FG Münster, Urteil vom 29.08.2012 - 11 K 3406/10 Kg
Fundstelle
openJur 2012, 124862
  • Rkr:
Tenor

Es wird festgestellt, dass die Ablehnung des Antrags vom 12.07.2010 auf Abzweigung des Kindergeldes des Klägers mit Bescheid vom 27.07.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2010 rechtswidrig gewesen ist.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand

Streitig ist, ob die Ablehnung des Antrags auf Abzweigung des Kindergeldes an den Kläger rechtswidrig gewesen ist.

Das Versorgungsamt S stellte für den am 05.01.1977 geborenen Kläger ab dem 02.12.2002 aufgrund einer psychomentalen Behinderung einen Grad der Behinderung von 80 fest. Für die am 14.11.1943 geborene - mit Beschluss vom 12.04.2012 - beigeladene Mutter des Klägers, Frau B, ist mit Schwerbehindertenausweis des Kreises O vom 27.10.2006 ebenfalls ein Grad der Behinderung von 80 festgestellt worden.

Die Beklagte gewährte und gewährt bis heute Kindergeld für den Kläger an die Beigeladene als Kindergeldberechtigte. Die Beigeladene wohnt mit dem Kläger in derselben Wohnung. Die Beklagte überwies das Kindergeld zunächst auf Wunsch der Beigeladenen als der Kindergeldberechtigten auf ein Konto des Klägers.

Mit Schreiben vom 25.04.2010 widerrief die Beigeladene auf Veranlassung der Stadt O, von der sie Sozialleistungen erhielt, die „Abtretung des Kindergeldes“ an den Kläger zum 30.04.2010. Daraufhin bat die Beklagte die Beigeladene, eine Bankverbindung mitzuteilen, auf die das Kindergeld überwiesen werden sollte.

Dieser Aufforderung kam die Beigeladene nach und gab zudem in einer der Beklagten übersandten Erklärung zu den Einkünften und Bezügen des Klägers vom 30.04.2010 - wie auch schon in früheren gegenüber der Beklagten abgegebenen und vom Kläger unterschriebenen Erklärungen - an, ihr Sohn lebe in ihrem Haushalt.

Mit einem bei der Beklagten am 05.05.2010 eingegangenen Schreiben vom 03.05.2010 beantragte der Kläger, das für ihn zu gewährende Kindergeld unmittelbar an ihn zu leisten.

Die Beklagte legte die Ausführungen des Klägers in diesem Schreiben als Antrag auf Abzweigung von (anteiligem) Kindergeld an sich persönlich aus und lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 10.06.2010, dem sie eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung beifügte, ab. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger keinen Einspruch ein.

Mit einem bei der Beklagten am 15.07.2010 eingegangenen Schreiben vom 12.07.2010 beantragte der Kläger vielmehr erneut, das für ihn zu gewährende Kindergeld ab Juli 2010 an ihn abzuzweigen.

Auch diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27.07.2010 ab. Zur Begründung gab sie an, der Kläger lebe im Haushalt eines Kindergeldberechtigten. Durch die Haushaltsaufnahme erhalte er in ausreichender Höhe Unterhalt.

Den hiergegen eingelegten Einspruch des Klägers vom 30.07.2010 (Eingang bei der Beklagten am 03.08.2010) wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 09.08.2010 als unbegründet zurück.

Der Kläger hat daraufhin mit einem am 13.09.2010 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 03.09.2010 Klage erhoben, mit der er begehrt, „festzustellen, dass die Verweigerung rechtswidrig“ gewesen sei.

Er ist der Auffassung, die Beklagte habe seinen Antrag auf Abzweigung von Kindergeld zu Unrecht abgelehnt.

Die Beigeladene, die hinsichtlich des ihn betreffenden Kindergeldes berechtigt sei, sei schwerbehindert und erhalte Grundsicherungsleistungen, auf die das Kindergeld voll angerechnet werde. Das Kindergeld werde für den Lebensunterhalt der Beigeladenen verbraucht. Sie sei nicht leistungsfähig und könne keine Unterhaltsleistungen erbringen.

Ihre Bereitschaft, das Kindergeld an ihn - den Kläger - „abzutreten“, sei von der die Grundsicherungsleistungen gewährenden Behörde als Herbeiführung der Bedürftigkeit gewertet worden. Die Behörde habe deshalb die Beigeladene aufgefordert, die „Abtretung“ zurückzunehmen.

Die Aufgabe des Kindergeldes, einen Familienlastenausgleich zu ermöglichen und seine behinderungsbedingten Mehraufwendungen zu finanzieren, werde im Streitfall nicht erfüllt. Dies zeige, dass die Beklagte keine Ermessensentscheidung getroffen habe.

Entgegen der Annahme des Beklagten sei er nicht in den Haushalt der Beigeladenen aufgenommen. Die Beigeladene und er lebten in einer Wohngemeinschaft erwachsener behinderter Menschen. Die Kosten für den Haushalt und die Wohnungskosten würden zu gleichen Teilen übernommen. Inzwischen sei die schwerbehinderte Beigeladene unter anderem wegen einer Krebserkrankung und massiven Rückenbeschwerden auch auf seine Unterstützung angewiesen, z.B. bei körperlich anstrengenden Haushaltstätigkeiten oder durch Betreuungsleistungen während Krankenhausaufenthalten. Angesichts dessen könne von einer einseitigen Aufnahme in den Haushalt der Beigeladenen und von der von der Beklagten angenommenen Abgeltung ihrer Unterhaltsverpflichtung keine Rede sein, da sich die persönlichen Hilfeleistungen gegeneinander aufwögen.

Der Kläger beantragt sinngemäß

festzustellen, dass die abgelehnte Abzweigung von Kindergeld mit Bescheid vom 27.07.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2010 rechtswidrig gewesen ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 und 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) könne Kindergeld an ein Kind nur abgezweigt werden, wenn der Berechtigte seine gesetzliche Unterhaltspflicht verletze. Kindergeld könne auch abgezweigt werden, wenn der Berechtigte mangels Leistungsfähigkeit gegenüber dem Kind nicht unterhaltsverpflichtet sei oder wenn er mit einem Betrag, der geringer als das auf das Kind entfallende Kindergeld sei, seine Unterhaltspflicht erfülle (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG). Die Abzweigung stehe im Ermessen der Familienkasse.

Im Streitfall scheide eine Abzweigung aus. Die kindergeldberechtigte Beigeladene habe durch die Aufnahme des Klägers in ihren Haushalt Unterhalt in einem Umfang geleistet, der zumindest die Höhe des Kindergeldes erreiche und damit ihre Unterhaltspflicht erfülle.

Mit gerichtlicher Verfügung u. a. vom 18.02.2011 ist der Kläger um Beantwortung von einigen Fragen hinsichtlich seiner - des Klägers - Wohnung bzw. der Wohnung der Beigeladenen gebeten worden.

Mit Schreiben vom 11.05.2011 hat der Kläger mitgeteilt, dass er in einer Wohngemeinschaft mit seiner Mutter, der Beigeladenen, zusammen lebe. Seit dem 01.10.2003 seien sie und er bei der Wohnungsgenossenschaft Mieter mit eigenen Genossenschaftsanteilen. Der Kläger zahle auch selbst die Hälfte der Miete. Die Kosten der Beigeladenen würden durch den Sozialleistungsträger übernommen. Seit 1979 sei die Beigeladene schwerbehindert und erhalte staatliche Unterstützung. Dem Schreiben als Anlage beigefügt war u. a. eine Kopie des Mietvertrages.

Der Kläger ist durch das Gericht weiterhin aufgefordert worden, Nachweise dafür beizubringen, dass die Beigeladene ihren ihm gegenüber bestehenden Unterhaltspflichten nicht - insbesondere auch nicht durch eine Haushaltsaufnahme - nachkomme.

Mit Schreiben vom 14.06.2011 hat der Kläger mitgeteilt, dass die Beigeladene ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkäme, da das ausgezahlte Kindergeld i.H.v. 184 € / Monat auf ihre Grundsicherungsleistungen angerechnet werde und sie damit das Kindergeld für ihre eigene Bestreitung des Lebensunterhaltes benötige. Auch werde kein Unterhalt durch Betreuungsleistungen erbracht, die der Höhe des Kindergeldes entsprächen, da die Kosten für Wohnung und Nebenkosten geteilt würden. Er, der Kläger, könne - seit er in der Werkstatt für behinderte Menschen arbeite - seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Die Beigeladene benötige inzwischen wegen ihrer Behinderung und gesundheitlichen Beeinträchtigung selbst Hilfe.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den wechselseitig geführten Schriftverkehr, die Gerichtsakte und die Kindergeldakte Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die Klage ist zulässig und begründet, da der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt hat, vgl. § 100 Abs. 1 Sätze 1 und 4 FGO.

Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig.

Der Kläger hat im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO) beantragt festzustellen, dass die abgelehnte Abzweigung rechtswidrig gewesen ist. Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO). Die in § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO vorgesehene Entscheidung findet auf Verpflichtungsbegehren entsprechend Anwendung, da diese regelmäßig ein Anfechtungsbegehren mit umfassen (vgl. BFH-Urteil vom 11.04.2006 - VI R 64/02, BStBl II 2006, 642).Eine Fortsetzungsfeststellungsklage kommt wie im Streitfall auch bei einer angestrebten Ermessensentscheidung in Betracht (vgl. Lange in Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, FGO, § 101 FGO Rdnr. 60).

Im Streitfall hat sich das Klagebegehren aufgrund der tatsächlichen monatlich erfolgten Kindergeldzahlungen an die Beigeladene erledigt, da der Kindergeldanspruch dadurch erloschen ist und insoweit eine Abzweigung nicht mehr in Betracht kommen kann (vgl. BFH-Urteil vom 27.10.2011 III R 16/09, BFH/NV 2012, 720).

Die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage erfordert ein berechtigtes Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung, wofür jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art genügt. Die Feststellung muss geeignet sein, in einem dieser Bereiche zu einer Positionsverbesserung des Klägers zu führen (BFH-Urteil vom 27.01.2004 - VII R 54/02, BFH/NV 2004, 797). Es genügt unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie, dass die Beklagte die Auffassung des Gerichts bei künftigen Verfahren respektiert (Gräber/von Groll, FGO, 7. Auflage, § 100 Rdnr. 60). Insbesondere indiziert eine Wiederholungsgefahr ein Feststellungsinteresse. Das ist hier der Fall. Der Kläger hat in rechtlicher Hinsicht ein besonderes Feststellungsinteresse daran, ob die von der Beklagten - unabhängig von dem durch die Auszahlung des Kindergeldes herbeigeführten Erlö-schen des Anspruchs - bei der Prüfung von Abzweigungsanträgen geübte Praxis den Anforderungen an eine rechtmäßige Ermessensausübung genügt.

Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung der Abzweigung des monatlichen Kindergeldes zugunsten des Klägers in Gestalt des Bescheides vom 27.07.2010 und der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2010 war rechtswidrig.

Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes und soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG). Der Zweck des § 74 Abs. 1 EStG liegt darin, das Kindergeld an das Kind oder an eine anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt leistende Person oder Einrichtung auszuzahlen, wenn dem Kindergeldberechtigten kein kindbedingter Aufwand durch den Unterhalt entsteht (vgl. BFH-Urteile vom 23.02.2006 III R 65/04, BStBl II 2008, 753 und vom 17.12.2008 III R 6/07, BStBl II 2009, 926).

Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind selbst ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dies gilt auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG).

Die Beigeladene war gegenüber ihrem Sohn grundsätzlich nach den §§ 1601 ff des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da sich der Kläger nicht selbst unterhalten kann. Dieser Unterhaltspflicht ist die Beigeladene im Sinne von § 74 Abs. 1 S. 1 EStG nicht nachgekommen. Der Unterhaltspflicht nicht nachkommen bedeutet, dass der Kindergeldberechtigte objektiv und dauerhaft für den wesentlichen Unterhalt des Kindes nicht aufkommt. Eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 EStG setzt nicht voraus, dass der Kindergeldberechtigte seine Unterhaltspflicht schuldhaft nicht erfüllt oder gar den Straftatbestand der Unterhaltspflichtverletzung, § 170 des Strafgesetzbuches (StGB) verwirklicht. Auf die Gründe für die Nichterfüllung der Unterhaltspflicht kommt es deshalb im Rahmen des § 74 EStG nicht an (vgl. BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 65/04, BStBl II 2008, 753).

Die Unterhaltspflicht setzt gemäß § 1601 BGB die Verwandtschaft in gerader Linie - wie bei Mutter und Sohn gegeben - voraus. Gemäß § 1602 BGB ist des Weiteren die Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten, also das Unvermögen des Berechtigten, das, was man zum Leben braucht, aus eigenen Kräften und Mitteln zu decken, erforderlich.

Für den Kläger hat das Versorgungsamt S einen Grad der Behinderung von 80 festgestellt. Die Unterhaltsberechtigung ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

Weitere Voraussetzung für das Vorliegen einer Unterhaltspflicht ist jedoch, dass der Unterhaltsverpflichtete auch leistungsfähig i.S.d. § 1603 BGB ist. Danach ist eine Person nicht zum Unterhalt verpflichtet, wenn sie bei Berücksichtigung ihrer sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung ihres eigenen angemessenen Unterhaltes den Unterhalt zu gewähren (vgl. § 1603 Abs. 1 BGB). Vorliegend erhält die Beigeladene selbst Unterstützung durch Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII. Sie ist unstreitig nicht in der Lage, den Kläger durch Barunterhalt zu unterstützen.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Beigeladene auch nicht durch Haushaltsaufnahme des Klägers Ihrer Unterhaltsverpflichtung nachgekommen.

§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG stellt klar, dass im Falle mangelnder Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten das Kindergeld an das Kind gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG ausgezahlt werden kann.

Die Angabe der Beigeladenen in den Erklärungen zu den Einkünften und Bezügen eines über 18 Jahre alten Kindes mit Behinderung (vgl. zB Kindergeldakte Bl. 314), dass der Kläger in ihrem Haushalt lebe, steht der Erfüllung der Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG nicht entgegen. Maßgeblich ist nicht das Leben im Haushalt eines Berechtigten, sondern allein die tatsächliche Gewährung von Unterhalt. Zwar mag die Lebenserfahrung dafür sprechen, dass das Leben des Kindes im Elternhaus in den meisten Fällen mit der Gewährung von freier Unterkunft, Beköstigung und Bekleidung und damit von Unterhalt verbunden ist. Es kann indes dahingestellt bleiben, ob diese Erfahrung gewichtig genug ist, um einen Anscheinsbeweis für die Erfüllung der Unterhaltsverpflichtung in diesen Fällen begründen zu können (vgl. Urteil des FG Köln vom 21.01.2009 14 K 2708/05, EFG 2010, 242). Denn jedenfalls hätte der Kläger diesen Anscheinsbeweis im Streitfall durch seine Darlegungen und vorgelegten Nachweise entkräftet.

Der Kläger hat gegenüber dem Gericht nachgewiesen, dass er den hälftigen Anteil der Miete und der Betriebskosten für die Wohnung selbst trägt. Seit dem 01.01.2003 hält der Kläger eigene Genossenschaftsanteile an der Wohnungsgenossenschaft im Kreis O und ist Mieter der Wohnung. Die Gebühr für das Kabelfernsehen und Internetanschluss übernimmt er zu 100 %. Aufgrund der eigenen Erkrankung der Beigeladenen ist diese auch nicht in der Lage, eigene Betreuungsleistungen zu erbringen. Nach dem unbestrittenen Vortrag ist es ihr nicht möglich, Einkäufe zu erledigen, Mahlzeiten zuzubereiten und Wäsche zu waschen oder zu bügeln. Der Kläger erhält darüber hinaus das Mittagessen in der Werkstatt gestellt. Eine Unterhaltsgewährung durch die Beigeladene kann in dem gemeinsamen Wohnen somit nicht gesehen werden.

Wie aus dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG „kann“ folgt, handelt es sich bei der Entscheidung über die Abzweigung um eine Ermessensentscheidung (ständige Rechtsprechung, z.B BFH-Urteil vom 25.05.2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171). Ermessensentscheidungen unterliegen einer nach § 102 FGO nur eingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung dahingehend, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

Im Streitfall ist die Entscheidung der Beklagten schon deshalb ermessensfehlerhaft, weil sie kein Ermessen ausgeübt hat. Sie hat vielmehr angenommen, dass schon die bindenden Voraussetzungen für die Abzweigung des Kindergelds an den Kläger nicht erfüllt seien.

Grundsätzlich folgt aus der Ermessensfehlerhaftigkeit der Ablehnung eines begünstigenden Verwaltungsakts, da das Gericht nicht an der Stelle der Behörde Ermessen ausüben darf, nach § 101 Satz 2 FGO lediglich ein Anspruch auf Neubescheidung. Eine Verpflichtung der Behörde zum Erlass des begünstigenden Verwaltungsaktes wäre aber auszusprechen gewesen, wenn das Ermessen in der Weise beschränkt war, dass ein bindender Anspruch auf Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts bestand (Ermessensreduzierung auf Null).

Im Streitfall ist das Ermessen dahingehend auf Null reduziert gewesen, dass die Beklagte nur ermessensfehlerfrei entscheiden konnte, das Kindergeld an den Kläger abzuzweigen. Der Gesetzeszweck der steuerlichen Entlastung der kindergeldberechtigten Beigeladenen greift im Streitfall schon deshalb nicht, weil diese in Ermangelung von Einkünften nicht der Einkommensbesteuerung unterliegt. Eine Familienförderung wird aber durch die Auszahlung an die Beigeladene faktisch nicht bewirkt, weil bei der Beigeladenen das Kindergeld zur Kürzung der Grundsicherungsleistungen geführt hat. Soweit das Kindergeld in Mangelfällen wie dem Streitfall auch für den Kindesunterhalt zur Verfügung stehen soll (BVerfG-Beschluss vom 09.04.2003 1 BvL 1/01, NJW 2003, 2733), wird dies durch die Auszahlung an den Kindergeldberechtigten aufgrund der dadurch bewirkten Kürzung der Grundsicherungsleistungen geradezu vereitelt.

Das Ermessen der Beklagten ist auch deshalb auf Null reduziert gewesen, weil die kindergeldberechtigte Beigeladene selbst den Sachverhalt, der die bindenden Voraussetzung der Abzweigung begründet, bestätigt hat. Damit war ein Interessenkonflikt zwischen Kindergeldberechtigter und Kind und die Gefahr einer nochmaligen Inanspruchnahme durch die Kindergeldberechtigte, die im Rahmen der Ermessensausübung zu Lasten des Kindes zu berücksichtigen sein könnten, nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die Nichterstattungsfähigkeit der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen beruht auf § 139 Abs. 4 FGO. Die Beigeladene hat keine Sachanträge gestellt und damit kein Risiko getragen zu unterliegen und mit Kosten belastet zu werden.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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