VG München, Urteil vom 17.11.2011 - M 4 K 11.30772
Fundstelle
openJur 2012, 119327
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der 1988 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und islamischer Glaubenszugehörigkeit aus Bagdad. Er reiste im Jahr 1997 in das Bundesgebiet ein und beantragte Asyl.

Das Bundesamt … (jetzt: Bundesamt …; im Folgenden: Bundesamt) lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom …. September 1997 ab und stellte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz -AuslG- fest.

Im November 2008 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein. Nach vorheriger Anhörung des Klägers widerrief das Bundesamt mit streitgegenständlichem Bescheid vom … September 2011 die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen (Ziff. 1) und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 2) sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 3). Auf den Inhalt des Bescheides wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG Bezug genommen.

Mit Schriftsatz vom 9. September 2011, bei Gericht am selben Tag eingegangen, erhob die Klägerbevollmächtigte für den Kläger Klage und beantragte:

Der Bescheid der Beklagten vom … September 2011 wird aufgehoben.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Fristen des § 73 Abs. 2 a i.V.m. Abs. 7 AsylVfG nicht eingehalten seien.

Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 20. September 2011,

die Klage abzuweisen.

Mit Beschluss vom 6. Oktober 2011 wurde der Rechtsstreit nach § 76 Abs. 1 AsylVfG auf den Einzelrichter übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Das Gericht verweist zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid, denen es folgt (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).

A. Der Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) in der Person des Klägers ist durch § 73 Abs. 1 AsylVfG gedeckt.

Rechtsgrundlage des Widerrufsbescheids ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798; vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG). Danach sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3, 31 AsylVfG, § 60 Abs. 1 AufenthG - früher: § 51 Abs. 1 AuslG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Der Kläger kann nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder wenn er als Staatenloser in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte ( § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt dies voraus, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist bzw. stichhaltige Gründe vorliegen, dass sich eine Verfolgung nicht wiederholt und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Allgemeine Gefahren (z.B. aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage) werden dagegen vom Schutz des § 73 Abs. 1 Satz 2 nach Wortlaut und Zweck dieser Bestimmung nicht erfasst. Ob dem Ausländer wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsstaat eine Rückkehr unzumutbar ist, ist beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht zu prüfen (vgl. BVerwG v. 1.11.2005, BVerwGE 124,276/281 ff.; VG München v. 7.3.2008, Az.: M 4 K 08.50022, juris). § 73 AsylVfG und die von den Gerichten getroffene Auslegung dieser Vorschrift widersprechen nach Auffassung des Gerichts weder höherrangigen nationalen noch europarechtlichen Vorschriften.

Das Bundesamt war vorliegend nicht verpflichtet, im Ermessenswege über den Widerruf zu entscheiden, da die Tatbestandsvoraussetzungen für das Erfordernis einer Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG nach Auffassung des Gerichts nicht erfüllt sind.

Nach § 73 Abs. 2 a AsylVfG hat die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 vorliegen, spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (Satz 1). Das Ergebnis ist der Ausländerbehörde mitzuteilen (Satz 2). Ist nach der Prüfung ein Widerruf nicht erfolgt, so steht eine spätere Entscheidung nach Absatz 1 im Ermessen des Bundesamtes (Satz 4). Ist die Entscheidung über den Asylantrag - wie hier - vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden (sog. Alt-Anerkennungen), hat die Prüfung nach Abs. 2 a Satz 1 spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen (vgl. § 73 Abs. 7 AsylVfG).

Das Bundesamt hat vorliegend zwar das Widerrufsverfahren im Jahr 2008 eingeleitet, jedoch den Widerrufsbescheid erst 2011 erlassen, so dass die in § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG vorgesehene Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen erst nach Ablauf der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG (Widerruf sog. Alt-Anerkennungen bis zum 31.12.2008) abgeschlossen war. Ein Widerruf nach Ablauf der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG ist jedoch noch möglich und dieser muss auch nicht im Ermessenswege erfolgen (vgl. BayVGH Urteil v. 21.3.2011 Az.: 13a B 10.30074).

Die Vorschrift des § 73 Abs. 2a AsylVfG knüpft den Übergang zu einer Ermessensentscheidung nicht an den bloßen Zeitablauf von drei Jahren, sondern verlangt eine vorherige sachliche Prüfung und Verneinung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt (Negativentscheidung). Ist aber - wie regelmäßig in Altfällen - eine solche Entscheidung noch nicht ergangen, fehlt es auch an einem vom Bundesamt geschaffenen Vertrauenstatbestand, der den Übergang zu einer Ermessensentscheidung über den Widerruf nach der gesetzlichen Regelung rechtfertigen könnte (vgl. BVerwG 20.3.2007, Az.: 1 C 21.06 Rd.Nr. 15, juris).

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass zwar § 73 Abs. 2 a AsylVfG auf den hier angefochtenen Widerruf anwendbar ist, jedoch die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung des Bundesamtes nicht erfüllt sind, weil es an der erforderlichen vorherigen Prüfung und Verneinung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt fehlt (so auch BayVGH, Urt. v.21.3.2011, Az. 13 a B 10.30074; a.A. VG Frankfurt/M v. 27.1.2010, 6 K 2348/09; VG Hamburg v. 27.7. 2010, 10 a 445/09).

Aufgrund der geänderten politischen Verhältnisse im Irak droht dem Kläger derzeit und in absehbarer Zukunft weder staatliche noch von einem Akteur i.S. von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehende und auf die Merkmale des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezogene Verfolgung im Irak. Der Kläger kann deshalb keinen Abschiebungsschutz wegen drohender Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) beanspruchen.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (siehe hierzu auch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über der Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) (sog. Qualifikationsrichtlinie) ergänzend anzuwenden.

Verfolgung i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann - anders als im Rahmen von Art. 16a Abs. 1 GG, der grundsätzlich nur Schutz vor staatlicher Verfolgung gewährt - gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen von (Buchst. a) dem Staat, (Buchst. b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder (Buchst. c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. In allen drei Fällen ist aber eine Verfolgung in diesem Sinn ausgeschlossen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht.

Werden diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall angewendet, so ergibt sich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak keine Verfolgung i.S. von § 60 Abs. 1 Satz 1, Satz 4 AufenthG droht. Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger auf zwingende, aus einer früheren Verfolgung herrührende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Irak abzulehnen und deshalb gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG von einer Widerrufsentscheidung abzusehen ist, sind nicht ersichtlich.

I. Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise aus dem Irak drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (mehr). Das seinerzeit herrschende Baath-Regime hat seit der Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung Saddam Husseins seine politische Macht über den Irak unumkehrbar verloren. Damit hat ein Verhalten, das unter der Herrschaft Saddam Husseins zu einer Gefährdung hätte führen können, wie die illegale Ausreise aus dem Irak, das illegale Verbleiben im Ausland und die Asylantragstellung, seine asylrechtliche Bedeutung verloren.

Eine individuelle Verfolgung des Klägers war und ist nicht erkennbar.

II. Der Kläger ist auch nicht als Moslem im Irak der Gefahr einer Gruppenverfolgung ausgesetzt. Eine Gruppenverfolgung von Muslimen liegt derzeit nicht vor. Da der Kläger diesbezüglich nichts vorgetragen hat, verweist das Gericht insoweit lediglich auf seine ständige Rechtsprechung (seit den Urteilen v. 23.6. 2009, Az.: M 4 K 08.50005, und Az.: M 4 K 08.50041, jeweils in juris; bestätigt durch die ständige Rechtsprechung des BayVGH seit dem Beschluss v. 9.11.2009, Az.: 13a ZB 09.30190).

III. Der Widerruf entspricht auch den Anforderungen des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e QualRL, soweit man diese Richtlinie auch auf die Fälle anwendet, in denen die Betreffenden die Anträge auf internationalen Schutz - wie vorliegend der Kläger - vor Inkrafttreten der Richtlinie, d.h. vor dem 20. Oktober 2004, gestellt haben (vgl. EuGH v. 2.3.2010, verb.Rs. C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C 179/08, InfAuslR 2010, 188, Rd.Nr. 45 ff.).

Nach dieser Vorschrift erlischt die Flüchtlingseigenschaft, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und der Betreffende auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung haben muss (vgl. EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nr. 76).

Dabei ist es für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft unerheblich, ob dem Adressat des Widerrufsbescheides subsidiärer unionsrechtlicher Abschiebungsschutz (vgl. Art. 15 bis 19 QualRL und § 60 Abs. 11 AufenthG) zustünde (vgl. EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nr. 79). Vielmehr erlischt die Flüchtlingseigenschaft, wenn der betreffende Staatsangehörige in seinem Herkunftsland nicht mehr Umständen ausgesetzt erscheint, die die Unfähigkeit dieses Landes belegen, seinen Schutz vor Verfolgungshandlungen sicherzustellen, die aus einem der fünf in Art. 2 Buchst. c QualRL genannten Gründe gegen seine Person gerichtet würden (EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nr. 69).

Für die Beurteilung einer Veränderung der Umstände müssen sich die zuständigen Behörden „im Hinblick auf die individuelle Lage des Flüchtlings“ vergewissern, dass Akteure nach Art. 7 Abs. 1 QualRL geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung (des Flüchtlings) zu verhindern (vgl. EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nrn. 70 u. 76). Dabei kommt es für die Beurteilung veränderter Umstände hinsichtlich der Schutzgewährleistung nach Art. 7 Abs. 2 QualRL - einerseits - auf die Funktionsweise der Schutzakteure an, wobei neben Institutionen, Behörden und Sicherheitskräften auch internationale Organisationen oder multinationale Truppen in Betracht kommen (vgl. Art. 7 Abs. 3 QualRL). Andererseits ist die Änderung der Umstände aber auch im Hinblick auf alle Gruppen oder Einheiten i.S. von Art. 6 QualRL zu sehen, von denen durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen den Betroffenen im Falle seiner Rückkehr Verfolgungshandlungen ausgehen können (vgl. EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nrn. 71 u. 76).

Bringt der Betreffende schließlich neue andersartige verfolgungsbegründende Umstände vor, ist bei der Prüfung des Erlöschens des Flüchtlingsschutzes im Hinblick auf die weggefallenen früher geltend gemachten Verfolgungsgründe die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QualRL nur anzuwenden, wenn eine Verknüpfung (vgl. Art. 9 Abs. 3 QualRL) mit früheren Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen besteht (EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nrn. 96 u. 98-100). Derartige Ausnahmefälle können insbesondere vorliegen, wenn der neu vorgetragene andere Grund entweder bereits vor dem ursprünglichen Antrag bestand, damals aber nicht geltend gemacht wurde oder aber der Betroffene nach dem Verlassen des Herkunftslandes Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen aus dem neuen andersartigen Grund ausgesetzt war und diese Handlungen im Herkunftsland ihren Ursprung haben (EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nr. 97).

Im Übrigen ist im Rahmen von Art. 11 Abs. 2 QualRL zu fragen, ob die behauptete Veränderung der Umstände - beispielsweise das Verschwinden eines Verfolgers und das anschließende Auftreten eines anderen Verfolgers - hinreichend erheblich ist, um die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung als nicht mehr begründet anzusehen (EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nr. 99).

a) Vor diesem Hintergrund kann es der Kläger im vorliegenden Fall „im Hinblick auf seine individuelle Lage“ nicht ablehnen, den Schutz der in seiner Heimatregion im Irak präsenten Schutzakteure in Anspruch zu nehmen.

Unter „Schutz“ in diesem Sinn wird dabei nach Auffassung des Gerichts nicht mehr als die Fähigkeit des Landes zur Verhinderung oder Ahndung der Verfolgungshandlungen verstanden. In Übereinstimmung damit setzt das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e QualRL weder voraus, dass dem Flüchtling kein ernsthafter Schaden i. S. des Art. 15 QualRL droht, noch, dass die Sicherheitslage stabil ist und die allgemeinen Lebensbedingungen das Existenzminimum gewährleisten. Es kommt mithin nicht darauf an, ob mit der neuen irakischen Regierung im Zentralirak ein Machtgebilde besteht, das eine gewisse Stabilität aufweist und die Fähigkeit zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer übergreifenden Friedensordnung besitzt. Entscheidend ist vielmehr, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak auch nicht unabhängig von den weggefallenen Umständen von einer Verfolgung bedroht ist (VG Hamburg v. 19.5.2010, Az. 8 A 461/05, juris; VG Hamburg vom 12.5.2010, Az. 8 A 889/ 06, juris). Durch das Ende des Baath-Regimes sind im Hinblick auf die ursprünglich festgestellten, zwischenzeitlich aber weggefallenen Verfolgungsgründe, keine Verfolgungsakteure i. S. von Art. 6 QualRL mehr ersichtlich, vor denen der Kläger durch Schutzakteure i.S. von Art. 7 QualRL geschützt werden müsste.

Somit kann es der Kläger vorliegend nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Heimatlandes in Anspruch zu nehmen.

b) Aber auch wenn man entgegen der Auffassung des Gerichts davon ausgeht, dass das Urteil des EuGH vom 2.3.2010 (a.a.O.) so zu verstehen ist, dass unabhängig davon, ob dem Kläger im Irak überhaupt Verfolgung i. S. des § 60 Abs. 1 AufenthG droht, Voraussetzung für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft ist, dass der oder die Akteure des Drittlands, die Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass diese Akteure demgemäß insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, verfügen und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird (vgl. EuGH v. 2.3.2010, a.a.O., Rd.Nrn. 70 u. 71), ist die Flüchtlingseigenschaft des Klägers vorliegend erloschen:

Der Irak ist gemäß der Verfassung, die das irakische Volk am 15. Oktober 2005 angenommen hat, ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 11.4.2010, S. 7 ff.). Nach Art. 19 und Art. 86 ff. der Verfassung ist die Rechtsprechung eine unabhängige Gewalt und es gibt ein Verfassungsgericht. Art. 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest. Art. 2 Abs. 2 der Verfassung erwähnt ausdrücklich Christen, Jeziden, Sabäer und Mandäer (neben Muslimen). Art. 41 und Art. 2 Abs. 2 der Verfassung legen fest, dass Wahl und Ausübung der Religion frei sind. Es gibt ein Strafgesetzbuch (aus dem Jahr 1969), das keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie Abfall vom Islam kennt, auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z.B. Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Am 7. März 2010 haben bereits die dritten irakischen Parlamentswahlen stattgefunden, die weitgehend friedlich und reibungslos abgelaufen sind. Die Einsatzfähigkeit der irakischen Sicherheitskräfte (ca. 250.000 Armee-Angehörige und ca. 340.000 Polizisten) wurde erheblich verbessert (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 11.4.2010, S. 13). Auch wenn der Nordirak weitgehend autonom ist und sich im Rahmen der irakischen Verfassung eine Regionalverfassung gegeben hat, gilt das für den Zentralirak ausgeführte entsprechend.

Damit sind nach Auffassung des Gerichts geeignete Schritte eingeleitet, um eine Verfolgung zu verhindern. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass im Wesentlichen aufgrund eines eklatanten Mangels an Richtern, Staatsanwälten und Justizbeamten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 11.4. 2010, S.7) der Zugang zu diesem Schutz erschwert ist, von den irakischen Sicherheitskräften nicht landesweit garantiert werden kann (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 11.4.2010, S.6) und damit nur Mindestanforderungen und bei weitem noch nicht unserem Standard entspricht.

B. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung von subsidiärem Abschiebungsschutz.

I. Der Antrag auf Feststellung eines sog. europarechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG bildet einen eigenständigen, vorrangig vor sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen (nationalen) Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand. Denn die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG, mit der zugleich verbindlich die positiven Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus nach der Qualifikationsrichtlinie festgestellt werden, vermittelt dem Schutzsuchenden regelmäßig weitergehende Rechte als die Feststellung eines sonstigen (nationalen) ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots (vgl. bspw. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG, ausführlich BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, Az.: 10 C 43/07, InfAuslR 2008, 474).

1. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 oder Abs. 3 AufenthG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG.

Nach dieser Vorschrift ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Vorschrift setzt die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht um.

a) Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen (vgl. BVerwG v. 24.6.2008, a.a.O.). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts i.S. von Art. 15 Buchst. c RL 2004/ 83/EG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind.

Ein „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (vgl. BVerwG v. 24.6.2008, a.a.O.).

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kommt das Gericht vorliegend zu der Überzeugung, dass die derzeitige Situation im Irak nicht bereits die Annahme eines Bürgerkriegs und damit eines landesweit oder auch nur regional bestehenden bewaffneten Konflikts i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu rechtfertigen vermag:

Wie bereits oben ausgeführt ist die Sicherheitslage im Irak zwar immer noch verheerend. Mehrere ineinander greifende Konflikte überlagern sich: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge zumeist Moslemischer Islamisten gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Muslimen, arabische Schiiten, Kurden), aber auch mit den Minderheiten; Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Mit dem Anschlag vom 22. Juni 2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra und den Vergeltungsaktionen in der Folge näherte sich der Irak offenen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen.

Allerdings hat seit dem Frühjahr 2007 (Beginn der US-amerikanischen Truppenaufstockung) die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Irak deutlich abgenommen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 12.8. 2009, S. 5, wonach die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle um ca. 80 % abgenommen hat). Auch die interkonfessionellen Übergriffe haben seit dem selbstbewussten Durchgreifen der Regierung gegen Milizen ab dem Frühjahr 2008 nachgelassen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 12.8.2009, S. 6). Die Durchführung der landesweiten Provinzwahlen ist weitgehend friedlich ohne bewaffnete Auseinandersetzungen und früher übliche Anschläge verlaufen.

Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnissen deshalb davon aus, dass derzeit weder ein landesweiter noch ein regionaler (in der Herkunftsregion des Klägers) innerstaatlicher oder internationaler bewaffneter Konflikt (mehr) festgestellt werden kann. Hinzu kommt, dass auch die Anschlagszahlen tendenziell rückläufig sind. Die zweifelsohne angespannte Sicherheitslage resultiert vielmehr aus inneren Unruhen und Spannungen, die allerdings nicht die Intensität und Dauerhaftigkeit eines Bürgerkrieges aufweisen.

b) Darüber hinaus begründet ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht dem Kläger als Angehöriger der Zivilbevölkerung vorliegend aber nicht.

Zwar kann sich nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt ausgeht, individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG erfüllen. Die Gefahr muss aber zusätzlich infolge „willkürlicher Gewalt“ i. S. des Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/ EG drohen. Für die Feststellung der Gefahrendichte können ähnliche Kriterien gelten wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung (s.o.). Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Entscheidung vom 24. Juni 2008 (a.a.O.) jedoch davon aus, dass ein innerstaatlicher Konflikt normalerweise nicht eine solche Gefahrendichte hat, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden. Allgemeine Lebensgefahren, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts sind - etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage - können nicht in die Bemessung der Gefahrendichte einbezogen werden.

Vorliegend kann jedenfalls selbst bei Unterstellung eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts im Irak nicht davon ausgegangen werden, dass der den bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, Az.: C-465/07-juris). Unter Zugrundelegung der Schätzungen des Iraq Body Count (s.o.) lag die landesweite / regionale Anschlagsdichte für das Jahr 2008 lediglich bei 0,05 %. Hinzu kommt, dass im Jahr 2009 und 2010 die Anschlagsdichte weiter abgenommen hat. Die erforderliche Gefahrendichte i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist daher nicht gegeben.

c) Der Kläger hat auch keine besonderen in seiner Person liegenden, individuellen Umstände vorgetragen, die auf eine erhöhte Gefährdung im Verhältnis zu sonstigen Angehörigen der Zivilbevölkerung schließen lassen, noch sind solche ersichtlich (s.o.).

II. Der Abschiebung des Klägers steht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 3. Juli 2008 (Az.: IA-2086.10-439) zur „ausländerrechtlichen Behandlung irakischer Staatsangehöriger“ verfügt, dass irakische Staatsangehörige grundsätzlich nicht abgeschoben werden und Duldungen bis auf Weiteres auf der Grundlage des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bis zur Dauer von sechs Monaten erteilt bzw. verlängert werden. Das Gericht geht davon aus, dass die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin grundsätzlich ausgesetzt bleibt und der Kläger nicht unter die Ausnahmen (Straftäter aus den autonomen Kurdengebieten) fällt.

Der Kläger ist daher durch die Erlasslage ausreichend geschützt.

C.

Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.

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