Bayerischer VGH, Urteil vom 05.03.2012 - 10 BV 09.2237
Fundstelle
openJur 2012, 121983
  • Rkr:
Tenor

I. Unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 5. Juni 2009 sowie des Bescheids der Beklagten vom 16. Juli 2008 wird die Beklagte verpflichtet, die Wirkungen der Ausweisung des Klägers vom 27. Februar 2003 und seiner Abschiebung vom 4. Juli 2003 mit Wirkung ab Rechtskraft des Urteils zu befristen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am 1. Oktober 1978 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er heiratete am 22. Juli 2002 eine deutsche Staatsangehörige, Frau B., und reiste mit einem Visum zum Familiennachzug am 13. September 2002 in das Bundesgebiet ein. Am 17. September 2002 erteilte ihm die Beklagte eine bis 17. September 2005 gültige Aufenthaltserlaubnis.

Bereits kurze Zeit später kam es zu Streitigkeiten zwischen den Eheleuten, in deren Verlauf der Kläger seine Ehefrau bedrohte und mehrfach massiv körperlich misshandelte. Er drohte zudem, den früheren Ehemann seiner Frau, deren gemeinsame Kinder, seinen Vermieter u.a. umzubringen. Am 23. Februar 2003 versuchte er trotz eines bestehenden Kontaktverbots seine Ehefrau in deren Wohnung aufzusuchen und konnte nur mit Hilfe von acht Polizisten davon abgehalten werden, die Türe einzutreten.

Mit Bescheid vom 27. Februar 2003 wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik aus und untersagte die Wiedereinreise für dauernd. Sie begründete die Ausweisung mit dem Vorliegen von Ausweisungsgründen und dem Fehlen eines besonderen Ausweisungsschutzes nach der inzwischen erfolgten Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen gewichtete die Beklagte die vom Kläger begangenen massiven Körperverletzungen und die aus seinem bisherigen Verhalten resultierende konkrete Wiederholungsgefahr für die Begehung ähnlicher Straftaten schwerer als die privaten Interessen des Klägers, der weder besondere familiäre noch andere soziale Bindungen im Bundesgebiet habe.

Am 8. April 2003 erfolgte die Scheidung der Eheleute. Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 27. Mai 2003 wurde der Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung in drei Fällen und gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen sowie wegen Bedrohung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt. Im Rahmen der Strafzumessung hat das Amtsgericht zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass er strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten und geständig gewesen sei und sich knapp über drei Monate in Untersuchungshaft befunden habe. Zu seinen Lasten wurde gewertet, dass er innerhalb kurzer Zeit immer wieder gegen seine frühere Ehefrau gewalttätig geworden sei und diese erhebliche Verletzungen, sogar solche mit lang andauernden Folgen, davongetragen habe. Da das Amtsgericht davon ausging, dass sich der Angeklagte die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und keine weiteren Straftaten mehr begehen werde, hat es die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt.

Am 4. Juli 2003 wurde der Kläger aus der Abschiebehaft in die Türkei abgeschoben.

Im September 2003 teilte die geschiedene Ehefrau des Klägers der Beklagten erstmals schriftlich mit, dass der Kläger sie aus der Türkei ständig anrufe und sie am Telefon terrorisiere und beschimpfe. Er habe ihr angedroht, wieder in das Bundesgebiet einzureisen und eines Tages vor ihrer Türe zu stehen. Deshalb lebe sie in ständiger Angst. Die Psychologin, bei der die Ehefrau wegen der Eheprobleme mit dem Kläger seit Ende 2002 in therapeutischer Behandlung stand, bestätigte die anhaltenden Belästigungen durch den Kläger. In der Folgezeit berichtete die Ehefrau immer wieder über Beschimpfungen sowie Bedrohungen am Telefon durch den Kläger. Sie wollte zunächst der türkischen Scheidung nicht zustimmen, da sie große Angst davor hatte, dass der Kläger anschließend wieder in das Bundesgebiet kommt. Aufgrund massiver Belästigungen - oft über 20 Telefonate pro Tag durch den Kläger - stimmte die Ehefrau schließlich der Scheidung zu. Am 11. Juli 2006 wurde die Ehe zwischen ihr und dem Kläger auch in der Türkei geschieden.

Am 6. März 2008 heiratete der Kläger in der Türkei die am 22. Oktober 1965 geborene deutsche Staatsangehörige R.

Im April 2008 meldete sich eine Frau V. bei der Beklagten und teilte Folgendes mit: Sie habe seit dem Jahr 2005 eine Beziehung zum Kläger unterhalten, aus der ein im März 2007 geborener Sohn hervorgegangen sei. Sie besitze das alleinige Sorgerecht und habe ihren Sohn gegen den Willen des Vaters taufen lassen. Im Sommer 2007 sei sie in die Türkei gereist, um dem Kläger und dessen Familie den Sohn vorzustellen. Bereits damals sei es zu Differenzen zwischen ihr und dem Kläger gekommen. Sie habe nämlich weder mit ihrem Sohn in die Türkei zum Kläger ziehen noch ihn entsprechend seinem Drängen schnell heiraten wollen. Er habe ihr schon damals damit gedroht, dass er, wenn sie nicht umgehend mit Heiratspapieren in die Türkei komme, eine andere Frau heiraten werde. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland sei sie vom Kläger am Telefon massiv terrorisiert und schließlich sogar mit dem Tode bedroht worden. Wegen der immer noch erfolgenden obszönen Beleidigungen, Beschimpfungen und Drohungen durch den Kläger habe sie Strafantrag gestellt, der jedoch nicht zu einer Verurteilung des Klägers geführt habe.

Am 21. April 2008 beantragte der Kläger die Befristung der Ausweisungswirkungen und trug im Wesentlichen vor, er wolle mit seiner Ehefrau die familiäre Lebensgemeinschaft herstellen und auch seine Rechte als Vater seines Sohnes wahrnehmen. Im Mai 2008 schrieb Frau B. an die Beklagte, sie habe von der Heirat des Klägers erfahren und dies versetze sie in Panik. Trotz langer psychologischer Betreuung habe sie immer noch sehr große Angst vor dem Kläger. Sie bitte, ihr im Falle der Einreisegenehmigung umgehend Nachricht zukommen zu lassen. Frau V. teilte der Beklagten im Mai 2008 mit, dass der Kläger sie weiter mit Telefonaten terrorisiere und übersandte eine Mitschrift seiner Beleidigungen und Drohungen sowie eine CD mit Mitschnitten der Telefonate. Im Juni 2008 wurde Frau R. zum Befristungsantrag befragt. Sie gab an, trotz Kenntnis vom Verhalten des Klägers mit diesem eine Ehe nach den Vorschriften des Islam führen zu wollen und auch bereit zu sein, mit dem Kläger in der Türkei zu leben, falls er keine Einreisegenehmigung erhalte.

Mit Bescheid vom 16. Juli 2008 lehnte die Beklagte die Befristung der Wirkungen der Ausweisungsverfügung vom 27. Februar 2003 sowie der am 4. Juli 2003 durchgeführten Abschiebung ab und begründete dies damit, dass der mit der Ausweisungsverfügung verfolgte sicherheitsrechtliche Zweck in Bezug auf die Prävention von Straf-, insbesondere von Gewalttaten zum jetzigen Zeitpunkt bei Weitem noch nicht erreicht sei. Der Kläger habe nämlich aufgrund der permanenten Beleidigungen und Bedrohungen sowohl der Mutter seines Kindes als auch seiner früheren Ehefrau wiederholt und erneut zu erkennen gegeben, dass er über ein hohes Gewaltpotential verfüge und sich sowohl der deutschen Rechtsordnung als auch rechtmäßig getroffenen Anordnungen deutscher Behörden widersetze. Es sei davon auszugehen, dass er die Ehe mit seiner jetzigen Ehefrau nur dazu benutze, um wieder nach Deutschland einreisen zu können und weitere Gewalttaten zu begehen. Es sei zu befürchten, dass er das gemeinsame Kind entführen werde. Von ihm gehe nach wie vor eine konkrete und entsprechend schwere Gefahr für ein wichtiges Schutzgut aus.

Mit Schriftsatz vom 15. August 2008 ließ der Kläger Klage erheben mit dem Antrag, den Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2008 aufzuheben und die Wirkungen der erlassenen Ausweisungsverfügung und der durchgeführten Abschiebung zu befristen. Ein atpyischer Fall, bei dem eine Befristung nicht in Betracht komme, liege beim Kläger nicht vor. Dieser sei zwar zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden; die Bewährungszeit sei jedoch abgelaufen. Zwischenzeitlich sei wohl auch ein Straferlass erfolgt. Er sei insbesondere nicht als Schwerstkrimineller anzusehen, denn er erfülle weder die Voraussetzungen einer sog. „Ist“-Ausweisung noch einer Regelausweisung. Die Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen sei nicht hinreichend berücksichtigt worden. Auch der Kontakt bzw. der Umgang des Klägers mit seinem Sohn sei von Art. 6 GG geschützt.

Das Verwaltungsgericht München wies die Klage mit Urteil vom 5. Juni 2009 ab und verwies im Wesentlichen auf die Begründung des angefochtenen Bescheides. Darüber hinaus wurde dargelegt, dass die Beklagte auch den in Betracht kommenden Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK zutreffend in die Beurteilung des Falles eingestellt habe. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung zugelassen.

Der Kläger ließ mit Schriftsatz vom 28. August 2009 Berufung einlegen.

Im Berufungsverfahren trägt der Kläger vor, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass bei ihm eine unbefristete Ausweisung geboten sei. Es habe dabei den unterschiedlichen Regelungsgehalt von Ausweisung und Befristung der Wiedereinreisesperre verkannt. Auch habe es dem erheblichen Zeitablauf seit Begehung der Straftaten nicht angemessen Rechnung getragen. Dem Kläger könne auch nicht die zwangsweise Abschiebung aus der Haft entgegengehalten werden. Zu beanstanden sei zudem, dass das Verwaltungsgericht das maßgebliche aggressive Verhalten des Klägers ausschließlich aus den Akten entnommen habe. Es hätte sich vielmehr einen persönlichen Eindruck vom Kläger machen müssen. Das Gericht spreche diesem augenscheinlich ohne nähere Prüfung eine grundlegende Änderung im Verhalten ab. Dieser habe aber in den vergangenen Jahren die Einsicht gewonnen, dass sein damaliges Verhalten falsch gewesen sei und er bedauere dieses sehr. Er habe sich von seinem damaligen Verhalten distanziert und sei in der Lage gewesen, einen Neuanfang mit seiner zweiten Ehefrau zu starten, der gegenüber er stets liebevoll und fürsorglich sei. Unzutreffend sei auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei seinen Verpflichtungen als Vater nicht nachgekommen. Anlässlich des Besuchs seines Sohnes in der Türkei im September 2007 habe er der Kindsmutter Bargeld zum Unterhalt für den Sohn gegeben. Im Januar 2008 habe er 200 Euro an die Kindsmutter überwiesen. Diese habe aber in der Folgezeit eine Unterstützung durch den Kläger entschieden abgelehnt. Des Weiteren sei in der erstinstanzlichen Entscheidung die schützenswerte Ehe des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau nicht hinreichend gewürdigt worden. Der Kläger sei in seinen Rechten verletzt, weil diese Ehe faktisch in Deutschland nicht gelebt werden könne. Dies stelle einen Verstoß gegen Art. 6 GG dar. Sofern die Ausländerbehörde meine, dass vom Kläger derzeit noch eine Gefahr ausgehe, könne diesen Bedenken durch die Wahl des Zeitpunktes und die Bestimmung einzelner Auflagen angemessen Rechnung getragen werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 5. Juni 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisung des Klägers vom 27. Februar 2003 und seiner Abschiebung vom 4. Juli 2003 mit Wirkung ab Rechtskraft des Urteils zu befristen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die mit der Ausweisung verfolgten spezialpräventiven Zwecke das weitere Fernhalten des Klägers vom Bundesgebiet noch erforderten. Entgegen dem Vorbringen des Klägers sei seit der Haftentlassung bzw. seiner Abschiebung keine wirkliche Änderung in seiner Einstellung bzw. in seinem Verhalten eingetreten. Demgegenüber müsse das Interesse seiner Ehefrau auf Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zurückstehen, zumal diese durch die Eheschließung in der Türkei und ihre Konvertierung zum Islam ihre Verbundenheit zum Heimatland des Klägers gezeigt habe und es ihr eher zumutbar sei, die eheliche Lebensgemeinschaft dort zu führen, als es den anderen Betroffenen zumutbar wäre, aus Angst vor dem Kläger in Deutschland „ein Leben im Untergrund“ zu führen oder gar in ein anderes Land zu ziehen. Darüber hinaus habe die Ehefrau des Klägers vor der Eheschließung von dem noch bestehenden Einreiseverbot des Klägers gewusst.

Der Kläger führte später noch Folgendes aus: Seine Verurteilung lediglich zu einer Bewährungsstrafe spreche gegen eine Ausnahme vom Regelfall der Befristung. Auch seien mit seiner Abschiebung sowohl die spezial- als auch die generalpräventiven Ziele erreicht. Eine Bedrohungslage für seine frühere Ehefrau bestehe nicht mehr. Die Belästigungen durch den Kläger seien durch das Verhalten der Exehefrau verursacht worden. Verbale Entgleisungen bei den Telefonaten seien von dieser behauptet worden, seien aber nicht geklärt. Seit seiner Verheiratung hätten auch die Anrufe bei der Mutter seines Sohnes aufgehört. Er habe erkannt, dass er im Umgang mit seinen Mitmenschen in der Vergangenheit Fehler gemacht habe. Zu keinem Zeitpunkt habe er beabsichtigt, eine andere Person zu töten. Soweit er Gelegenheit gehabt habe, habe er die betroffenen Personen um Verzeihung gebeten und sich bei diesen entschuldigt. In Ermangelung einer Wiederholungsgefahr und aufgrund dessen, dass der Kläger bei Wiedereinreise in Deutschland mehr als 400 km entfernt von seiner Exfrau und der Kindsmutter wohnen werde, sei ein atypischer Fall abzulehnen. Auch wenn die Wohlverhaltensphase womöglich zu kurz sei, müsse dem im Befristungsverfahren durch die Bestimmung einer angemessenen Frist Rechnung getragen werden. Die jetzige Ehefrau des Klägers sei sich zwar bewusst gewesen, dass der Kläger nicht gleich nach der Eheschließung nach Deutschland einreisen könne, sie sei jedoch davon ausgegangen, dass eine gemeinsame Zukunft in Deutschland bald möglich sein werde. Sie verbringe jeden Urlaub in der Türkei, könne sich aber ein Leben dort nicht vorstellen. Die türkische Sprache bereite ihr große Probleme. Auch wäre ihr die Ausübung einer Berufstätigkeit nicht mehr möglich. Zudem lebe ihre 70jährige Mutter im Bundesgebiet. Rein vorsorglich werde die Verletzung von Art. 6 GG gerügt. Schließlich sei der Kläger zu keinem Zeitpunkt persönlich angehört worden. Es liege insoweit eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs vor. Gerade bei der vorliegend zu treffenden Entscheidung komme dem persönlichen Eindruck des Betroffenen eine besondere Bedeutung zu.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten, auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der streitgegenständliche Bescheid und das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts waren deshalb aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisung des Klägers und seiner Abschiebung antragsgemäß mit Wirkung ab Rechtskraft des Urteils zu befristen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Verpflichtungsklage des Klägers, mit der er die Aufhebung des ablehnenden Bescheids der Beklagten vom 16. Juli 2008 und die antragsgemäße Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung mit Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 2003 und seiner Abschiebung am 4. Juli 2003 begehrt. Bei dieser Verpflichtungsklage ist hinsichtlich der zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen (st. Rspr. des BVerwG; vgl. Urteile vom 24.1.1995 BVerwGE 97, 301/310 und vom 22.1.2002 BVerwGE 115, 352/354; vgl. auch BayVGH z.B. Urteil vom 25.7.2006 Az. 24 B 05.859 <juris>). Anzuwenden ist deshalb § 11 Abs. 1 AufenthG in der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) geänderten und am 26. November 2011 in Kraft getretenen Fassung.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Der Kläger ist von der Beklagten mit Ausweisungsbescheid vom 27. Februar 2003 bestandskräftig ausgewiesen und am 4. Juli 2003 in sein Heimatland abgeschoben worden. Demzufolge durfte er deshalb nicht mehr in das Bundesgebiet einreisen. Diese sogenannten Sperrwirkungen der Ausweisung und Abschiebung werden aber gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auf Antrag befristet. § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG bestimmt, dass die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen ist und fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Nach Maßgabe dieser Bestimmungen hat der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats einen Anspruch auf Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung und Abschiebung.

25Nach der im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats geltenden Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung zwingend zu befristen. Während in der früheren Fassung dieser Vorschrift eine Befristung „in der Regel“ erfolgen sollte, wurden diese Worte in der Neufassung gestrichen. Der Gesetzgeber hat damit zum Ausdruck gebracht, dass nunmehr auch bei atypischen Ausnahmefällen keine Ausnahme von einer Befristung gegeben sein soll und damit in allen Fällen eine Befristungsentscheidung zu treffen ist. Er ist damit in Umsetzung des Art. 11 der Rückführungsrichtlinie (vgl. die Gesetzesbegründung zu Nr. 9 (§ 11), BT-Drs. 17/5470 S. 21) bewusst vom früheren Regel-Ausnahmesystem abgerückt. Dies führt dazu, dass sich die früher erforderliche Entscheidung der Behörde, ob eine Befristung der Sperrwirkungen erfolgt oder ob ausnahmsweise davon (noch) abgesehen wird, erübrigt. Die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung des Klägers sind daher zwingend zu befristen. Ein Fall des § 11 Abs. 1 Satz 7 AufenthG, wonach eine Befristung (nur dann) nicht erfolgt, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde, liegt beim Kläger nicht vor. Deshalb verbleibt es bei der gesetzlich vorgesehenen Befristung.

Die Frist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beträgt nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG grundsätzlich höchstens fünf Jahre. Dabei betrifft die Regelung in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ebenso wie die Regelung in Satz 3 sowohl die Sperrwirkung hinsichtlich der Ausweisung eines Ausländers als auch die Sperrwirkung hinsichtlich einer Abschiebung. Der Gesetzgeber konkretisiert damit die Regelungen in Art. 11 der mit der Neuregelung umgesetzten Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - Rückführungsrichtlinie - vom 16. Dezember 2008 (Abl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98), der die Dauer eines Einreiseverbotes nach einer Rückkehrentscheidung betrifft, die nach der Definition in Art. 3 der Richtlinie eine behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme ist, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.

§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG bestimmt, dass die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen ist, schreibt aber zugleich vor, dass sie fünf Jahre grundsätzlich nicht überschreiten darf. Daraus folgt, dass auch nach der neuen Regelung - wie schon bisher - eine individuelle Festsetzung der Frist zu erfolgen hat, es einer solchen Festsetzung und einer damit verbundenen Einzelfallprüfung und Abwägung der individuellen Belange des Ausländers mit dem öffentlichen Interesse allerdings nur bedarf, wenn die Befristung der Ausweisungs- bzw. Abschiebungswirkungen für einen Zeitpunkt vor Ablauf der Höchstdauer von fünf Jahren beantragt wird und einer der Ausnahmefälle des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht vorliegt, in denen diese Höchstdauer überschritten werden darf. Beides ist hier nicht der Fall. Die regelmäßig geltende zulässige Höchstfrist von fünf Jahren ist beim Kläger bereits abgelaufen. Der Ausweisungsbescheid datiert vom 27. Februar 2003, die Abschiebung erfolgte am 4. Juli 2003.

Beim Kläger liegt auch keiner der beiden Ausnahmefälle des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vor, in denen die Fünfjahresfrist überschritten werden darf. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.

Der Kläger ist nicht aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden. Der Ausweisungsbescheid vom 27. Februar 2003 erging, nachdem die Beklagte davon Kenntnis erlangt hatte, dass der Kläger anlässlich von Streitigkeiten zwischen ihm und seiner ersten Ehefrau diese bedroht und mehrfach massiv körperlich misshandelt und auch gedroht hatte, den früheren Ehemann seiner ersten Frau, deren gemeinsame Kinder, seinen Vermieter und andere Personen umzubringen. Die Ausweisung war damals im Hinblick auf die vom Kläger nicht nur vereinzelt oder geringfügigen Verstöße gegen Rechtsvorschriften im Ermessenswege nach § 46 Nr. 2 AuslG verfügt worden. Eine strafrechtliche Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht München erfolgte erst am 27. Mai 2003. Zwar ist der Kläger erst nach Erlass des Strafurteils abgeschoben worden, die Ausweisung selbst erfolgte aber gerade nicht, wie in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gefordert, aufgrund seiner Verurteilung. Damit ist insoweit ausschließlich auf den Zeitpunkt des Erlasses und die Begründung des Ausweisungsbescheides abzustellen.

Eine Überschreitung der gesetzlichen Fünfjahresfrist kommt beim Kläger auch nicht aus dem Grund in Betracht, weil von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Für die Gefahrenprognose ist auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist es Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob das Verhalten eines Ausländers unter den Begriff „schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung“ oder „für die öffentliche Sicherheit“ fällt (vgl. z.B. EuGH vom 23.11.2010 Rs. C-145/09 - Tsakouridis - RdNr. 55 <juris>). Dabei kann zur Bestimmung dieses Begriffs auf Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG zurückgegriffen werden (vgl. EuGH vom 8.12.2011 Rs. C-371/08 -Ziebell - RdNr. 79). Danach kommt eine Überschreitung der Fünfjahresfrist nur dann in Betracht, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständige nationale Behörde herausstellt, dass das individuelle Verhalten des Ausländers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren. Die beantragte Befristung darf auch nicht automatisch zum Zwecke der Generalprävention verweigert werden (vgl. EuGH a.a.O. RdNrn. 82 und 83).

Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben liegt beim Kläger kein Sachverhalt vor, bei dem eine ablehnende Befristungsentscheidung ergehen durfte. Der Kläger hat im Zeitraum 2002 bis 2008 erhebliche Straftaten begangen. So hat er zwischen Oktober und Dezember 2002 seine frühere Ehefrau mehrfach massiv geschlagen und sie mit einem schweren Küchenmesser bedroht. Die Ehefrau hat erhebliche Verletzungen davongetragen, insbesondere auch psychische, die teilweise lang andauernde Folgen hatten. Zudem hat der Kläger damals auch mehrere Familienangehörige seiner ersten Ehefrau damit bedroht, dass er sie umbringen und „die ganze Familie auslöschen“ werde. Den Verwaltungsakten zufolge hat er seine frühere Ehefrau noch bis zum Jahr 2006 von der Türkei aus mit Telefonterror überzogen und ihr weiter gedroht. Als sich etwa im Jahr 2007 herausstellte, dass die Mutter seines Sohnes nicht gewillt war, den Kläger zu ehelichen und zu ihm in die Türkei zu ziehen, hat er begonnen, auch diese Frau und deren Eltern einem massiven Telefonterror auszusetzen und Morddrohungen, übelste Beschimpfungen und die Androhung, seinen Sohn zu sich zu nehmen, ausgesprochen. Bis zum Jahr 2008 war danach davon auszugehen, dass vom Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, denn auch ernsthafte Morddrohungen stellen eine derartige Gefahr dar (vgl. VGH BW vom 12.4.1996 Az. 13 S 1027/95 <juris> RdNr. 27).

Eine Prognoseentscheidung zu Lasten des Klägers, nämlich dass davon auszugehen ist, dass er im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch eine (schwerwiegende) Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, weil zu erwarten ist, dass er erneut erhebliche Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen wird, lässt sich derzeit aber nicht treffen. Ob die Beklagte für das Vorliegen derartiger schwerwiegender Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach den allgemeinen Regeln im Verwaltungsprozess die Beweislast trägt, weil in den Fällen, in denen ein Kläger grundsätzlich einen Anspruch auf den beantragten Verwaltungsakt hat - hier einen (grundsätzlichen) Anspruch auf Befristung der Ausweisungs- und Abschiebungswirkungen auf höchstens fünf Jahre - die Behörde - was ihr hier nicht gelungen ist - die Voraussetzungen einer rechtshindernden Ausnahme nachweisen muss, kann hier wegen der vom Gericht zu treffenden Prognoseentscheidung dahinstehen. Für den Kläger spricht, dass er seit Anfang 2008 keinen Kontakt mehr zur Mutter seines Kindes aufgenommen hat und seine Beleidigungen und Bedrohungen dieser gegenüber eingestellt hat. Zu seiner ersten Ehefrau bestand ausweislich der Verwaltungsakten bereits früher kein Kontakt mehr, nachdem diese der Scheidung in der Türkei zugestimmt hatte und der Kläger sein maßgebliches Ziel, nämlich die Zustimmung durch die erste Ehefrau, erreicht hatte. Die Einstellung der Kontakte zu den von ihm bedrohten Personen im Bundesgebiet fällt zeitlich zusammen mit der Eheschließung des Klägers mit seiner jetzigen Ehefrau. Es spricht einiges dafür, dass diese entsprechend auf den Kläger einwirken konnte und der Kläger aufgrund dieser Ehe sein früheres Fehlverhalten überdacht und geändert hat. Hinzu kommt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in das Bundesgebiet zu seiner Ehefrau nach E. ziehen wird und damit mehrere hundert Kilometer entfernt vom Wohnort der früher bedrohten Frauen in M. und K. seinen Aufenthalt nehmen wird. Neue Straftaten des Klägers in der Türkei oder im Wege der Telekommunikation in Deutschland (wie z.B. Beleidigungen oder Bedrohungen über Telefon oder Internet) sind jedenfalls seit nunmehr vier Jahren nicht mehr bekannt geworden.

Weiter hinzu kommt, dass sich der Kläger, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bereit erklärt hat, eine strafbewehrte Unterlassungserklärung dahingehend abzugeben, dass künftig eine Kontaktaufnahme zu seiner ersten Ehefrau vollkommen unterbleibt und ein Kontakt zur Mutter seines Sohnes nur in einem zur möglichen Herstellung eines Umgangs mit dem Sohn erforderlichen Umfang stattfinden wird sowie ein Kontakt mit seinem Sohn nur im Rahmen eines gegebenenfalls gerichtlich festgesetzten Umgangsrechts hergestellt wird. Der Senat geht davon aus, dass der Kläger baldmöglichst eine solche mit einer Strafbewehrung verbundene Erklärung abgeben wird. Auch dieser Gesichtspunkt führt zur Annahme des Senats, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass vom Kläger im jetzigen Zeitpunkt keine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung mehr ausgeht.

Gesichtspunkte, die gegen den Kläger sprechen und aus denen sich ergeben könnte, dass von ihm derzeit noch eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht, sind ansonsten nicht ersichtlich. Die Beklagte hat hierzu auch nichts vorgebracht. Allein der Hinweis darauf, dass sowohl die frühere Ehefrau des Klägers als auch die Mutter seines Sohnes Angst vor ihm haben und bei einer eventuellen Rückkehr des Klägers in das Bundesgebiet befürchten, dass dieser plötzlich „vor ihrer Türe steht“ oder ihnen bzw. dem Sohn andernorts auflauert und gegebenenfalls sogar den Sohn entführt, reicht für die erforderliche Annahme einer schwerwiegenden Gefahr nicht aus. Eine solche liegt insbesondere nicht darin, dass der Kläger nach seiner Rückkehr womöglich Kontakt zu seinem Sohn sucht, den die Kindsmutter zweifelsohne verhindern will. Denn ein auf der Grundlage von Art. 6 GG verfassungsrechtlich garantiertes Recht des Klägers auf Umgang mit seinem Sohn kann nicht dauerhaft durch die Versagung einer Befristung der Ausweisungs- und Abschiebungswirkungen ausgeschlossen werden. Der Kläger kann nicht deshalb mit einem dauernden Einreiseverbot belegt werden, weil ansonsten „die Gefahr“ besteht, dass er die Möglichkeit erhält, gerichtlich ein Umgangsrecht mit seinem Sohn zu erstreiten und es dann zu einer Kontaktaufnahme zwischen beiden kommt. Sofern der Kläger ein solches Umgangsrecht korrekt und gewissenhaft wahrnimmt, kann ihm dies nicht verwehrt werden. Sollte es allerdings in diesem Zusammenhang - oder auch ansonsten - erneut entgegen der hier getroffenen Prognoseentscheidung zu Verfehlungen wie Beleidigungen oder Bedrohungen etc. kommen, müsste der Kläger ernsthaft mit neuerlichen ausländerrechtlichen Folgen rechnen.

Der Senat kann zwar nachvollziehen, dass sich die betreffenden Frauen aufgrund ihrer früheren Erfahrungen mit dem Kläger vor diesem immer noch fürchten, jedoch vermögen (allein) subjektive Angstgefühle die Annahme einer vom Kläger ausgehenden schwerwiegenden Gefahr noch nicht zu begründen. Angesichts der veränderten Umstände, der abzugebenden Unterlassungserklärung und der dem Kläger bewussten Tatsache, dass er sich in Zukunft nur bei erkennbarem Wohlverhalten im Bundesgebiet wird aufhalten dürfen und er bei erneuter Begehung von Straftaten mit einer neuerlichen Ausweisung rechnen muss, war letztlich zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss

Unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 5. Juni 2009 wird der Streitwert für das Verfahren in beiden Instanzen auf jeweils 5.000 Euro festgesetzt (§ 63 Abs. 3 Satz 1, § 47, § 52 Abs. 2 GKG).