VG München, Urteil vom 21.09.2011 - M 18 K 11.2918
Fundstelle
openJur 2012, 118128
  • Rkr:
Tenor

I. Der Beklagte wird verpflichtet, es zu unterlassen, das Verbot des Inverkehrbringens bezüglich der Produkte der Klägerin „Bio-Joghurt mild mit Maracuja-Banane-Zubereitung und Stevia-Tee“ und „Bio-Joghurt mild mit Orange-Sanddorn-Zubereitung und Stevia-Tee“ anzuordnen.

II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin ist Herstellerin der Produkte "Bio-Joghurt mild mit Maracuja-Banane-Zubereitung und Stevia-Tee" und "Bio-Joghurt mild mit Orange-Sanddorn-Zubereitung und Stevia-Tee". Beiden Produkten ist ein Aufguss der getrockneten Blätter der „Stevia rebaudiana Bertoni“ (Stevia) (auch bekannt unter "Süßblatt", "Süßkraut", "Honigblatt") zugesetzt.

Mit Schriftsatz vom 17. März 2011, eingegangen am 18. März 2011, erhob die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen den Freistaat Bayern, "vertreten durch die Regierung von O…", mit dem Antrag: Es wird festgestellt, dass die Produkte der Klägerin "Bio-Joghurt mild mit Maracuja-Banane-Zubereitung und Stevia-Tee" sowie "Bio-Joghurt mild mit Orange-Sanddorn-Zubereitung und Stevia-Tee" in den Verkehr gebracht werden dürfen.

Hilfsweise:

Es wird festgestellt, dass es sich bei der Zutat "Stevia-Tee" nicht um ein zulassungsbedürftiges neuartiges Lebensmittel handelt.

Gleichzeitig wurde der Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt mit dem Ziel, dem Freistaat Bayern aufzugeben, es zu unterlassen, bezüglich der genannten Produkte eine Warnung für das Schnellwarnsystem nach Art. 50 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zu erstellen und in das Schnellwarnsystem einzuführen (M 18 E 11.1443).

Zur Begründung wurde im Wesentlichen Folgendes vorgebracht: Ein Mitarbeiter des Landratsamtes S… habe am 17. März 2011 morgens die Klägerin informiert, er sei von der Regierung von O… aufgefordert worden, einen Entwurf für die Einstellung der Produkte der Klägerin in das Schnellwarnsystem zu erstellen. Die Regierung vertrete die Auffassung, dass es sich bei „Stevia-Tee“ um ein neuartiges Lebensmittel handle. Dies treffe nicht zu. Der Tee, hergestellt durch Aufgießen der getrockneten Blätter der „Stevia rebaudiana“ mit heißem Wasser, sei kein „Novel-Food-Produkt“ und ohne Zulassung als Novel-Food-Produkt verkehrsfähig. Dies habe das Verwaltungsgericht München bereits mit Urteil vom 13. Mai 2004 (M 4 K 03.4528) festgestellt. Bei den Produkten der Klägerin werde keine aufkonzentrierte, extrahierte, enzymatisch aufgeschlossene oder sonst industriell aufbereitete Stevia-Zubereitung eingesetzt, vielmehr handle es sich bei der Zutat um einen einfachen Tee, zubereitet durch Aufgießen der getrockneten Blätter der „Stevia“ aus kontrolliert biologischem Anbau. Das Verwaltungsgericht München habe in seinem Urteil vom 13. Mai 2004 festgestellt, dass Tee, hergestellt durch das Aufgießen getrockneter Blätter der „Stevia“ in verschiedenen Teeprodukten vor dem 15. Mai 1997 (Stichtag der Verordnung (EG) Nr. 258/97 (Novel-Food-Verordnung)) in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet worden sei in verschiedenen, seit Anfang der 90er Jahre vertriebenen, Teesorten. Die EU-Kommission habe zwar mit einer Entscheidung vom 22. Februar 2000 einen Antrag auf Zulassung von "Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter" als neuartige Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, der am 5. November 1997 von dem Leiter eines pflanzenphysiologischen Labors bei der zuständigen belgischen Behörde gestellt worden war, zurückgewiesen, da der Antrag unvollständig eingereicht und später nicht vervollständigt worden sei. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe im Berufungsverfahren (9 BV 09.743) gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 13. Mai 2004 dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Zulassungsverweigerung gegenüber einem Unternehmer auch gegenüber der Klägerin verbindlich sei. Nach den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 23. November 2010 im Vorlageverfahren C-327/09 hindere die genannte Zurückweisungsentscheidung der Kommission die Behörde eines Mitgliedsstaats nicht daran, in einem Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu prüfen, ob ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat vor dem 15. Mai 1997 in der Gemeinschaft in nennenswertem Umfang in den Verkehr gebracht worden sei, um festzustellen, ob diese Art von Erzeugnissen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 258/97 falle oder nicht. Sowohl in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht München als auch im Berufungsverfahren seien Nachweise vorgelegt worden, dass Tee, hergestellt mit getrockneten Blättern der „Stevia“, kein zulassungsbedürftiges Novel-Food-Produkt sei. Ein von der Klägerin beauftragtes Prüflabor habe von einem Steviolglycosid-Gehalt von 365 mg/kg in der Teezutat bei den Produkten der Klägerin berichtet. Da die Teezutat in den beiden Joghurt-Produkten mit einem Anteil von etwas mehr als 2 % verwendet werde, folge daraus ein Steviolglycosid-Gehalt des Joghurts von nur 8,3 mg/kg. Diese Untersuchung sei gemacht worden, um zu prüfen, ob der Steviolglycosid-Gehalt des Joghurts gesundheitlich nachteilig sein könne. Dies sei nach den von der Europäischen Lebensmittelsicherheitsagentur vorgeschlagenen Werten sicher auszuschließen, da diese als (unbedenklichen) Aufnahmewert 4 mg/kg Körpergewicht/Tag festsetze. Nach Berichten wolle die Europäische Kommission abweichend von den Anträgen großer Unternehmen, die hoch aufkonzentrierte Steviosid-Extrakte als Lebensmittelzusatzstoffe einsetzen wollten und dementsprechende Novel-Food-Zulassungsanträge gestellt hätten, bei Milchprodukten nicht 1000 mg/l sondern nur 350 mg/l Steviolglycosid akzeptieren. Die Produkte der Klägerin betreffe dies nicht, da diese weniger als 1/40 (350 mg/l zu 8 mg/l) des Kommissionswertes enthielten. Bei einer Einstellung ins Schnellwarnsystem würden die Grundrechte der Klägerin verletzt. Die Produkte der Klägerin seien nicht gesundheitsschädlich. Die Einstellung ins Schnellwarnsystem würde behördliche Maßnahmen nach sich ziehen, z.B. die Information der Öffentlichkeit. Es bestehe die Gefahr von Fehlinformation. Es könne nicht von einem reinen Behördeninternum ausgegangen werden. Die Vorbereitung des Entwurfs der Warnmeldung durch die Behörden im Bundesland, in dem das Lebensmittelunternehmen seinen Sitz habe (Sitzland), sei im Gange und die Eingabe in das System stehe unmittelbar bevor. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), an das die Meldung weitergeleitet werde, leite die Meldung unverzüglich an die Europäische Kommission weiter nach nur kursorischer Schlüssigkeitsprüfung.

Mit Schriftsatz vom 29. März 2011 teilte die Regierung von O… mit, dass das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit vom Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit mit UMS vom 17. Dezember 2004 mit Wirkung zum 1. Mai 2005 als zuständige Kontaktstelle des Freistaates Bayern zur Erstellung von Meldungen im Schnellwarnsystem gemäß Art. 50 VO (EG) Nr. 178/2002 bestimmt worden sei und deshalb auch nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Verordnung über die Landesanwaltschaft (LABV) den Freistaat Bayern vor den Verwaltungsgerichten vertrete.

Mit Schriftsatz vom 15. April 2011 teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass der Europäische Gerichtshof im Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs mit Urteil vom 14. April 2011 (C-327/09) klargestellt habe, dass die zurückweisende Entscheidung der Kommission über den Antrag, getrocknete „Stevia-Blätter“ und ihren Tee als „Novel-Food-Produkt“ zuzulassen, keine Drittwirkung habe und ausgeführt habe, dass die Kommission überhaupt nicht geprüft habe, ob es sich bei dem Produkt um ein „Novel-Food-Produkt“ handle.

Mit Schriftsatz vom 2. Mai 2011 nahm das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit im Wesentlichen wie folgt Stellung: Das Landesamt sei im Falle des Vertriebs des steviahaltigen Joghurts in die EU-Mitgliedsstaaten dazu berechtigt, eine Warnmeldung an das Europäische Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel (RASFF) weiterzuleiten. Nach Art. 50 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 i.V.m. § 7 Abs. 1 AVV Schnellwarnsystem würden Informationen über Lebensmittel, von denen ein ernstes Risiko für die menschliche Gesundheit ausgehe, über das RASFF gemeldet. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 5 AVV Schnellwarnsystem sei dies insbesondere bei nicht zugelassenen neuartigen Lebensmitteln im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 der Fall. Die Pflanze „Stevia rebaudiana Bertoni“ werde aufgrund des bisherigen Kenntnisstandes innerhalb der Europäischen Union als Novel-Food im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 258/97 eingestuft, da nach wie vor nicht ausreichend belegt werden habe können, dass die Pflanze vor dem Inkrafttreten der Verordnung (15.5.1997) in der EU in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet worden sei. Die von der Klägerin zitierte Entscheidung des Verwaltungsgerichts München vom 13. Mai 2004 sei nicht rechtskräftig. Die in diesem Verfahren vorgelegten Unterlagen bezögen sich ausschließlich auf wenige Teemischungen mit nur sehr geringem Prozentanteil an „Stevia rebaudiana Bertoni“. Der Begriff "nennenswerter Umfang" werde in der Novel-Food-Verordnung nicht näher bestimmt. Geboten sei eine wertende produktorientierte Entscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände. Relevant seien der Bekanntheitsgrad bei den Verbrauchern, die Verzehrsmenge, Zweck und Menge des Zusatzes zum Lebensmittel, generelle Verfügbarkeit (z.B. in allgemeinen Lebensmittelläden erhältlich), Zeitraum, in dem die Produkte als Lebensmittel im Verkehr waren, Hinweise auf Verwendung dieser Pflanze als Lebensmittel/Zutat in Listen usw. (z.B. öffentliche Listen von Wirtschaftsverbänden, Verordnungen etc.). Die Beweisführung des Klägerbevollmächtigten für den "nennenswerten Umfang" stütze sich auf Zeugenaussagen ehemaliger Firmenmitarbeiter, Rechnungen und Produktspezifikationen sowie Katalogseiten, Etiketten und andere Dokumente. Die eingereichten Unterlagen bauten nicht schlüssig aufeinander auf, was die Prüfung des nennenswerten Umfangs deutlich erschwere. Bei den vorgelegten Tee-Etiketten handle es sich teilweise lediglich um die Muster aus den Firmenunterlagen. Die Auswertung der Unterlagen in ihrer Gesamtheit habe ergeben, dass es einige Hinweise darauf gebe, dass „Stevia rebaudiana Bertoni“ tatsächlich vor dem 15. Mai 1997 in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU verwendet worden sei, allerdings durchgehend mit sehr geringem Anteil (durchschnittlich 3 - 5 %) und ausschließlich als untergeordnete Zutat zum Zwecke der Geschmacksabrundung in Teemischungen. Nach einhelliger Auffassung der EU-Arbeitsgruppe "Neuartige Lebensmittel" zur Handhabung bei Nahrungsergänzungsmitteln könne ein nur geringer Mengenanteil einer zugesetzten Pflanzenkomponente vor dem 15. Mai 1997 keinen nennenswerten Umfang begründen. Daher dürften in diesen Fällen als neuartig angesehene Pflanzen einem Nahrungsergänzungsmittel zwar zugesetzt werden, nicht aber einem anderen Lebensmittel. Teeähnliche Erzeugnisse bestünden meistens aus einer Vielzahl unterschiedlicher Pflanzen- und Pflanzenteile, oft nur in sehr geringen Mengen. Die Sachlage sei bei teeähnlichen Erzeugnissen mit der Gruppe der Nahrungsergänzungsmittel vergleichbar und bei der Frage zum nennenswerten Umfang in gleicher Art zu behandeln. Es sei daher bereits fraglich, ob der Einsatz lediglich in untergeordneten Prozentanteilen zur Geschmacksabrundung generell geeignet sein könne, einen nennenswerten Umfang zu belegen. Aus den Unterlagen ergebe sich auch, dass die Anzahl der steviahaltigen "Teesorten" (ungefähr 18 Teemischungen) mit ungefähr 1 % am Gesamtteesortiment von ungefähr 1.000 bis 2.000, als gering einzustufen sei. Es sei daher davon auszugehen, dass die ohnehin sehr wenigen Teesorten, die einen sehr geringen Anteil an „Stevia“ enthielten, der überwiegenden Zahl der Verbraucher vor dem 15. Mai 1997 nicht bekannt waren. Nach Zeugenaussagen seien die Produkte in Naturkostläden (Einzelhandel), dem Versandhandel und über Handelsvertreter vertrieben worden. Bekannte Ladenketten oder Supermärkte seien nicht genannt worden. 1997 sei das Warenangebot für Bio-Produkte und die Akzeptanz von Ladengeschäften für Bio-Ware noch deutlich geringer gewesen als heute. Dementsprechend habe es auch nur wenige Naturkostläden gegeben. Die Angaben in Verbindung mit der Menge reichten somit nicht aus, um eine generelle Verfügbarkeit zu belegen. Bei Zugrundelegung der vorgelegten Unterlagen habe die Gesamtproduktion an steviahaltigen "Teesorten" vor 1997 ca. 22.000 kg, was wiederum einer Tassenzahl von ca. 7,4 Mio. in ungefähr fünf Jahren entspreche, betragen. In einem Jahr würden in Deutschland durchschnittlich 12 Milliarden Tassen an Kräuter- und Früchtetee getrunken. Der durchschnittliche Kräuter- und Früchteteeverbrauch pro Kopf liege somit ungefähr bei 22 Litern (147 Tassen) im Jahr. Im Vergleich hierzu seien in Deutschland zwischen 1993 und 1997 durchschnittlich 1,48 Mio. Tassen pro Jahr steviahaltige Teemischungen getrunken worden, was durchschnittlich 2,8 ml (ein Teelöffel habe ca. 4,5 ml) pro Kopf entspreche. Hieraus werde ersichtlich, dass speziell in der Warengruppe der Tee-/teeähnlichen Erzeugnisse es einer sehr hohen Tassenzahl bedürfe, um überhaupt von einem nennenswerten Umfang sprechen zu können. Die Unterlagen, die nicht aus Deutschland stammten, seien in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht abschließend rückverfolgt und bestätigt worden und nicht in die Einschätzung mit eingeflossen. Speziell die in einem der vorgelegten Dokumente getroffene und möglicherweise ausschlaggebende Aussage, dass in der Slowakei vor dem 15. Mai 1997 „Stevia rebaudiana Bertoni“ in jährlich wenigstens mehr als zehn Tonnen dem menschlichen Verzehr zugeführt worden sei, müsse noch von den zuständigen Behörden aus der Slowakei bestätigt werden. Die Erstellung des Entwurfs einer vorbereitenden Schnellwarnung mit dem entsprechenden Formular durch das Landratsamt stelle noch keine Vorentscheidung darüber dar, ob letztlich eine Schnellwarnmeldung von der Kontaktstelle des Landesamtes an das BVL weitergeleitet werde. Eine Schnellwarnung komme hinsichtlich der Produkte der Klägerin derzeit nicht in Betracht, da diese zugesagt habe, den Vertrieb der steviahaltigen Lebensmittel zumindest vorläufig einzustellen. Nach der Praxis der bayerischen Kontaktstelle würden auch Schnellwarnmeldungen in der Regel nur dann in das EU-Schnellwarnsystem eingestellt, wenn das betreffende Lebensmittel nicht nur auf dem nationalen Markt im Verkehr sei. Dies sei bei den Produkten der Klägerin fraglich.

Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2011 fasste der Klägerbevollmächtigte die Klageanträge wie folgt:

(1) Der Beklagte wird unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis 250.000,00 € verurteilt, es zu unterlassen,

bezüglich der Produkte der Klägerin "Bio-Joghurt mild mit Maracuja-Banane-Zubereitung und Stevia-Tee" sowie "Bio-Joghurt mild mit Orange-Sanddorn-Zubereitung und Stevia-Tee"

(1.1) eine Warnung für das Schnellwarnsystem nach Artikel 50 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zu erstellen und in das Schnellwarnsystem einzuführen oder

(1.2) das Verbot des Inverkehrbringens anzuordnen oder dieses "in den Raum zu stellen", insbesondere indem anderen Personen als den eigenen Mitarbeitern mitgeteilt wird, dass man ein solches in Erwägung ziehe.

(2) Hilfsweise im ersten Grad: Es wird festgestellt, dass die Produkte der Klägerin "Bio-Joghurt mild mit Maracuja-Banane-Zubereitung und Stevia-Tee" sowie "Bio-Joghurt mild mit Orange-Sanddorn-Zubereitung und Stevia-Tee" in den Verkehr gebracht werden dürfen.

(3) Hilfsweise im zweiten Grad: Es wird festgestellt, dass es sich bei der Zutat "Stevia-Tee" nicht um ein zulassungsbedürftiges neuartiges Lebensmittel handelt.

„Stevia“ sei nur in einem Anteil von durchschnittlich 3 - 5 % in den angesprochenen Tees verwendet worden, da bei einer Verwendung in höheren Anteilen die Bittertöne, die von manchen als lakritzartig beschrieben würden, so hervortreten würden, dass der Zweck der Abrundung des Geschmacks des Lebensmittels mit einer feinherben, süßen Note verfehlt würde. Es treffe zu, dass die Arbeitsgruppe "Neuartige Lebensmittel" der EU die Auffassung vertrete, dass dann, wenn ein pflanzliches Produkt in Nahrungsergänzungsmitteln, die auch Lebensmittel seien, verwendet werde, dies nicht geeignet sei, einen Verzehr in nennenswertem Umfang für den Zweck zu begründen, dass die gleiche pflanzliche Zutat in den Lebensmitteln des allgemeinen Verzehrs nicht als Novel-Food-Zutat behandelt werde. Die getrockneten Blätter der „Stevia“ und der „Stevia-Tee“ seien jedoch eindeutig keine Nahrungsergänzungsmittel. Wäre es richtig, dass der Bekanntheitsgrad beim Verbraucher gering gewesen sei im Hinblick darauf, dass bei 1.000 oder 2.000 verschiedenen Sorten nur etwa 18 Teemischungen „Stevia“ enthalten hätten, wären alle Zutaten, die nur in vergleichsweise wenigen Produkten vorkämen, Novel-Food-Produkte. Bei der Berechnung der Tassenzahlen seien die Produkte, die von einer großen Teefirma aus Kalifornien in Großbritannien vertrieben worden seien, nicht berücksichtigt. Die überschlägige Berechnung ergebe eine Zahl von mehr als 61.000.000 Tassen. Nach der französischen Arbeitsfassung der Novel-Food-Verordnung (Arbeitssprache, in der die Verordnung 1996 entworfen worden sei) sei der Begriff "negligeable" verwendet worden. Mit der Verordnung sei vorgegeben worden, jene Lebensmittel, die schon bekannt waren, in der Eigenverantwortung der Lebensmittelunternehmen zu belassen, die neuen aber einem unionsrechtlichen Zulassungskontrollsystem zu unterstellen. Es sollten nur Lebensmittel ausgenommen werden, die in auch nur etwas mehr als nur belanglosem Umfang verzehrt worden waren. Bei getrockneten Blättern der Stevia als Zutat von etwa 3 - 5 % in Kräutermischungen, die mit heißem Wasser aufgegossen als Tee genossen würden, handle es sich auch um ein erfahrungsgemäß unbedenkliches Lebensmittel, so dass auch insoweit eine Anwendung in der Verordnung Nr. 258/97 ausscheide. Im Berufungsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof seien weitere Unterlagen vorgelegt worden. Ein Vizepräsident einer kalifornischen Firma habe schriftlich bestätigt, dass sein Unternehmen in den Jahren 1988 bis 1997 zwei Kräuterteeprodukte mit getrockneten Blättern der Stevia als pflanzlicher Zutat in Großbritannien vermarktet habe. Es ergebe sich ein Umfang von 2.430.000 Tassen Tee, zubereitet mit den getrockneten Blättern der Stevia als einer Zutat von etwa 3 %. Der Leiter des Teeeinkaufs einer großen deutschen Teefirma habe mit Schreiben vom 4. April 2011 bestätigt, dass ab dem Jahresende 1984 über mehrere Jahre Teemischungen mit Stevia auf dem deutschen Markt verkauft worden seien. Aus den Angaben des Zeugen ergäben sich 44.250.000 Tassen. Insgesamt ergäbe sich aus den Zeugenaussagen ein Verzehr von 61.787.500 Tassen Tee mit Stevia. Hinzu komme der Tee mit Stevia, der in der Slowakei vertrieben worden sei.

Mit Beschluss vom 27. Juni 2011 wurde das Verfahren abgetrennt, soweit der Klägerbevollmächtigte im Schriftsatz vom 7. Juni 2011 beantragt, den Beklagten zu verurteilen, es zu unterlassen, das Verbot des Inverkehrbringens anzuordnen oder dieses "in den Raum zu stellen", insbesondere indem anderen Personen als den eigenen Mitarbeitern mitgeteilt wird, dass man ein solches in Erwägung ziehe, hilfsweise im ersten Grad festzustellen, dass die Produkte der Klägerin "Bio-Joghurt mild mit Maracuja-Banane-Zubereitung und Stevia-Tee" sowie "Bio-Joghurt mild mit Orange-Sanddorn-Zubereitung und Stevia-Tee" in Verkehr gebracht werden dürfen, hilfsweise im zweiten Grad festzustellen, dass es sich bei der Zutat "Stevia-Tee" nicht um ein zulassungsbedürftiges neuartiges Lebensmittel handle (Anträge 1 (1.2), 2 und 3) und erhielt das Az. M 18 K 11.2918.

Der Antrag 1 (1.1) im Schriftsatz vom 7. Juni 2011 (Verurteilung des Beklagten, es zu unterlassen, bezüglich der Produkte der Klägerin eine Warnung für das Schnellwarnsystem nach Art. 50 VO (EG) Nr. 178/2002 zu erstellen und in das das Schnellwarnsystem einzuführen) wurde unter dem Az. M 18 K 11.1445 weitergeführt.

Nach Erlass einer Zwischenverfügung im Verfahren M 18 E 11.1443 mit Beschluss vom 4. August 2011, mit dem dem Beklagten aufgegeben wird, bis zur abschließenden Entscheidung über den Antrag gemäß § 123 VwGO es zu unterlassen, eine Schnellwarnung für die Produkte der Klägerin einzustellen, teilte der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 5. September 2011 mit, dass die Klägerin ihre Produkte seit 1. September 2011 wieder ausliefere.

Mit Schriftsatz vom 12. September 2011 beantragte der Beklagte,

die Unterlassungsklage

und die hilfsweise

gestellten Feststellungsklagen abzuweisen.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Die vorbeugende Unterlassungsklage in Nr. 1.2 des Klageschriftsatzes vom 7. Juni 2011 sei unzulässig, da der Klägerin das für einen vorbeugenden Rechtsschutz vorausgesetzte, entsprechend qualifizierte Rechtsschutzinteresse fehle. Die vorbeugende Unterlassungsklage wäre nur zulässig, wenn der Verweis der Behörde gegenüber der Klägerin auf die Möglichkeit eines repressiven Rechtsschutzes mittels Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO und gegebenenfalls eines Antrages auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht ausreichen würde. Der Klägerin sei das Abwarten der behördlichen Entscheidung zumutbar. Über die Berufung gegen das Urteil des VG München vom 13. Mai 2004 sei noch nicht entschieden worden. Dies sei der Klägerin bekannt gewesen. Von der Beantwortung der Frage, ob die „Stevia rebaudiana Bertoni“ als „Novel-Food“ anzusehen sei oder nicht, seien alle in der Branche tätigen Lebensmittelunternehmer gleichermaßen betroffen. Es dürfe keine entscheidender Vorteil für einen einzelnen Lebensmittelunternehmer gegenüber seiner Konkurrenz entstehen. Dem stünden allenfalls die wirtschaftlichen Interessen der Klägerin gegenüber. Diese rein wirtschaftlichen Interessen der Klägerin hätten hinter den Interessen der Allgemeinheit auf einen effektiven Verbraucherschutz zurückzustehen. Es könne der Klägerin zugemutet werden, das Ergebnis der Prüfung durch die Behörden abzuwarten. Bei Anordnung eines Verkehrsverbotes habe die Klägerin jederzeit die Möglichkeit, Anfechtungsklage zu erheben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen und damit einen möglichen Schaden rechtzeitig abzuwehren. Der Eilrechtsschutz könne nötigenfalls mit einer Zwischenverfügung des Gerichts gesichert werden. Nachdem die Klägerin ihre Joghurt-Produkte im März 2011 vom Markt genommen habe, habe sie Anfang September 2011 nach der Zwischenverfügung des Gerichts diese wieder auf den Markt gebracht und damit selbst zu erkennen gegeben, dass sie aus Sicht ihrer Produktionsabläufe schnell in der Lage sei, ihre Produktionsabläufe umzustellen. Lebensmittelzutaten, die als „Novel-Food“ einzustufen seien, dürften nicht ohne Genehmigung in den Verkehr gebracht werden (§ 3 Abs. 1 NLV i.V.m. Art. 3 Abs. 2 VO (EG) Nr. 258/97). Die Prüfung des wissenschaftlichen Ausschusses der Europäischen Kommission habe unter anderem ergeben, dass aufgrund der verfügbaren Daten „Stevia rebaudiana Bertoni“ nicht den Anforderungen von Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 258/97 entspräche. Insbesondere Fragen zur Mutagenität, zur Beeinflussung der Fruchtbarkeit und zur Teratogenität hätten nicht ausreichend geklärt werden können. Der Beklagte sei auch berechtigt und verpflichtet, das Inverkehrbringen nicht verkehrsfähiger Lebensmittel zu untersagen (§ 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 LFBG). Hinsichtlich der hilfsweise erhobenen Feststellungsklagen fehle es am (qualifizierten) Rechtschutzbedürfnis.

Die Klage wäre auch nicht begründet, da es sich bei der Lebensmittelzutat „Stevia-Tee“ in den Produkten der Klägerin um eine neuartige Lebensmittelzutat handele. Hierzu wurde im Wesentlichen das im Verf. M 18 K 11.1445 Vorgetragene wiederholt.

Mit Schriftsatz vom 16. September 2011 nahm der Beklagte im Verfahren M 18 K 11.1445 dahingehend Stellung, dass nach einer Stellungnahme der slowakischen Behörden und einer Stellungnahme der Food Standard Agency (UK) nicht nachgewiesen werden könne, ob Stevia vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang in der Europäischen Union verzehrt worden sei. Das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit habe mit Schreiben vom 15. September 2011 gegenüber dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz angeregt, dass im Komitologieverfahren gemäß Art. 1 Abs. 3 i.V.m. Art. 13 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 festgelegt werde, ob Stevia unter die Novel-Food-Verordnung falle.

Mit Schriftsatz vom 19. September 2011 legte der Beklagte im Verf. M 18 K 11.1445 Stellungnahmen der französischen und niederländischen Behörden vor. Der Klägerbevollmächtigte erwiderte hierauf, dass aus diesen Stellungnahmen sich nur ergebe, dass ein Nichtwissen bei den entsprechenden Behörden bestehe, dass jedoch keine Ermittlungen durchgeführt worden seien.

In der mündlichen Verhandlung am 21. September 2011 gab die Klägervertreterin an, die strittigen Produkte würden über Großhändler, die in Deutschland ansässig seien, auch EU-weit verkauft. Hauptexportländer seien Frankreich und Italien.

Der Klägerbevollmächtigte beantragte,

den Beklagten zu verurteilen, es zu unterlassen, das Verbot des Inverkehrbringens der streitgegenständlichen Produkte der Klägerin anzuordnen,

hilfsweise festzustellen,

dass die streitgegenständlichen Produkte der Klägerin den Verkehr gebracht werden dürfen.

Der Beklagtenvertreter beantragte

Klageabweisung.

Im Übrigen wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Gründe

Die Klage auf Unterlassung ist zulässig.

Die Unterlassungsklage ist eine Form der allgemeinen Leistungsklage, die in der VwGO vorausgesetzt wird (§§ 43 Abs. 2, 169 Abs. 2 VwGO) und die unstreitig statthaft ist (BVerwGE 60, 144 ff.). Sie ist auch nach § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO vorrangig gegenüber einer Feststellungsklage (vgl. Sodan/Ziekow, VwGO, § 43 RdNr. 104). Wird die Unterlassung einer künftig erwarteten Beeinträchtigung begehrt, besteht ein Rechtschutzbedürfnis für die Klage nur, wenn der Eingriff mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht. Die drohende Handlung muss sich so konkret abzeichnen, dass sie Gegenstand eines Unterlassungsurteils sein kann (vgl. BVerwGE 64, 298). Dies ist hier der Fall, da nach den Stellungnahmen des Beklagten das Verbot des Inverkehrbringens der Produkte der Klägerin angekündigt ist.

Grundsätzlich erfolgt die Abwehr belastender Verwaltungsakte durch Anfechtungsklage und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Die kraft Gesetzes oder gerichtlicher Anordnung eintretende aufschiebende Wirkung schützt in der Regel vor irreversiblen Schäden. Eine vorbeugende Unterlassungsklage gegen drohende Verwaltungsakte erfordert deshalb ein qualifiziertes Rechtschutzbedürfnis; dies ist gegeben, wenn aus besonderen Gründen ein Abwarten - hier des Verwaltungsaktes - nicht zuzumuten ist. Dies gilt insbesondere, wenn andernfalls vollendete Tatsachen geschaffen würden und der Kläger in einem Anfechtungsprozess keinen wirksamen Rechtschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) erhalten würde. Das Rechtschutzbedürfnis für eine vorbeugende Unterlassungsklage wird auch für den Fall bejaht, dass die Verwaltung den Erlass eines Verwaltungsaktes ankündigt, ihn dann aber verzögert ohne von ihrer Absicht zur Vornahme abzurücken (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Vorb. § 40 Rdnr. 34; Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzcker, VwGO, § 42 Rdnr. 167). Entscheidend ist hier, inwieweit vorbereitende oder vorgelagerte Akte wegen ihrer rechtlichen oder faktischen Ausstrahlungswirkung den Kläger schon berühren und deshalb ein Angriffsgegenstand sein können.

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist das qualifizierte Rechtschutzbedürfnis für die vorbeugende Unterlassungsklage zu bejahen. Zum einen besteht im Hinblick auf die geringe Haltbarkeit der Produkte der Klägerin die Gefahr, dass vollendete Tatsachen geschaffen werden, Schäden entstehen, wenn der Erlass einer Verbotsverfügung abgewartet wird. Wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 21. September 2011 dargelegt hat, ist sie vertraglich verpflichtet, bei einer Untersagung des Inverkehrbringens ihre Kunden zu verständigen, damit im Hinblick auf die Verderblichkeit der Ware und die eingeschränkte Absatzmöglichkeit bei baldigem Ablauf des MdH Schäden für ihre Kunden vermieden werden. Es liegt auch ein Fall des „verzögerten Verwaltungsaktes“ vor. Das Landratsamt hat erst im Laufe des Verfahrens auf Unterlassung der Erstellung einer Meldung für das RASFF-Schnellwarnsystem (M 18 K 11.1445) die Position des LGL übernommen und ein Verbot des Inverkehrbringens in den Raum gestellt. Ein Verbot wurde jedoch nicht erlassen. Die Klägerin hat hierzu - in der mündlichen Verhandlung - zu Recht darauf hingewiesen, dass durch den Ablauf es zu erheblicher Verunsicherung ihrer Kunden komme. Auch dadurch komme es zu wirtschaftlichen Schäden. Unterstellt, das in den Raum gestellte Verbot des Inverkehrbringens wäre rechtswidrig, besteht wegen dieser durch den Ablauf des Verfahrens entstandenen Vorwirkungen ein schützenswertes Interesse der Klägerin auf vorbeugenden (vorgezogenen) Rechtsschutz.

Die Klage ist auch begründet, da der Beklagte nach Auffassung der Kammer nicht berechtigt ist, das Inverkehrbringen der Produkte der Klägerin nach § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches (LFBG) i.V.m. der Verordnung zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten (NLV) zu untersagen, da die Produkte der Klägerin keine nichtzugelassenen neuartigen Lebensmittel im Sinne des Art. 1 Abs. 2 VO (EG) Nr. 258/97 sind.

Die Verordnung (EG) Nr. 258/97 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten findet nach Art. 1 Abs. 2 Anwendung auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft, die in dieser bisher noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurden. Neben anderen genannten Gruppen von Erzeugnissen fallen nach Art. 1 Abs. 2 e unter den Geltungsbereich der Verordnung auch Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus Pflanzen bestehen oder aus Pflanzen isoliert worden sind, und aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten, außer Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die mit herkömmlichen Vermehrungs- oder Zuchtmethoden gewonnen wurden und die erfahrungsgemäß als unbedenkliche Lebensmittel gelten können. Stichtag für die Frage, ob ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat "bisher" in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde, ist der Tag des Inkrafttretens der Verordnung am 15. Mai 1997 (Art. 15).

Menschlicher Verzehr ist im Sinne einer Aufnahme durch den Menschen zu verstehen. Neuartig ist ein Lebensmittel, wenn das betreffende Lebensmittel oder die betreffende Lebensmittelzutat vor dem Bezugszeitpunkt von Menschen nicht in erheblicher Menge verzehrt wurde. Bei der Beurteilung, ob ein zu geringer menschlicher Verzehr vorliegt, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Die berücksichtigten Umstände müssen das Lebensmittel oder die Zutat selbst, auf das oder die sich die Prüfung erstreckt, betreffen und nicht ein ähnliches oder vergleichbares Lebensmittel oder eine ähnliche oder vergleichbare Zutat. Auf dem Gebiet der neuartigen Lebensmittel oder neuartigen Lebensmittelzutaten lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass selbst gering erscheinende Abweichungen ernst zu nehmende Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung nach sich ziehen können, zumindest solange nicht die Unschädlichkeit des fraglichen Lebensmittels oder der fraglichen Zutat durch angemessene Verfahren nachgewiesen wurde. Ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat wurde in der Gemeinschaft noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls feststeht, dass dieses Lebensmittel oder diese Lebensmittelzutat vor dem Bezugszeitpunkt in keinem Mitgliedsstaat in erheblicher Menge für den menschlichen Verzehr verwendet wurde (so EuGH, Urt. v. 9.6.2005 C-211/03).

Der Umstand allein, dass alle Zutaten, aus denen ein Lebensmittel besteht, in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr in der Gemeinschaft verwendet worden sein mögen, reicht nicht dafür aus, das Lebensmittel-Enderzeugnis nicht als neuartiges Lebensmittel im Sinne der Verordnung Nr. 258/97 anzusehen, da nicht ausgeschlossen ist, dass der Herstellungsvorgang in der Struktur eines Lebensmittels zu physikalischen, chemischen oder biologischen Änderungen der verwendeten Zutaten mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen für die öffentliche Gesundheit führen kann. Die Entscheidung, ob ein Lebensmittel als neuartiges Lebensmittel im Sinne der Verordnung Nr. 258/97 einzustufen ist, ist von der zuständigen nationalen Behörde für jeden Einzelfall unter Berücksichtigung aller Merkmale des Lebensmittels und des Herstellungsverfahrens zu treffen (so EuGH, Urt. v. 15.1.2009 C-383/07).

Der fehlende Nachweis eines nennenswerten Verzehrs eines Produkts im europäischen Raum vor dem 15. Mai 1997 geht im Zweifelsfall zu Lasten des Unternehmers, der die materielle Beweislast trägt. Was den Begriff der "erfahrungsgemäßen Unbedenklichkeit" als Lebensmittel im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung (EG) Nr. 258/97 betrifft, ist auf die in der Gemeinschaft erworbenen Erfahrungen abzustellen (so BayVGH, Urt. v. 12.5.2009, Az. 9 B 09.199).

Bei Anwendung dieser Grundsätze handelt es sich bei den Produkten der Klägerin nicht um neuartige Lebensmittel.

Grund für die gegenteilige Position des Beklagten ist der in beiden Produkten der Klägerin enthaltene Sud aus „Stevia rebaudiana Bertoni“ als Geschmacks(Süßungs-)zutat.

Zu „Stevia rebaudiana Bertoni“ hat das Verwaltungsgericht München, 4. Kammer, im Urteil vom 13. Mai 2004 (M 4 K 03.4528) Folgendes ausgeführt:

„Entscheidend ist im vorliegenden Fall, ob "Stevia rebaudiana Bertoni" vor dem Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 285/97 am 15. Mai 1997 (vgl. Art. 15) im nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1). Ein Lebensmittel, das in nennenswertem Umfang vor diesem Stichtag in der Gemeinschaft verwendet wurde, ist kein neuartiges Lebensmittel, auch wenn das Lebensmittel unter eine der Novel-Food-Kategorien fällt (vgl. 1.3.1 des Diskussionspapieres der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz zur Durchführung der Verordnung 258/97, freigegeben im Juli 2002). In diesem Zusammenhang wurde der Begriff "menschlicher Verzehr in nennenswertem Umfang in der Gemeinschaft" dahin ausgelegt, dass ein Lebensmittel in der Gemeinschaft generell verfügbar gewesen sein muss. Wäre beispielsweise ein Lebensmittel in der Gemeinschaft ausschließlich in Apotheken erhältlich, so wäre dies kein Beweis für die Verwendung zum menschlichen Verzehr in nennenswertem Umfang. War hingegen ein Lebensmittel in allgemeinen Lebensmittelläden erhältlich, so würde dies ein Indiz für seine Verwendung für den menschlichen Verzehr in nennenswertem Umfang darstellen (Diskussionspapier a.a.O.).

Dass "Stevia rebaudiana Bertoni" vor dem 15. Mai 1997 tatsächlich den Teemischungen beigefügt war, ergibt sich zunächst aus den in den Akten befindlichen Ablichtungen des "Katalogs 1994/95", des "Hauptkatalogs 1995/96" und des "Hauptkatalogs 1996/97". Über den Umfang der Herstellung und des Vertriebs der mit "Stevia rebaudiana Bertoni" versehenen Teemischungen liegen schriftliche Unterlagen nicht vor, weil die Klägerin nach ihren Angaben wegen der Insolvenz der Vorgängerfirma keinen Zugriff mehr auf die früheren Aufzeichnungen hat. Das Gericht hat daher Beweis erhoben durch die Einvernahme des Diplom Agraringenieur H… B… als Zeugen. Herr B… war als sogenannter "Produktmanager" bereits bei der Firma "… GmbH" seit 1991 tätig und war die verantwortliche Fachperson, die die Rezepturen erarbeitet hat und im Geschäftsablauf dafür Sorge trug, dass die Rohstoffe für die entsprechenden Produkte eingekauft und die Produkte so produziert wurden, dass sie in Fertigprodukten an Endverbraucher vertrieben werden konnten. In dieser Position ist der Zeuge noch immer bei der Klägerin tätig.

Nach den glaubhaften Aussagen des - unbeeidigt gebliebenen - Zeugen, die auch vom Beklagten nicht in Zweifel gezogen worden sind, hat der Einkauf von "Stevia rebaudiana Bertoni" in Form von getrockneten Blättern, für den er ebenfalls zuständig gewesen sei, über einen Händler in Spanien im Jahr 1993 begonnen. Wegen der Versuchsphase seien damals zunächst nur kleinere Partien von 200 - 300 kg bezogen worden. Man habe zunächst mit unterschiedlichen Rezepturen experimentiert, um die unterschiedlichen Charaktere der Teemischungen herauszufinden und festzustellen, welche Mischungen speziell mit "Stevia rebaudiana Bertoni" harmonierten. Man habe zunächst im Bereich Eistees und Eistees mit Pfefferminze gearbeitet, wobei "Stevia rebaudiana Bertoni" nicht nur als Süßungsmittel, sondern auch als Geschmackskomponente verwendet worden sei, weil dadurch der Geschmack der Grundbestandteile unterstützt werde. Die Versuchsphase habe etwa ein halbes Jahr gedauert. Danach sei mit drei Eistees, denen "Stevia rebaudiana Bertoni" beigemischt werden konnte, die volle Produktion aufgenommen worden.

Bei dem Start der Teemischungen habe es sich ca. um 500 kg Pfefferminztee, ca. 500 kg Eistee Greensweet und etwa eine Tonne Kindereistee gehandelt. Bei sämtlichen Tees seien etwa zwischen 5 % und 8 % "Stevia rebaudiana Bertoni" verwendet worden. Die einzelnen Packungen hätten Größen von 50, 100, 250 und 1000 Gramm gehabt. Der Zukauf der "Stevia rebaudiana Bertoni" sei jeweils nach Bedarf erfolgt. Die volle Produktpalette sei ab 1994/95 erzeugt worden mit zwei Zusatzmischungen, After Dinner Tee und After Lunch Tee. Weitere Probesorten in geringen Mengen seien aktionsweise angeboten worden. Die gesamten Angebote seien sowohl an Händler (Einzel- und Großhändler) sowie an Endverbraucher im Direktversand angeboten worden und zwar in etwa in gleichen Mengen. Es seien insgesamt ca. 2000 kg im Startsortiment gewesen. Je nach Anfrage seien diese Mengen etwa bis zur Auflösung der ursprünglichen Firma nachgearbeitet worden. Die einzelnen produzierten Losgrößen hätten sich zwischen 250 kg und 700 kg belaufen und das mehrfach im Jahr. Vom Produkt Pfefferminz-Eistee, das nicht so gut gegangen sei, seien im Jahr 500 kg bis 750 kg produziert worden, beim Kindereistee, der gut gegangen sei, etwa 2500 kg bis 3000 kg in etwa vier bis fünf Produktionslosen pro Jahr. An Gesamtmengen, die er aber nur grob schätzen könne, seien von seiner Firma zunächst 20 bis 25 Tonnen erzeugt und vertrieben worden, was sich bis zum Jahr 1998 auf 50 bis 55 Tonnen gesteigert habe. Das Sortiment insgesamt habe 1993 etwa 120 Teesorten umfasst, im Jahre 1998 270 Teesorten. Davon hätte die Teesorten mit "Stevia rebaudiana Bertoni" einen Anteil von etwa 8 - 10 % betragen. Dieser Prozentsatz habe sich aber später wegen der Ausweitung der anderen Teesorten am Gesamtanteil etwas verringert. Die Produkte seien zunächst deutschlandweit vertrieben worden, dann aber auch in die Schweiz, Österreich, Frankreich sowie in die Benelux Staaten.

Zunächst ergibt sich aus den Aussagen des Zeugen, dass Teemischungen mit "Stevia rebaudiana Bertoni" nicht nur über Katalog im Direktversand angeboten wurden (was nach Auffassung des OVG Lüneburg, Beschl. v. 9.10.2001, Az.: 11LB2745/01 alleine nicht genügen würde), sondern auch im Groß- und Einzelhandel vertrieben wurden. Somit waren diese Produkte in der Gemeinschaft generell verfügbar (vgl. Diskussionspapier a.a.O.), und zwar nicht nur in einem lokal beschränkten Bereich, sondern nach den Angaben des Zeugens deutschlandweit und später in den Gemeinschaftsstaaten Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg. Angesichts der generellen Verfügbarkeit und der Mengen, sie nach den Angaben des Zeuge hergestellt und vertrieben wurde, geht die Kammer davon aus, dass die Produkte auch in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr i.S.v. Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 verwendet wurden. Geht man davon aus, dass allein im Startsortiment 1997 2000 kg mit "Stevia rebaudiana Bertoni" hergestellt und vertrieben wurden und dass es allein bei Kindereistee 2500 bis 3000 kg im Jahr waren, und zwar von einem Produkt, dass vom Gewicht her sehr leicht ist, kann man davon ausgehen, dass eine nicht nur unbedeutende Zahl von Verbrauchern das Produkt vor dem 15. Mai 1997 verwendet haben. Im Hinblick auf die Intention des Verordnungsgebers, den freien Verkehr mit Lebensmittel nicht zu behindern und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten (Nr. 1 der Erwägungen zur Verordnung) dürfen an den Begriff "in nennenswertem Umfang" nach Auffassung der Kammer quantitativ nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden.

Im Ergebnis handelt es sich damit bei den in Streit stehenden Lebensmitteln nicht um neuartige Lebensmittel. Das Inverkehrbringen der Produkte verstößt damit nicht gegen die Verordnung (EG) Nr. 298/97 und durfte deshalb nicht wegen Verstoßes gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften untersagt werden.

Anhaltspunkte dafür, dass "Stevia rebaudiana Bertoni" in den hier verwendeten Mengen gesundheitsschädlich sein könnten, sind nicht erkennbar. Auch die Beklagte hat hierzu nichts Konkretes vorgetragen, sodass der Erlass des Bescheides vom 8. April 2003 auch nicht aus Gründen des Gesundheitsschutzes der Verbraucher gerechtfertigt war.“

Die Kammer schließt sich dieser Entscheidung an. Die von der Klägerin in diesem Verfahren vorgelegten Unterlagen stützen die Rechtsauffassung des Urteils vom 13. Mai 2004. Es wurde u.a. eine schriftliche Bestätigung des seinerzeitigen Assistenten des Leiters Tee-Einkauf eines der größten bundesdeutschen Teeherstellers vom 4. April 2011 vorgelegt, wonach ab ca. Dezember 1984 über mehrere Jahre Kräuterteemischungen unter Verwendung von "Stevia rebaudiana" auf den Markt gebracht wurden. Weiter wurde eine eidesstattliche Versicherung eines Angestellten der "… GmbH" (Niederlande) vorgelegt, wonach von dieser Firma 1995 Kräutertees entwickelt worden seien und fünf Gewürztee-/Kräutertee-Produkten dieser Firma in den Jahren 1995 bis 1999 Stevia in einer Menge von 0,4 - 8,5 % enthalten hätten. Von Januar bis Mitte Mai 1997 seien nach dem seit Anfang 1997 verwandten EDV-System in Deutschland und den europäischen Nachbarländern von diesen Tees 186.542 Packungen (2,8 Millionen Portionen) vertrieben worden. Fußend auf diesen Zahlen sei davon auszugehen, dass ab Markteinführung bis zum April 1997 ca. 600.000 Packungen vermarktet worden seien. Zu dieser eidesstattlichen Versicherung wurden die entsprechenden Geschäftsunterlagen vorgelegt. Weiter wurde eine behördliche Stellungnahme aus der Slowakei vom 24. August 2011 vorgelegt sowie eine Stellungnahme der Food Standard Agency (UK) vom 14. September 2011 und eine Stellungnahme einer kalifornischen Firma bezüglich des Vertriebs in Großbritannien (in Englisch). Die im Gegenzug vom Beklagten vorgelegten behördlichen Stellungnahmen sagen nur aus, dass den zuständigen Behörden die genannten Produkte nicht bekannt waren. Dies widerlegt nicht die vorgelegten Unterlagen.

Zur Frage der Auslegung des Begriffs "nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde" wird darauf hingewiesen, dass nach Auffassung der Kammer (im Anschluss an das Urteil vom 13.5.2004) der Begriff "in nennenswertem Umfang" nicht nur quantitativ gesehen werden darf. Bei einer anderen Auslegung würden quasi nur die von der Mehrheit der Verbraucher verzehrten Produkte kein Novel Food darstellen. Nennenswerter Verzehr kann auch vorliegen bei Produkten, die sich an spezielle Verbraucherkreise richten, die nicht nur Bestandteil des üblichen Supermarktangebotes sind. Im vorliegenden Fall ist nach Auffassung der Kammer nachgewiesen, dass „Stevia rebaudiana“ von verschiedenen Firmen, nicht nur Kleinstfirmen, sondern durchaus auch marktbeherrschenden Unternehmen, für einen speziellen Kundenkreis angeboten wurden. Es handelt sich nicht um rein regionale Produkte. Die vertriebenen Mengen sind erheblich, wie die Berechnungen beider Beteiligten zeigen.

Die Produkte der Klägerin sind auch keine neuartigen Lebensmittel im Sinne der vorstehend dargestellten Grundsätze, weil es sich nicht um Kräutertees, sondern um Milchprodukte mit Zusatz eines Aufgusses aus Stevia rebaudiana Bertoni handelt. Sowohl bei den Kräutertees als auch bei dem Stevia-Aufguss der Klägerin handelt es sich um einen Aufguss aus Pflanzen. In beiden Fällen wird bei einem Produkt ein Aufguss aus Stevia rebaudiana Bertoni als natürliche Geschmackszutat in geringen Anteilen zugesetzt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte, dass durch die unterschiedlichen Herstellungsweisen unterschiedliche Gefährdungen entstehen. Angemerkt sei, dass bei einer künftigen Zulassung von Stoffen, die aus Stevia rebaudiana Bertoni isoliert werden und deren Zusatz in sehr viel höherer Konzentration beabsichtigt ist, es kaum vermittelbar erscheint, dass die Verwendung als natürliche Zutat (wie auch vor dem 15.5.1997, wenn auch nicht in Milchprodukten) in geringen Anteilen und deutlicher Unterschreitung der angenommen unbedenklichen Aufnahmewerte ausgeschlossen sein soll. Klarheit könnte das nunmehr auch vom Beklagten befürwortete Komitologie-Verfahren mit entsprechender Überprüfung der von der Klägerin vorgelegten Unterlagen erbringen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO. Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO) zuzulassen.

Beschluss

Der Streitwert wird auf EUR 5.000,00 festgesetzt (§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz -GKG-).