VG Ansbach, Urteil vom 28.06.2011 - AN 11 K 11.30219
Fundstelle
openJur 2012, 116258
  • Rkr:
Tenor

1. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beim Kläger hinsichtlich Afghanistans vorliegen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

Der nach eigenen Angaben am ... geborene Kläger, ein nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens, begehrt Abschiebungsschutz.

Er reiste nach eigenen Angaben am ...unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am ... seine Anerkennung als Asylberechtigter.

Im Rahmen der Befragung zur Vorbereitung der Anhörung gemäß § 25 AsylVfG am ... gab er an, er gehöre zum Stamm Ismail Khel. Sein Personalausweis (Geburtsurkunde) befinde sich bei seinem Onkel in ... Er werde ihn anfordern und zur Anhörung mitbringen. (Eine Kopie des Personalausweises hat der Kläger bei der Aktenanlage vorgelegt). Die letzte offizielle Anschrift im Heimatland laute Dorf ..., Kreis ..., Provinz ... Er habe sich unter dieser Adresse bis zur Ausreise aufgehalten. Auf Nachfrage, ob er sich dort tatsächlich bis zur Ausreise aufgehalten habe, bestätigte er dies. Seine Eltern seien vor ca. 1 1/2 Jahren verstorben. Ein Onkel von ihm wohne in ... Sein Großonkel lebe im Dorf ..., Kreis ..., Provinz ... Ansonsten habe er keine Verwandte. Er habe drei Jahre die Grundschule in ...besucht. Einen Beruf habe er nicht erlernt und Arbeit habe er auch keine gehabt. Er habe bei seinem Onkel gelebt, der ihn finanziell unterstützt habe. Seine wirtschaftliche Situation sei durchschnittlich gewesen. Er habe keinen Wehrdienst geleistet. Er habe in keinem anderen Staat Asyl oder die Anerkennung als Flüchtling beantragt oder zuerkannt bekommen.

Bei seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 13. Juli 2010 gab er an, das Original seiner Geburtsurkunde befinde sich jetzt bei seinem Rechtsanwalt in ... Der Onkel in ... habe auch den Rechtsanwalt für ihn besorgt. Er sei auf dem Landweg mit einem Schlepper nach Deutschland gekommen. Dieser habe keine Papiere für ihn dabei gehabt. Er habe zeitlebens in seinem Heimatdorf ... gelebt. Seine Eltern seien gleichzeitig gestorben. Am Tag ihres Todes habe es Kämpfe in ihrem Dorf gegeben. Die Amerikaner hätten das Dorf bombardiert, dabei sei ihr Haus getroffen und völlig zerstört worden. Ein Cousin seines Vaters und seine Familie seien dabei umgekommen. Sein Onkel und dessen Familie seien die einzigen Verwandten in Deutschland. Seine zwei Brüder und zwei Schwestern seien alle bei dem Bombenangriff getötet worden. Er sei bei diesem Vorfall nicht zu Hause gewesen, er sei in ihrer Plantage gewesen. Außer drei Jahre Grundschule habe er keine weitere Ausbildung. Das Datum seiner Ausreise aus Afghanistan wisse er nicht mehr genau, es sei etwa vor sieben bis acht Monaten gewesen. Er sei etwa am ... in Deutschland angekommen. Von seinem Dorf aus sei er zunächst mit dem Onkel seines Vaters nach Pakistan gereist. Von dort aus habe ihn ein Schlepper mit verschiedenen Fahrzeugen über die Berge und über verschiedene Städte mit verschiedenen Fahrzeugen, mit PKWs, mit LKWs, bis nach Deutschland gebracht. Er sei immer auf dem Landweg gereist, einmal auch auf dem Wasser. Er wisse nicht, ob er auf dem Weg von Pakistan nach Deutschland wieder durch Afghanistan gekommen sei und auch nicht, welche Länder er durchreist habe. Der Schlepper habe ihn am Bahnhof in ... verlassen. Dann sei er von der Polizei aufgegriffen worden. Er sei zuletzt mit einem Zug nach ... gefahren. Er wisse nicht, von wo er gekommen sei. Nach den Gründen für seine Ausreise befragt gab er an, nach dem Tod seiner Familie sei er zu dem Onkel seines Vaters gezogen. In dem Gebiet sei aber viel gekämpft worden, ständig seien die Amerikaner gekommen. Einmal seien bei einem Kampf drei mit Benzin beladene LKWs in Brand gesetzt worden. Dabei sei auch ihre Obstplantage zerstört worden. Die Regierung und die Amerikaner hätten sie aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, weil es Kampfgebiet sei und sie ihre Truppen da stationieren müssten. Er sei dann mit dem Onkel seines Vaters und dessen Familie nach Pakistan gegangen. Das sei etwa vor sieben Monaten gewesen, er wisse nicht genau, in welchem Monat. Er könne manchmal wegen des Todes seiner Familie gar nicht richtig denken. Er wisse nicht, ob sich der Onkel seines Vaters jetzt noch in Pakistan befinde. Als er Pakistan verlassen habe, sei dieser noch dort gewesen. Sie seien in ... gewesen. Dort sei es noch schlimmer gewesen als in Afghanistan. Sein Großonkel habe ihm vorgeschlagen, nach ... zu seinem Onkel zu gehen. Er habe zum Beispiel in die Schule gehen oder eine Ausbildung machen wollen, aber in Pakistan gebe es keine großen Möglichkeiten für Flüchtlinge. Er habe in Afghanistan keine Probleme mit den afghanischen Behörden oder nicht-staatlichen Gruppen oder Personen gehabt. Er habe sich nicht politisch engagiert. Wenn er nach Afghanistan zurückginge, wäre die Lage genauso wie vor seiner Flucht. Er wüsste nicht, wohin er gehen solle, er würde quasi auf der Straße leben, es gebe auch keine richtigen Ausbildungsmöglichkeiten. Nach 20 Uhr gebe es eine Ausgangssperre. Nach seinem letzten Wort bzw. zu etwaigen weiteren Asylgründen befragt erklärte der Kläger, er könne im Moment nicht richtig klar denken.

Mit Bescheid vom 16. Mai 2011 (Blatt 84 ff. BA) lehnte das BAMF den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab (Ziffer 1), stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen (Ziffer 2), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 3) und forderte den Kläger zur Ausreise mit Abschiebungsandrohung zuvorderst nach Afghanistan auf (Ziffer 4). Die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter seien nicht erfüllt, weil der Kläger erklärt habe, auf dem Landweg, somit also über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist zu sein. Es bestehe auch kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Aus dem Vorbringen des Klägers ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass er sich vor begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftsstaates aufhalte oder bei Rückkehr dorthin mit politischen Verfolgungsmaßnahmen rechnen müsse. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor (wird weiter ausgeführt).

Dieser Bescheid wurde am 19. Mai 2011 als Einschreiben zur Post gegeben.

Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 20. Mai 2011, bei Gericht eingegangen am 23. Mai 2011, ließ der Kläger hiergegen Klage erheben und beantragen

I. Der Bescheid des Bundesamtes vom 16.5.11, Aktenzeichen ..., zugestellt am 20.5.11, wird in Ziff. 3 aufgehoben, soweit Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 7 AufenthG verneint werden.

II. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetzes vorliegen.

Mit Schreiben vom 25. Mai 2011 beantragte die Beklagte,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

Mit Beschluss vom 10. Juni 2011 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen und mit Ladungsschreiben vom selben Tag den Beteiligten mitgeteilt, welche Auskünfte sachkundiger Stellen in das Verfahren eingeführt wurden.

Mit Telefax seiner Bevollmächtigten vom 20. Juni 2011 ließ der Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten beantragen. Mit Beschluss vom gleichen Tag wurde dem Kläger antragsgemäß Prozesskostenhilfe bewilligt.

Wegen der mündlichen Verhandlung vom 27. Juni 2011 wird auf die Sitzungsniederschrift und wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und auf die beigezogene Bundesamtakte verwiesen.

Gründe

Die sachdienlich nach dem Begehren auszulegende Klage auf Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist zulässig und begründet, weil dem Kläger ein entsprechender Anspruch zukommt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Insoweit ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig und aufzuheben, hinsichtlich der Abschiebungsandrohung bezüglich der Zielstaatsbezeichnung Afghanistan.

Über den weiter hilfsweise gestellten Klageantrag auf Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, also der Frage, ob für den Kläger in seiner Heimatregion eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, ist daher nicht mehr zu entscheiden.

1. Dem Kläger steht der begehrte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu, da er im Falle seiner Rückkehr in seine Herkunfts-/Heimatregion als Angehöriger der Zivilbevölkerung im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt wäre und eine interne Schutzmöglichkeit für ihn nicht besteht.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Nach eigenen Angaben des Klägers war er vor seiner Ausreise aus Afghanistan in der Provinz (...) ... im Distrikt ... im Dorf ... wohnhaft. Hierauf ist in diesem Zusammenhang abzustellen, weil dem Kläger in erster Linie eine Rückkehr dorthin zuzumuten wäre. Es ist davon auszugehen, dass in der Herkunfts-/Heimatregion des Klägers ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt stattfindet (a.). Der innerstaatliche Konflikt verdichtet sich nach Auffassung des Gerichts für den Kläger auch zu einer erheblichen individuellen Gefahr (b.). Schließlich kann der Kläger auf Grund der individuellen Gegebenheiten keinen internen Schutz finden (c.).

a. Bei entsprechend wertender Betrachtung der in das Verfahren eingeführten Auskünfte zur Sicherheitslage in Afghanistan ist davon auszugehen, dass in der Herkunfts-/Heimatregion des Klägers - der Provinz (...) ..., Distrikt ... - ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt stattfindet.

Bei der Auslegung, wann ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, ist Art. 15 lit. c RL 2004/83/EG zu berücksichtigen. Es sind zudem die vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht von 1949 und das Zusatzprotokoll II von 1977 heranzuziehen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegsauseinandersetzungen oder Guerillakämpfe kennzeichnend sind, und damit über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen, wobei sich aber der innerstaatliche Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken muss und es daher vielmehr genügt, dass bewaffnete Gruppen Kampfhandlungen in einem Teil des Hoheitsgebiets durchführen (BVerwG vom 24.6.2008, vom 5.2.2009, vom 14.7.2009 und vom 27.4.2010, zitiert nach juris).

Nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften stellt sich die Sicherheitslage in Afghanistan allgemein und speziell im Zentrum des Landes, wozu die Provinz (...) ..., die Herkunftsregion des Klägers, zählt, wie folgt dar:

Nach dem Auswärtigen Amt (Lageberichte vom 3.2.2009, vom 28.10.2009, vom 27.7.2010 und zuletzt vom 9.2.2011) ist die Lage in Afghanistan unverändert weder sicher noch stabil. Die Daten würden seit 2006 eine stete Zunahme sicherheitsrelevanter Vorfälle belegen. Der landesweite Trend zeige für 2010 eine weitere Zunahme sicherheitsrelevanter Ereignisse um 30 bis 50 % gegenüber dem Vorjahr. Auf Grund der militärischen Operationen besonders im Südwesten und Süden des Landes (Helmand und Kandahar) sei auch für 2010 ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen gewesen. UNAMA habe berichtet, dass im ersten Halbjahr 2010 die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 31 % angestiegen sei. Die Sicherheitslage in Afghanistan variiere regional von Provinz zu Provinz und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt. Während im Südwesten, Süden und Südosten des Landes Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte gegen die Zentralregierung und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen würden, seien dies im Norden und Westen häufig Rivalitäten lokaler Machthaber, die in Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften verstrickt seien. Internationale Truppen der ISAF sowie des US-Anti-Terror-Kommandos OEF würden die radikal-islamistischen Gruppierungen vor allem im Süden (Helmand, Kandahar, Uruzgan) und Osten (Kunar, Khost, Paktika, Paktia) des Landes bekämpfen. Die Infiltration islamistischer Kräfte (u.a. Taliban) aus dem pakistanischen Siedlungsgebiet der Paschtunen nach Afghanistan halte an, das Rekrutierungspotential in afghanischen Flüchtlingslagern auf pakistanischem Territorium wie auch in Teilen der paschtunischen Bevölkerung im Süden und Osten Afghanistans scheine ungebrochen. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen hätten seit 2008 auch auf Gebiete übergegriffen, die bislang nicht bzw. kaum betroffen gewesen seien. Dies gelte insbesondere für zentrale Provinzen um Kabul (Wardak, Logar, Kapisa).

Nach dem Bericht der D-A-CH Kooperation Asylwesen von Juni 2010, der Auskünfte über die Sicherheitslage in Afghanistan allgemein und speziell in den Provinzen Balkh, Herat und Kabul beinhaltet, gibt die sich in den letzten Jahren verschlechternde Sicherheitslage Anlass zur Sorge. Knapp 6.000 Zivilisten seien 2009 getötet oder verletzt worden. Das sei die höchste Zahl seit dem Sturz der Taliban 2001. Der Schwerpunkt der Kampfhandlungen liege dabei im Süden und Osten des Landes. Ein weiterer Bericht der D-A-CH Kooperation Asylwesen von März 2011 beschäftigt sich speziell mit der Sicherheitslage in Ghazni und Nangarhar. Danach habe die Gewalt in Afghanistan im Jahresvergleich um 64 % weiter zugenommen. Bemerkenswert sei die Zunahme um 234 % in der Provinz Ghazni.

Im „Afghanistan Update“ der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von August 2010 ist dargelegt, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan das fünfte Jahr in Folge verschlechtert hat. Während 2008 pro Monat im Durchschnitt 741 Gewaltakte verzeichnet worden seien, seien es 2009 960 gewesen. Im Januar 2010 seien diese im Vergleich zum Vorjahr erneut um 40 Prozent gestiegen. Gemäß Angaben der UNO hätten die gewaltsamen Auseinandersetzungen 2009 2.412 Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert. Die Zivilbevölkerung leide zusehends auch an den Nebeneffekten der Kriegshandlungen. Dazu gehöre eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die den Zugang zu wichtigen Institutionen wie Gesundheitseinrichtungen und Schulen erschwere oder verunmögliche. Weitverbreitete Ermordungen, Einschüchterungen und Bombenanschläge würden die Sicherheitslage in den südlichen und östlichen Provinzen prägen. Seit dem Beginn der Offensive im Süden Afghanistans habe sich die Situation dort drastisch verschlechtert. In Helmand, Kunar, Ghazni, Kandhar und Khost sei die Sicherheitslage am schlechtesten. Hekatyars Hezb- Islami, die vor allem im Osten und in einigen nördlichen Gebieten operierten, würden neben den Taliban und dem Haqqni-Netzwerk als einer der härtesten Gegner der Regierung und der Nato-Gruppen gelten. Regierungsfeindlichen Gruppierungen sei es inzwischen gelungen, sich auch in den Provinzen Wardak, Parwan, Kabul und Kapisa auszubreiten.

Nach dem Fortschrittsbericht Afghanistan von Dezember 2010 hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan seit 2006 stetig verschlechtert. Sie sei jedoch durch große regionale wie saisonale Unterschiede geprägt. Die stetig wachsende Militärpräsenz habe bisher nicht zu einer signifikanten und nachhaltigen Verbesserung der Sicherheitslage geführt. Die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle habe seit 2006 kontinuierlich zugenommen. Die Bedrohung in Afghanistan sei weiterhin erheblich. Die Zahl der Zwischenfälle habe in den ersten drei Quartalen 2010 im Verhältnis zum Vorjahr landesweit um 95 % zugenommen. Die seit Jahren erkennbare Zweiteilung der Sicherheitslage in einen verhältnismäßig ruhigeren Norden und Westen und einen deutlich unruhigeren Süden, Südwesten und Osten des Landes (etwa 90 % der Vorfälle) gelte weiterhin. Dennoch habe sich in Nord Afghanistan die Anzahl der Zwischenfälle 2010 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Dies spiegle zum einen die schlechte Sicherheitslage in den Provinzen Kundus, Baghlan und Faryab wider, liege aber auch in der erhöhten Operationsdichte von ISAF begründet. Ein bereits jetzt sichtbarer Erfolg der gemeinsamen Bemühungen sei die Sicherheitslage in der Hauptstadt Kabul. Diese gehöre trotz vereinzelter spektakulärer Anschläge weiterhin zu den relativ stabilen Landesteilen. Die Anzahl der Sicherheitszwischenfälle habe sich auch 2010 nicht erhöht. Auf Grund des enormen Medieninteresses und der Dichte an „Hochwertzielen“ werde jedoch Kabul weiterhin im Fokus regierungsfeindlicher Kräfte bleiben, als Schauplatz für spektakuläre Anschläge.

Nach dem UNHCR (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - Zusammenfassende Übersetzung - 10.11.2009) ist die gegenwärtige Lage in Afghanistan durch einen sich intensivierenden bewaffneten Konflikt sowie durch damit einhergehende schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. Der stärkste Wandel im bewaffneten Konflikt zeige sich in den zentralen Provinzen um Kabul, nämlich in Wardak, Logar und Kapisa. Die Anzahl der Sicherheitsvorfälle habe von 485 zwischen Januar und August 2007 auf 806 in demselben Zeitraum in 2008 zugenommen. Der Süden und Südosten Afghanistans sei nach wie vor am stärksten von den schweren Kämpfen betroffen. In den Provinzen Helmand und Kandahar im Süden, wo die Taliban am stärksten aktiv seien, komme es zu heftigen Kampfhandlungen. Der Konflikt in den südlichen, südöstlichen und östlichen Regionen des Landes habe zu Vertreibungen und etlichen Todesopfern geführt. Es gebe Berichte über wahllose gewalttätige Übergriffe, insbesondere in Khost und der Umgebung von Khost. Der bewaffnete Konflikt dauere in den südöstlichen und östlichen Provinzen angesichts der Präsenz der Taliban (insbesondere das Haqqani Netzwerk), Al-Qaida und Hezb-e-Islami (Gulbuddin) an. Darüber hinaus werde die Zivilbevölkerung durch Selbstmordanschläge getroffen, auch wenn diese meist auf staatliche und militärische Angriffsziele gerichtet seien. Die gesamte Provinz ... und die Straßen innerhalb der Provinz würden als unsicher eingestuft (Die Sicherheitslage in Afghanistan mit Blick auf die Gewährung ergänzenden Schutzes, Oktober 2008).

Eine Wertung dieser Auskunftslage führt dazu, dass in der Herkunft-/Heimatregion des Klägers - der Provinz (...) ... - vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im oben genannten Sinne ausgegangen werden kann. Zwar liegt nach den genannten Auskünften der Schwerpunkt der Kampfhandlungen im Süden und Osten. In letzter Zeit sind aber auch in die Zentralregion verstärkt die Taliban und andere Regierungsgegner eingesickert. Dies gilt insbesondere auch für die Provinz ... Die gewalttätigen Auseinandersetzungen haben seit 2008 auch auf dieses Gebiet übergegriffen.

b. Für den Kläger besteht nach Überzeugung des Gerichts auf Grund des in seiner Herkunfts-/Heimatregion stattfindenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auch eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben.

Ist vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen, muss festgestellt werden, ob der Ausländer von dem bewaffneten Konflikt auch individuell bedroht ist (BVerwG a.a.O.). Für eine individuelle Bedrohung sollen allgemeine mit dem bewaffneten Konflikt im Zusammenhang stehende Gefahren entsprechend dem Erwägungsgrund 26 der QRL und nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG allein nicht genügen (BT-Drs. 16/5065). Nach der unter dem Gesichtspunkt der richtlinienkonformen Auslegung (BVerwG a.a.O.) beachtlichen Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 17.2.2009, zitiert nach juris) kann das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Ausländers (selbst bei entsprechenden allgemeinen Gefahren) ausnahmsweise aber dann als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Es muss also - auch unionsrechtlich - eine insoweit auch individuell besonders exponierte Gefahrensituation vorliegen (Hailbronner § 60 AufenthG RdNr. 183; BVerwG vom 27.4.2010, zitiert nach juris). Es muss sich diese Gefahr in der Person des Ausländers daher vergleichbar der Situation bei der Gruppenverfolgung verdichtet haben, was sich aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen selbst oder ausnahmsweise auch bei Eintritt der bezeichneten außergewöhnlichen Situation ergeben kann; bei letzterer Betrachtung ist auf die Herkunftsregion des Ausländers abzustellen, in die er typischerweise zurückkehrt (EuGH vom 17.2.2009 und BVerwG vom 14.7.2009, zitiert nach juris). Um die Gefahrendichte in der jeweiligen Herkunfts-/Heimatregion feststellen zu können, bedarf es einer annäherungsweisen quantitativen Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden. Es ist eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG vom 27.4.2010, zitiert nach juris).

Nach diesen Grundsätzen ist auf Grund einer wertenden Gesamtbetrachtung der Auskunftslage infolge des in der Herkunfts-/Heimatregion des Klägers stattfindenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben des Klägers schon durch die bloße Anwesenheit dort anzunehmen.

Nach dem Jahresbericht 2009, dem Halbjahresbericht 2010 und dem Jahresbericht 2010 der UNAMA waren in der Zentralregion insgesamt 280 getötete Zivilisten im Jahr 2009, 103 getötete Zivilisten im ersten Halbjahr 2010 und 231 getötete Zivilisten im gesamten Jahr 2010 zu verzeichnen. Nach dem Bericht der AIHRC über die ersten sieben Monate des Jahres 2010 wurden insgesamt 1.325 solcher ziviler Zwischenfälle gemeldet, davon 11 aus dem zentralen Hochland und 141 aus der Zentralregion. ANSO geht für den Zeitraum Januar bis September 2010 von 1.862 getöteten Zivilisten in Afghanistan aus. Weitere Angaben hinsichtlich der Verletzten enthalten diese Quellen nicht. Für Gesamt-Afghanistan wurden von UNAMA jedoch für das Jahr 2009 2.412 getötete und 3.566 verletzte Zivilisten, für das Jahr 2010 2.777 getötete und 4.343 verletzte Zivilisten gemeldet. Nach dem Jahresbericht 2010 des ARM wurden wenigstens 2.421 afghanische Zivilisten getötet und über 3.270 verletzt.

Insgesamt scheinen die Zahlen aus der Zentralregion im Verhältnis zu den Zahlen aus den Regionen Süd, Südost und Ost zwar nur ein Mittelmaß an Gefährdung zum Ausdruck zu bringen. Dies lässt sich auch aus dem dritten und vierten Quartalsbericht 2010 des ANSO entnehmen. Danach gab es im Jahr 2009 414 und im Jahr 2010 511 Angriffe Aufständischer in der Provinz (Maidan) Wardak. Gleichwohl wird die Provinz (Maidan) Wardak bezogen auf das gesamte Jahr 2010 zwar nicht als „extremely insecure“ (äußerst unsicher), aber doch als „highly insecure“ (höchst unsicher) eingestuft. Die Einschätzung des ANSO zur aktuellen Sicherheitslage im ersten Quartalsbericht 2011 mit der (nur) dritten Stufe „moderately insecure“ muss sich nach Überzeugung des Gerichts für das Jahr 2011 und damit längerfristig erst bestätigen. In Anbetracht einer amtlich geschätzten Gesamtbevölkerung in der Provinz (Maidan) Wardak von über 540.000 Menschen und von über 44.000 Menschen im Distrikt Jalrez kann bei der hier erforderlichen Gesamtbewertung der in den Auskünften beschriebenen Sicherheitssituation und der Zahl der Toten und Verletzten (deren Dunkelziffer höher liegen dürfte) im Hinblick auf eine Gefährdung von Leib und Leben eine konkrete individuelle Gefahr im vorgenannten Sinn durch die bloße Anwesenheit dort nicht ausgeschlossen werden, sondern ist dort nach Überzeugung des Gerichts vielmehr anzunehmen.

Hinzu kommt, dass der Kläger noch minderjährig ist. Es liegt daher nach Meinung des Gerichts auch eine besonders hohe individuelle Gefährdungssituation vor. Da er nach eigenen Angaben - an denen zu Zweifeln kein Anlass besteht - keine Familienangehörigen in Afghanistan mehr hat, wäre er als alleinstehender Minderjähriger bei einer Rückkehr in seine Herkunfts-/Heimatregion in besonderer Weise aufgrund der dortigen aktuellen Situation einer Leibes- und Lebensgefahr ausgesetzt.

c. Auf Grund der hier vorliegenden individuellen Gegebenheiten ist schließlich nicht davon auszugehen, dass für den Kläger eine interne Schutzmöglichkeit besteht.

Sofern einem Schutzsuchenden ein Ausweichen in eine sichere Region seines Heimatlandes auf Grund seiner persönlichen Umstände möglich und zumutbar ist, kann er auf internen Schutz nach Art. 8 und Art. 15 lit. c RL 2004/83/EG verwiesen werden. Der Schutzsuchende muss am Zufluchtsort aber eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden, d.h. es muss zumindest (in faktischer Hinsicht) das Existenzminimum gewährleistet sein, was er unter persönlichen zumutbaren Bemühungen sichern können muss. Das gilt auch, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Unerheblich ist, ob eine Gefährdung am Herkunftsort in gleicher Weise besteht. Darüber hinaus ist erforderlich, dass das Zufluchtsgebiet für den Schutzsuchenden erreichbar ist (BT-Drs. 16/5065 S. 185; BVerwG vom 31.8.2006 und vom 29.5.2008, zitiert nach juris).

Eine solch interne Schutzmöglichkeit ist nach Auffassung des Gerichts unter Bewertung der Auskunftslage nur dann zumutbar und möglich, wenn der Schutzsuchende auch außerhalb seiner Herkunftsregion auf familiäre oder stammesbezogene Verbindungen zurückgreifen kann. So führt das Auswärtige Amt aus, dass ein Ausweichen einer Person im Land vor einer maßgeblichen Gefährdung maßgeblich von dem Grad ihrer sozialen Vernetzung sowie von der Verwurzelung im Familienverband oder Ethnie abhängt (ständige Lageberichterstattung, zuletzt vom 9.2.2011). Der UNHCR geht davon aus, dass eine interne Schutzalternative grundsätzlich nicht gegeben ist. Bei Verfolgung durch lokale Kommandeure und bewaffnete Gruppen seien diese oftmals in der Lage, ihren Einfluss auf Grund ihrer Verbindungen zu mächtigeren Akteuren auch auf zentraler Ebene über die lokalen Gebiete hinaus auszudehnen, wobei staatliche Behörden größtenteils keinen Schutz gewährleisten können. Vielmehr stellen erweiterte Familien- oder Gemeinschaftsstrukturen innerhalb der afghanischen Gesellschaft die vorwiegende Mittel für Schutz, wirtschaftliches Überleben sowie Zugang zu Wohnmöglichkeiten dar, weshalb eine Umsiedlung voraussetze, dass solche tatsächlichen Verbindungen dort bestünden (Stellungnahme von Januar 2008, vom 10.11.2009 und vom 30.11.2009 an BayVGH). Nach der Schweizerischen Flüchtlingshilfe seien ein gutes Familiennetz sowie zuverlässige Stammes- oder Dorfstrukturen die wichtigste Voraussetzung, um bei einer Rückkehr sicher und auch wirtschaftlich überleben zu können. Sozialversicherungen existierten in Afghanistan nicht. Oftmals stießen Rückkehrer wegen nicht gelöster Landfragen auf erhebliche Probleme (Updates vom 21.8.2008, vom 11.8.2009 und vom 11.8.2010).

Vorliegend ist dem Kläger eine interne Schutzmöglichkeit nach diesen Grundsätzen nicht möglich und nicht zumutbar, weil nicht ersichtlich ist, dass er außerhalb seiner Heimatregion noch Verwandte hat. Er hat insofern in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass seine gesamte Familie bei einem amerikanischen Angriff durch eine Bombe getötet wurde und es weitere Verwandte in Afghanistan nicht gebe. Er müsste daher ohne verwandtschaftliche (und stammesbezogene) Unterstützung leben, so dass eine Existenzsicherung für den noch minderjährigen Kläger nach den eben dargestellten Auskünften nicht möglich erscheint.

2. Nach § 34 Abs. 1 AsylVfG i.V.m § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist in der Abschiebungsandrohung der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Daraus folgt, dass die positive Bezeichnung des fraglichen Staats als Zielstaat in der Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist, und zwar wie Satz 3 dieser Vorschrift zeigt, auch dann, wenn das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots feststellt. Dann bleibt zwar die Abschiebungsandrohung nach Satz 3 dieser Vorschrift im Übrigen unberührt, die Zielstaatsbezeichnung ist aber als rechtswidrig aufzuheben. Wann ein Ausländer im Sinne von § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht in einen bestimmten Zielstaat abgeschoben werden darf, ist den Bestimmungen über die zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote in § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG zu entnehmen. Bei den sog. zwingenden Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 Satz 2 AufenthG führt eine positive Entscheidung über das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots hinsichtlich eines Staates demnach zur Rechtswidrigkeit der Zielstaatsbezeichnung dieses Staates in der Abschiebungsandrohung (BVerwG vom 11.9.2007, zitiert nach juris).

Nach diesen Grundsätzen ist hier wegen der vorgenannten Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die im angefochtenen Bescheid unter Ziffer 4 erfolgte Zielstaatsbezeichnung Afghanistan in der Abschiebungsandrohung aufzuheben. Dies kommt im Urteilstenor zum Ausdruck, weil dort die „entsprechende“ Aufhebung verfügt ist.

Nach alledem ist der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83 b AsylVfG.

Beschluss:

Der Gegenstandswert beträgt 3.000 EUR, § 30 RVG.

Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG

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