Bayerisches LSG, Urteil vom 12.07.2011 - L 11 AS 582/10
Fundstelle
openJur 2012, 116655
  • Rkr:
Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 17.06.2010 aufgehoben.

II. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 13 AS 829/07 vor dem Sozialgericht Würzburg fortzuführen ist.

III. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Erledigung des Verfahrens durch fiktive Klagerücknahme.

Die Klägerin bezieht seit dem 01.08.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 16.07.2007 hob der Beklagte wegen unerlaubter Ortsabwesenheit der Klägerin die Leistungsbewilligung vom 03.04.2007 für die Zeit vom 28.02.2007 bis 31.05.2007 auf und forderte erbrachte Leistungen (Alg II und Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung) in Höhe von 1.907,21 € zurück. Den Widerspruch dagegen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.10.2007 zurück.

Gegen die Aufhebung und Rückforderung der Leistungen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben (S 13 AS 829/07). Am 22.12.2008 hat sich für die Klägerin unter Vorlage einer Vollmacht Rechtsanwalt Dr. M. P., angezeigt. Rechtsanwalt G. V. hat unter Vollmachtsvorlage am 23.04.2009 mitgeteilt, dass er nun die Klägerin vertrete; am 29.04.2009 hat er erklärt, er vertrete die Klägerin nicht mehr.

Im Hinblick auf den am 05.06.2009 geäußerten Wunsch der Klägerin, ihr Rechtsanwalt V. im Rahmen der Prozesskostenhilfe beizuordnen, hat das SG die Klägerin mit Schreiben vom 08.06.2009 aufgefordert, eine Vollmacht des Rechtsanwalts vorzulegen und die Vollmacht gegenüber Rechtsanwalt P., zu widerrufen. Mit Schreiben vom 10.07.2009 und 07.08.2009 hat das SG nochmals an die "Erledigung bzw. Beantwortung des Schreibens vom 08.06.2009 erinnert". Gleichzeitig hat es auf den Inhalt des § 102 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen. Das Schreiben enthielt den Zusatz "auf richterliche Anordnung" und wurde von der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle unterschrieben.

Am 17.11.2009 hat das SG den Beteiligten mitgeteilt, die Klage gelte als zurückgenommen. Dagegen hat sich die Klägerin am 24.02.2010 gewandt und vorgebracht, dass das Verfahren weiter betrieben werden solle. Sie habe einen Selbstmordversuch unternommen, weshalb das Verfahren nicht hätte weiter betrieben werden können. Es werde gebeten, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Mit Urteil vom 17.06.2010 hat das SG festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte. Es sei weder vorgetragen worden noch ersichtlich, dass die Klägerin die Belehrung vom 07.08.2009 nicht erhalten habe. Das Verfahren sei drei Monate nicht betrieben worden, weil nicht erklärt worden sei, welchen Rechtsanwalt sie als Prozessbevollmächtigten ansehe bzw wer ihr gegenüber vertretungsberechtigt sein solle. Da diese einfache Handlung nicht vorgenommen worden sei, hätten begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestanden. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.

Dagegen hat die Klägerin zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 17.06.2010 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, §§ 143, 144, 151 SGG und begründet. Die Feststellung des SG, das Verfahren sei durch fiktive Klagerücknahme beendet, ist unzutreffend; das ursprüngliche Verfahren S 13 AS 829/07 damit fortzusetzen.

Streitig ist vorliegend alleine, ob die vom SG angenommene fiktive Klagerücknahme das Verfahren S 13 AS 829/07 beendet hat. Infolge der Aufhebung des Urteils des SG in der Sache S 13 AS 189/10 WA ist das ursprüngliche Verfahren noch nicht abgeschlossen, vielmehr fortzusetzen und in der Sache zu entscheiden.

Die Voraussetzungen für die Annahme einer fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs 2 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.03.2008 (BGBl I S 444) sind vorliegend nicht gegeben. Eine die Fiktion der Klagerücknahme auslösende Betreibensaufforderung wäre nur in Betracht gekommen, wenn zum Zeitpunkt ihres Erlasses sachlich begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses der Klägerin bestanden hätten (vgl BVerfG, Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95; BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16.06.2010 - L 5 AS 217/10; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - jeweils zitiert nach juris -; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 9. Aufl, § 102 Rn 8a). Solche Anhaltspunkte können sich im sozialgerichtlichen Verfahren aus einer Verletzung der prozessualen Mitwirkungspflichten der Klägerin ergeben, wenn sie den Schluss auf den Wegfall des Sachbescheidungsinteresses zulässt. Für eine Betreibensaufforderung iS des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genügt daher nicht jede Art von Verletzung einer Mitwirkungspflicht, sondern nur eine solche, die ein erhebliches Unterlassen einer prozessualen Mitwirkungshandlung darstellt. Das Gericht muss sich - seine Rechtsansicht zugrunde gelegt - außerstande sehen, entscheidungserhebliche Tatsachen festzustellen, um den für eine Sachentscheidung notwendigen Sachverhalt zu klären (vgl Beschluss des Senats vom 21.03.2011 - L 10 AL 165/09; BSG aaO).

Das SG hat die Klägerin im Hinblick auf ihren Wunsch, ihr Rechtsanwalt V. im Rahmen der Prozesskostenhilfe beizuordnen, aufgefordert, eine Vollmacht von diesem vorzulegen und die Vollmacht gegenüber Rechtsanwalt P., zu widerrufen. Darauf hat die Klägerin nicht reagiert. Es erscheint fraglich, ob hierin ein erhebliches Unterlassen einer prozessualen Mitwirkungspflicht liegt. Bereits nach dem Gesetz (§ 73 Abs 6 Satz 6 SGG iVm § 85 Zivilprozessordnung - ZPO -) besteht die Möglichkeit, sich im gerichtlichen Verfahren durch mehrere Bevollmächtigte vertreten zu lassen. Insofern ist nicht ersichtlich, weshalb die Klägerin gezwungen gewesen sein sollte, die Vollmacht gegenüber Rechtsanwalt P, zu widerrufen. Die Wirksamkeit der Klage als solche hängt auch nicht davon ab, dass eine Vollmacht für Rechtsanwalt V. bestanden hat. Dieser hat die Klage nicht erhoben, so dass eine mögliche Unwirksamkeit der Klageerhebung wegen fehlender Vollmacht nicht im Raum steht. Alleine im Hinblick auf eine mögliche Beiordnung von Rechtsanwalt V. im Rahmen der Prozesskostenhilfe hat gegebenenfalls die Frage der fehlenden Vollmacht eine Rolle spielen können. Insofern hat aber die Möglichkeit bestanden, zunächst Prozesskostenhilfe ohne Beiordnung eines bestimmten Bevollmächtigten zu bewilligen. Die Möglichkeit des SG, die entscheidungserheblichen Tatsachen festzustellen, war davon nicht berührt.

Letztlich kann dies aber dahinstehen, da eine Rücknahmefiktion auch den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraussetzt (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Im Hinblick auf die einschneidenden Folgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung muss eine solche nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss auch durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters erkennen lassen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (vgl Beschluss des Senats aaO; BSG aaO). Das Schreiben des Gerichts vom 07.08.2009 verfügte lediglich über den Zusatz "auf richterliche Anordnung" und wurde durch eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle unterzeichnet. Dies genügt demnach nicht, um die Frist zum Betreiben des Verfahrens in Lauf zu setzen.

Daneben kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an - was allerdings vom SG von Anfang an zu berücksichtigen gewesen wäre -, welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben, dass das Schreiben vom 07.08.2009 nicht nach § 63 Abs 1 Satz 1 SGG förmlich zugestellt, sondern offensichtlich mit einfachen Brief versandt wurde. Eine förmliche Zustellung wäre nötig gewesen, da mit der Betreibensaufforderung nach § 102 Abs 2 Satz 1 SGG die Dreimonatsfrist in Lauf gesetzt werden soll. Ebenso ist nicht entscheidungserheblich, dass aus dem Schreiben vom 07.08.2009 selbst nicht hervorgeht, welche Verfahrenshandlungen von der Klägerin gefordert werden, und eine Abschrift des Schreibens vom 08.06.2009 offensichtlich nicht beigefügt gewesen ist.

Im Ergebnis hat das SG am 17.11.2009 daher zu Unrecht das Weglegen der Akte wegen des Eintrittes der Klagerücknahmefiktion verfügt, womit sich die Feststellung des SG im Urteil vom 17.06.2010 als unzutreffend erweist und dieses aufzuheben war.

Darüber hinaus war festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit, nämlich das Verfahren S 13 AS 829/07, (von Amtswegen) vor dem SG fortzuführen ist. Einer gesonderten Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung an das SG bedurfte es insoweit nicht, denn nicht das Verfahren S 13 AS 829/07 ist mit dem Berufungsverfahren beim LSG rechtshängig geworden, sondern allein das "Wiederaufnahmeverfahren" S 13 AS 189/10 WA, das als selbständiges Verfahren anzusehen ist (vgl Beschluss des Senats vom 21.03.2011 - L 10 AL 165/09).

Das SG ging hier davon aus, dass mit Ablauf der Drei-Monats-Frist des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG der Rechtsstreit erledigt war. Insofern hat es lediglich das Weglegen der Akten verfügt, was mangels einer darin zu sehenden Sachentscheidung nicht mit Rechtsmitteln nicht angreifbar ist. Gleiches gilt für die formlose Mitteilung der Verfahrensbeendigung an die Beteiligten. Der Streit über die Erledigung stellt insofern dann auch kein ordentliches Rechtsmittel dar, sondern - vergleichbar mit einem Wiederaufnahmeverfahren nach § 179 SGG - einen außerordentlichen Rechtsbehelf und damit ein vom Ausgangverfahren zu differenzierendes, selbständiges Verfahren (vgl Beschluss des Senats aaO). Hieraus folgt, dass nur die Entscheidung in dem Verfahren S 13 AS 189/10 WA dem Devolutiveffekt der eingelegten Berufung unterlag, mithin beim LSG rechtshängig wurde, und - mangels einer Entscheidung im Ausgangsverfahren - nicht das Verfahren S 13 AS 829/07 davon erfasst wird. Mit Rechtskraft der Entscheidung des Senates, das Urteil vom 01.07.2010 aufzuheben und der Feststellung, dass das Ausgangsverfahren S 13 AS 829/07 - mangels Eintrittes der Klagerücknahmefiktion - vor dem SG fortzuführen ist, entfällt die Rechtshängigkeit des allein beim BayLSG rechtshängig gewesenen "Wiederaufnahmeverfahrens". Die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 13 AS 829/07 war zu keinem Zeitpunkt beim SG entfallen, so dass das SG von Amtswegen über das dort noch offene Verfahren zu entscheiden hat und der Senat an einer Entscheidung in der Sache gehindert ist (so auch Beschluss des Senats aaO). Einer Zurückverweisung im Sinne des § 159 Abs 1 Nr 2 SGG bedurfte es daher nicht (so aber ohne Begründung offenbar LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16.06.2010 - L 5 AS 217/10; BayLSG, Urteil vom 08.12.2009 - L 5 R 884/09; zum Revisionsverfahren BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R; zu § 92 Abs 2 VwGO: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.10.2010 - OVG 10 B 2.10; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13.10.2005 - 1 L 40/05).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe, die Berufung nach § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.