Bayerisches LSG, Urteil vom 21.03.2012 - L 19 R 97/12
Fundstelle
openJur 2012, 121416
  • Rkr:
Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.07.2011 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Nürnberg zurückverwiesen.

II. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts Nürnberg vorbehalten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die 1956 geborene Klägerin von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung beanspruchen kann. Den Antrag vom 13.02.2008 hat die Beklagte mit Bescheid vom 23.05.2008 und Widerspruchsbescheid vom 08.07.2009 abgelehnt.

Dagegen hat die Klägerin am 28.07.2009 Klage zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben. Das SG hat Sachverständigengutachten eingeholt. Mit Schriftsätzen jeweils vom 20.07.2011 haben sich die Klägerin und die Beklagte mit einer Entscheidung des SG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Am 28.07.2011 hat die 16. Kammer des SG durch ihre Vorsitzende, Richterin am SG K und die ehrenamtlichen Richter T und S ohne mündliche Verhandlung durch Urteil die Klage abgewiesen. Die Urschrift des Urteils mit Urteilsformel und Rechtsmittelbelehrung hat die Vertreterin der Kammervorsitzenden "in Vertretung" der Vorsitzenden der 16. Kammer unterzeichnet. Das Urteil ist den Beteiligten durch Verfügung der Vertreterin der Vorsitzenden vom 17.01.2012 zugestellt worden. An Stelle eines Tatbestandes und der Entscheidungsgründe hat die Vertreterin vermerkt, dass die erkennende Vorsitzende seit August 2011 langzeiterkrankt sei und Urteilsgründe von ihr bislang nicht niedergeschrieben worden seien. Eine Nachholung sei selbst bei Rückkehr der Vorsitzenden nicht mehr mit heilender Wirkung möglich, da seit der Urteilsberatung mehr als fünf Monate vergangen seien und damit ein absoluter Revisionsgrund vorliege.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin zum Bayer. Landessozialgericht.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.07.2011 und den Bescheid der Beklagten vom 23.05.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.07.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr auf den Antrag vom 13.02.2008 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren,

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.07.2011 zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten und auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist in dem tenorierten Umfang begründet. Bei dem angefochtenen "Urteil" handelt es sich um ein Nicht- oder ein Scheinurteil. Der Senat kann nur durch Aufhebung des "Urteils" klarstellen, dass das "Urteil" nicht rechtswirksam geworden ist. Insoweit ist auch die Berufung wegen des Anscheins einer gerichtlichen Entscheidung statthaft.

12Urteile, die nicht aufgrund mündlicher Entscheidung ergehen (§§ 124 Abs 2, 126 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), werden wirksam mit der Verlautbarung, d.h. in der Regel mit der Übergabe zur Post zwecks Zustellung (§ 133 S 1 SGG; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., Rz 2a zu § 133). In diesen Fällen ist im Gegensatz zu Entscheidungen aufgrund mündlicher Verhandlung, die mit der Verkündung wirksam werden (§ 132 Abs 2 S 1 SGG), die richterliche Unterschrift Wirksamkeitsvoraussetzung der Entscheidung. Die nach § 134 Abs 1 SGG geforderte Unterzeichnung des Urteils durch den Vorsitzenden gehört zu den Anforderungen, die ein ohne mündliche Verhandlung ergehendes Urteil erfüllen muss, damit es durch Verlautbarung wirksam werden kann (Urteil des BVerwG vom 03.12.1992 - 5 C 9/89 - BVerwGE 91, 242).

Urteile bedürfen zu ihrer Wirksamkeit stets der Verlautbarung, die vom Wissen und Wollen derjenigen Richter bzw. desjenigen Richters getragen sein muss, die an der Entscheidung mitgewirkt haben. Bei Urteilen aufgrund mündlicher Verhandlung ergibt sich der richterliche Verlautbarungswille aus der öffentlichen Verkündung des Urteils. Bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gewährleistet das Unterschriftserfordernis in der aus Gründen der Rechtssicherheit gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit, dass das Urteil den Beteiligten nicht ohne den erforderlichen Verlautbarungswillen der mitwirkenden Richter bekannt gegeben wird (BVerwG aaO). Allein aus der Beschlussfassung über die Urteilsformel, also der "Fällung" des Urteils, kann der Verlautbarungswille der mitwirkenden Richter noch nicht entnommen werden. Erst mit der Unterzeichnung des Urteils nebst Tatbestand und Entscheidungsgründen bekundet der Richter, dass die schriftliche Urteilsfassung mit der beschlossenen Urteilsformel und den für die richterliche Überzeugung tatsächlich leitend gewesenen Gründen übereinstimmt, und gibt zu erkennen, dass er die Entscheidung zur Bekanntgabe durch Zustellung an die Beteiligten freigibt (BVerwG aaO). Der Unterzeichnung des Urteils durch die ehrenamtlichen Richter bedarf es nicht.

Dies zu Grunde gelegt hat das angefochtene "Urteil" mangels Unterzeichnung der an der Beschlussfassung über die Urteilsformel mitwirkenden Vorsitzenden keine Wirksamkeit erlangt. Die Unterzeichnung in Vertretung dokumentiert ausdrücklich, dass es an einer Willensäußerung der mitwirkenden Vorsitzenden zur Verlautbarung des "Urteils" fehlt. Dies hat zur Folge, dass nach erfolgter Unterzeichnung des "Urteils" durch die hierzu nicht befugte Vertreterin und Zustellung des Urteils an die Beteiligten ein wirksames Urteil nicht vorliegt.

15Die fehlende Unterzeichnung ist auch nicht nachholbar, da - anders als bei durch Verkündung wirksam gewordenen Urteilen (vgl. hierzu BGH Urteil vom 27.10.1955 - II ZR 310/53 - BGHZ 18, 350) - die Unterzeichnung der Vorsitzenden eine nicht ersetzbare Voraussetzung für die Wirksamkeit des Urteils ist und daher der Mangel der Unterzeichnung im Rechtsmittelverfahren etwa mittels Urteilsberichtigung nicht behoben werden kann.

Nach Zustellung des nicht wirksamen "Urteils" an die Beteiligten und Eröffnung des Berufungsverfahrens kommt es nicht mehr darauf an, wie das SG bei Langzeiterkrankung der erkennenden Vorsitzenden verfahrensmäßig hätte vorgehen müssen. Stand aber fest, dass eine schriftliche Urteilsabfassung und Unterzeichnung durch die erkennende Vorsitzende tatsächlich nicht mehr möglich war, hätte das SG in der Sache gem. § 124 Abs 2 SGG erneut entscheiden oder aufgrund mündlicher Verhandlung ein Urteil fällen können, da das am 28.07.2011 ohne mündliche Verhandlung gefällte Urteil vor seiner Zustellung noch nicht existent und daher für das SG nicht bindend war (vgl. Keller aaO, § 125 Rz 4c; Wolff-Dellen in: Breitkreuz/Fichte, § 133 SGG Rz 5; LSG Niedersachsen Urteil vom 11.02.1988 - L 10 Lw 14/87 - Breith 1989, 611).

Nach alldem liegt kein wirksames Urteil vor. Schon aufgrund des Scheins eines vermeintlichen Urteils ist die den Beteiligten zugegangene Entscheidung aufzuheben und der Rechtsstreit an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen (vgl. BGH Beschluss vom 03.11.1994 - LwZB 5/94 - NJW 1995, 404).

Das SG wird auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.

Gründe, die Revision gem. § 160 SGG zuzulassen, bestehen nicht.