder Spinalkanalstenose, im Ausnahmefall bei engem Spinalkanal auch Protrusion·Neurologie: Zeichen der Reizung bzw. Schädigung der entsprechenden Nervenwurzel(n) (positives Lasègue-Zeichen, Reflexabweichungen, motorische Störungen, segmentale Sensibilitätsstörungen)Wurzelsyndrome sind in der Regel diagnostisch durch Feststellung von Schmerzausstrahlungen und Sensibilitätsausfällen, Kraftminderungen in wurzelspezifischen Kennmuskeln sowie Reflexausfällen objektivierbar (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. A. 2010, Anm. 8.3.6.6.2 S. 481 f). Typ I und Typ II kommen häufig als Mischformen vor.

Heranzuziehen sind die der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zeitlich nächstliegenden Röntgenbilder (vgl. auch Punkt 1.2 der Konsensempfehlungen) sowie, wenn ein Bandscheibenschaden sich bereits länger davor manifestiert und operativ behandelt wird, die zum Zeitpunkt der (Erst-)Manifestation erstellten Röntgenbilder. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. W-R in seinem Gutachten vom 18. September 2009 lässt sich anhand der CT-Aufnahmen der LWS von 2001 bei dem damals 43-jährigen Kläger eine deutliche Chondrose im Segment L5/S1 nach im September 1996 operiertem Bandscheibenvorfall nachweisen. Dabei handelt es sich laut 1.2 A der Konsensempfehlungen um einen altersuntypischen Bandscheibenschaden, denn danach sind Bandscheibenvorfälle bei unter 65-jährigen immer altersuntypisch. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. M lässt sich anhand der von ihm am 20. Oktober 2010 erstellten MRT-Aufnahmen der Wirbelsäule sowie der CT-Aufnahmen vom 15. April 2010 eine Osteochondrose Grad III im Segment L5/S1 mit möglicher Irritation der L5-Wurzel links nachweisen, so dass auch zu diesem Zeitpunkt ein altersuntypischer Bandscheibenschaden i. S. d. Konsenempfehlungen zu bejahen ist, ebenso wie für das Jahr 1996. Im Bereich der HWS und der BWS zeigten sich hingegen auf den Röntgenbildern vom 17. September 2009, den CT-Aufnahmen vom 15. April 2010 sowie den MRT-Aufnahmen vom 20. Oktober 2010 weder Bandscheibenvorwölbungen oder –vorfälle noch Chondrosen.

Aufgrund der von Dr. W-R am 17. September 2009 erhobenen Befunde sowie der vorliegenden Berichte aus dem Jahr 1996 (Epikrise des E Krankenhauses L vom 16. September 1996, Entlassungsbericht des Reha-Zentrums S vom 04. November 1996, Arztbrief des Chirurgen Dr. K vom 29. August 1996) ist zwar nach den Ausführungen der Sachverständigen das Vorliegen eines mit diesem morphologischen Befund korrelierenden chronischen Erkrankungsbildes i. S. eines lokalen Lumbalsyndroms oder eines lumbalen Wurzelsyndroms nicht zweifelhaft. Letztlich kann dies hier jedoch dahin stehen.

Unter Zugrundelegung der Konsensempfehlungen (Punkt 1.4) handelt es sich im Falle des Klägers bei der ausreichenden beruflichen Belastung (Exposition) um die Konstellation B10, bei welcher sich eine berufsbedingte Entstehung der bandscheibenbedingten Erkrankung nicht annehmen lässt:

·es liegt eine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vor,·es besteht eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung (z. B. ausreichende Exposition muss der Erkrankung vorausgehen; Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nimmt mit der Länge des Zeitraums zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung ab),·die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft L5/S1 und/oder L4/5,·Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall,·wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren (wie z. B. eine relevante Skoliose) liegen vor,·eine Begleitspondylose liegt nicht vor.Eine plausible zeitliche Korrelation zwischen beruflicher Belastung und Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung ist hier zu bejahen. Dabei kommt es nicht darauf an, wann der Kläger erstmals auf den Rücken bezogene Beschwerden geschildert hat, denn diese können genauso muskulär bedingt sein. Entscheidend ist die zeitliche Korrelation zwischen der Erkrankung und der Exposition. Im Falle des Klägers ist diese gegeben, da er bei dokumentierter Erstmanifestation im August 1996 bereits mehr als 20 Jahre lang wirbelsäulenbelastend tätig gewesen war.

Die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft das Segment L5/S1 und hat das Ausmaß eines Vorfalls (1996) sowie einer Chondrose Grad III.

Wesentlicher konkurrierender Ursachenfaktor ist jedoch im konkreten Einzelfall des Klägers (vgl. auch Punkt 2.1.11. letzter Satz des „Resümees“) nach den übereinstimmenden und unmissverständlichen Ausführungen der Sachverständigen Dr. W-R und Prof. Dr. M eine Spondylosis hyperostotica (Morbus Forestier), die die gesamte BWS und größere Teile der HWS befallen hat.

Als Begleitspondylose wird nach den Konsensempfehlungen Punkt 1.4 eine Spondylose in/im nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en) bzw.in/im von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en), die nachgewiesenermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne einer Chondrose oder eines Vorfalls aufgetreten ist, definiert. Um eine positive Indizwirkung für eine berufsbedingte Verursachung zu haben, muss die Begleitspondylose über das Altersmaß (s. Punkt 1.2 der Konsensempfehlungen) hinausgehen und mindestens zwei Segmente betreffen. Bei dem Kläger sind nach der Beurteilung aller Sachverständigen keine Begleitspondylosen in den über L5/S1 gelegenen Segmenten der Lenden- und Brustwirbelsäule nachgewiesen. Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, Begleitspondylosen seien nicht erforderlich, handelt es sich um eine – seine – Meinung. Die Frage ist ganz offensichtlich umstritten (vgl. J. Schürmann in Ludolph, Lehmann, Schürmann, Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, 11. Erg-Lieferung 9/08, III-2.13.2108 S. 13; Mehrtens/Brandenburg, Kommentar zur BKV, Lfg. 2/07, M 2108 6.2.4; Konsensempfehlungen, Anmerkungen zu den nicht im Konsens beurteilten Fallkonstellationen, Anhänge 1 und 2).

Selbst wenn man davon ausginge, dass hier kein konkurrierender Ursachenfaktor vorläge, käme eine Anerkennung einer BK 2108 nicht in Betracht. In diesem Falle wäre nur von einer Konstellation B3 auszugehen, bei welcher sich ebenfalls keine berufsbedingte Entstehung der bandscheibenbedingten Erkrankung annehmen lässt:

·es liegt eine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vor,·es besteht eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung (z. B. ausreichende Exposition muss der Erkrankung vorausgehen; Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nimmt mit der Länge des Zeitraums zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung ab),·die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft L5/S1 und/oder L4/5,·Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall,·wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren (wie z. B. eine relevante Skoliose) liegen nicht vor,·eine Begleitspondylose liegt nicht vor.Bei der Konstellation B3 konnte von der interdisziplinären Arbeitsgruppe kein Konsens erzielt werden. Die Konstellation B3 entspricht der häufigsten Manifestationsform eigenständiger Bandscheibenerkrankungen innerer Ursache an der LWS (vgl. V. Grosser und F. Schröter im Anhang 1 der Anmerkungen zu den nicht im Konsens beurteilten Fallkonstellationen der Konsensempfehlungen). Betroffen sind bei dieser Konstellation lediglich die Segmente L4/5 und/oder L5/S1. Bandscheibenschäden in den übrigen LWS-Segmenten liegen bei dieser Konstellation definitionsgemäß nicht vor. Selbst geringgradige Bandscheibendegenerationen im Sinne einer nur magnetresonanztomograpisch nachweisbaren so genannten „Black Disc“ sind bei dieser Konstellation in keinem der oberhalb L4/5 gelegenen Segmente nachweisbar. Auch eine Begleitspondylose als positives Indiz für eine Auswirkung der beruflichen Belastungen liegt nicht vor. Biomechanische Besonderheiten der beruflichen Einwirkung, welche das Fehlen von Spuren der beruflichen Belastung in den Segmenten der mittleren und oberen LWS plausibel machen könnten, sind bei der Konstellation B3 nicht gegeben. Da sich die biologisch-anatomische Schadensentwicklung zwingend durch dokumentierbare (radiologische) Belege nachweisen lassen muss, fehlt es hier überhaupt am belastungstypischen Schadensbild, da ein altersuntypischer Befund nicht vorliegt (vgl. J. Schürmann in Ludolph, Lehmann, Schürmann, Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, 11. Erg-Lieferung 9/08, III-2.13.2108 S. 13). Epidemiologische Arbeiten, welche nachweisen, dass bei Schadensbildern, die der Konstellation B3 entsprechen, bei beruflich Exponierten im Vergleich zur Normalbevölkerung statistisch eine relevante Risikoerhöhung besteht, existieren nicht (vgl. V. Grosser und F. Schröter a. a. O.). Ein derartiger Nachweis wird gemäß den Ausführungen von V. Grosser und F. Schröter auch durch die Fallkontrollstudie von Seidler et al. nicht geführt. Sie räumten ein, dass in ihrer Studie Patienten mit Chondrose und Spondylose ein höheres berufliches Erkrankungsrisiko aufwiesen als Patienten mit Chondrose ohne zusätzliche Spondylose. Sie machten aber geltend, dass ihre Studie dennoch eine relevante Risikoerhöhung auch für Schadensbilder, welche der Konstellation B3 entsprechen, nachweise. Dies hält einer kritischen methodischen Überprüfung jedoch nicht Stand. Die beruflichen Belastungen wurden in der Studie lediglich durch eine Befragung der Probanden ermittelt. Die in der Studie verwendeten medizinischen Einschlusskriterien erlauben keineDifferenzierung, ob die errechneten Erkrankungsrisiken tatsächlich durch eine berufsbedingte Häufung von Bandscheibenschäden verursacht sind oder ob sie lediglich eine höhere Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung aufgrund einer berufsbedingten Beschwerdeauslösung bei berufsunabhängigentstandenen Bandscheibenschäden widerspiegeln. Im Ergebnis führt dies zu einer erheblichen Überschätzung des Risikos, berufsbedingt Bandscheibenschäden zu entwickeln. In der Studie wird bei Erreichen der Richtdosis nach dem MDD (berechnet ohne Schwellenwert auf der Basis der Befragung der Probanden) eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos auf etwa das 10fache errechnet, wenn man die belastete Gruppe insgesamt betrachtet. Nach den methodisch aussagekräftigsten epidemiologischen Arbeiten ist das relative Risiko, berufsbedingt Bandscheibenschäden zu entwickeln, bei vergleichbaren bzw. eher höheren Belastungen jedoch nur auf etwa das 2fache erhöht.

Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass die interdisziplinäre Arbeitsgruppe hinsichtlich der Grundvoraussetzung „ausreichende berufliche Belastung“ (vgl. Punkt 1.4 der Konsensempfehlungen) von den Maßgaben des – nicht modifizierten – MDD ausgegangen ist. Schon unter Zugrundelegung eines Orientierungswertes zur Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh und einer Mindestdruckkraft von 3.200 N ist in der interdisziplinären Arbeitsgruppe kein Konsens erzielt worden. Bei nunmehr weiter herunter geschraubten Anforderungen, die eine Verschiebung der Lastgewichte weg von „schweren“ Gewichten hin in die Region alltäglicher Gewichte zur Folge hat (vgl. hierzu z. B. das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 25. September 2009 – L 10 U 5965/06 -, in ASR 2009, 177ff), kann erst recht nicht von einem gesicherten aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Konsens zur vorliegenden Konstellation ausgegangen werden. Auf die Begleitspondylose als Abgrenzungskriterium zu nicht beruflich bedingten bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS kann daher nicht verzichtet werden.

Hinweise für das Vorliegen der Fallkonstellation B2 (bei welcher der Ursachenzusammenhang positiv beurteilt wurde) bestehen hingegen nicht. Diese Fallkonstellation ist (die ausreichende Exposition abermals unterstellt) wie folgt definiert:

·gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule,·es besteht eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung (z. B. ausreichende Exposition muss der Erkrankung vorausgehen; Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nimmt mit der Länge des Zeitraums zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung ab),·die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft L5/S1 und/oder L4/5,·Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall,·keine wesentlichen konkurrierenden Ursachenfaktoren,·keine Begleitspondylose sowie·zusätzlich mindestens eines der folgenden Kriterien,oHöhenminderung und/oder Vorfall an mehreren Bandscheiben oder „black disc“ im MRT an mindestens zwei angrenzenden Segmenten,obesonders intensive Belastung; Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren,obesonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen; Anhaltspunkt: Erreichen der Hälfte des MDD-Tagesdosis-Richtwertes durch hohe Belastungsspitzen (Frauen ab 4,5 kN, Männer ab 6 kN).Eine altersuntypische Höhenminderung (Chondrose) fand und findet sich lediglich am Segment L5/S1. Laut dem Gutachten des Prof. Dr. M ergeben sich aus den MRT-Aufnahmen der Lendenwirbelsäule vom 20. Oktober 2010 keine Black Discs im Bereich der LWS. Eine besonders intensive Belastung oder ein besonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen sind angesichts der vorliegenden arbeitstechnischen Erhebungen und der ermittelten (Gesamt-) Belastungsdosis nicht erkennbar und werden vom Kläger auch nicht geltend gemacht.

Letztlich ist wird das Begehren des Klägers auch nicht durch das auf seinen Antrag nach § 109 SGG eingeholte Sachverständigengutachtens des Dr. H vom September 2011 gestützt, denn dieser ist ausdrücklich zu keiner von den Gutachten des Dr. W-R und Prof. Dr. M abweichenden Beurteilung gelangt.

Die Berufung war danach zurückzuweisen.

Die Kosten Entscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

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