Bayerischer VGH, Urteil vom 04.02.2011 - 1 BV 08.131
Fundstelle
openJur 2012, 114060
  • Rkr:
Tenor

I. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 27. November 2007 wird geändert. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in derselben Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger sieht sich durch eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung in seinen Nachbarrechten verletzt. Im Berufungsverfahren wendet sich der Beklagte dagegen, dass das Verwaltungsgericht die Baugenehmigung auf die Anfechtungsklage hin aufgehoben hat.

1. Der Kläger ist Eigentümer des entlang seiner nordöstlichen und seiner südöstlichen Grundstücksgrenze mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. 266 Gemarkung M…. An den unregelmäßig geschnittenen südwestlichen Teil dieses Grundstücks schließt sich auf der Nordwestseite das mit einem Wohnhaus bebaute Grundstück Fl.Nr. 265 des Beigeladenen an. Beide Grundstücke liegen im dicht bebauten historischen Zentrum der Stadt M…. Das Grundstück des Klägers wird von der N…gasse erschlossen, das des Beigeladenen von der B…gasse.

Die Baugenehmigung für die Bebauung auf dem Grundstück des Klägers wurde mit Bescheid des Landratsamts M… vom 7. Oktober 1992 erteilt. Durch eine mit der Genehmigung verbundene „Befreiung“ von Art. 6 Abs. 4 BayBO F. 1982 wurde die nach Nordwesten zum Grundstück des Beigeladenen einzuhaltende Abstandsfläche in einem Umfang von 23 m² so verkürzt, dass sie auch in dem Bereich, in dem sich das Grundstück Fl.Nr. 266 zugunsten des Grundstücks Fl.Nr. 265 verschmälert, auf dem Baugrundstück eingehalten werden kann.

Mit Bescheid vom 14. März 2006 erteilte das Landratsamt dem Beigeladenen im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß Art. 73 BayBO 1998 die Baugenehmigung für den Umbau des Wohnhauses auf dem Grundstück Fl.Nr. 265. Die genehmigten Bauzeichnungen sehen eine Erhöhung des Dachgeschosses durch eine Anhebung des Kniestocks auf das Niveau der Traufe des Gebäudes auf dem nordöstlich benachbarten Grundstück Fl.Nr. 263 vor. Die Höhe der dem Grundstück des Klägers zugewandten südöstlichen Giebelwand („Hofseite“) beträgt nach den genehmigten Plänen 8,30 m, die Firsthöhe 12,70 m. Für die Abstandsflächen auf der Nordwest- und der dem Anwesen des Klägers zugewandten Südostseite wurde eine Abweichung von Art. 6 Abs. 4 BayBO 1998 zugelassen. Der Teil der Abstandsfläche, der sich nach der damaligen Rechtslage ohne die Abweichung auf das Grundstück des Klägers erstreckt hätte, ist etwa 58 m² groß.

Den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 14. März 2006 wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 16. April 2007 zurück. Seinen im April 2007 gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz lehnte das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 14. Mai 2007 ab. Auf die Beschwerde des Klägers hin änderte der Verwaltungsgerichtshof diese Entscheidung und ordnete mit Beschluss vom 19. Juli 2007 (Az. 1 CS 07.1340, NVwZ-RR 2008, 84 = BRS 71 Nr. 178) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wegen erheblicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften an. Das Vorhaben war bereits damals weitgehend ausgeführt.

Im Klageverfahren hob das Verwaltungsgericht die Baugenehmigung vom 14. März 2006 und den Widerspruchsbescheid vom 16. April 2007 mit Urteil vom 27. November 2007 auf. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Wegen der geplanten Erhöhung der Giebelfläche im Bereich des Daches sei die abstandsflächenrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens in vollem Umfang neu zu prüfen. Das Bauvorhaben verstoße gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO 1998, weil es auf seiner Südostseite die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalte. Dieser Verstoß werde durch die zugelassene Abweichung nicht ausgeräumt. Die Voraussetzungen des Art. 70 Abs. 1 BayBO 1998 lägen nicht vor. Zwar handele es sich wegen der Lage im eng bebauten historischen Ortskern um eine atypische Grundstückssituation. Die Abweichung sei aber nicht mit den nachbarlichen Interessen vereinbar. Das Interesse des Klägers, keine weitere Verschlechterung der Abstandsflächensituation hinzunehmen, sei gegenüber dem Interesse des Beigeladenen, durch die Renovierung seines Anwesens im ersten und zweiten Obergeschoss und durch den Einbau eines Fahrstuhls zeitgemäßen Wohnraum zu schaffen, vorrangig. Das Gewicht der Interessen des Klägers werde nicht dadurch geschmälert, dass bei der Errichtung seines eigenen Gebäudes ebenfalls eine Abweichung von den Abstandsflächen zugelassen worden sei. Denn der Umfang, in dem die Abstandsflächen auf dem jeweiligen Nachbargrundstück liegen, sei beim Gebäude des Klägers deutlich kleiner als beim Gebäude des Beigeladenen.

2. Am 8. August 2008 hat die Stadt M… eine „Abstandsflächensatzung gemäß Art. 6 Abs. 7 BayBO zur abweichenden Regelung der Abstandsflächen für den Altstadtkern“ beschlossen. Die am 11. August 2008 bekannt gemachte Satzung hat folgenden Wortlaut:

„§ 1 Regelung abweichender Abstandsflächen

Im räumlichen Geltungsbereich dieser Satzung wird abweichend von Art. 6 Abs. 4 Sätze 3 und 4, Abs. 5 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 6 BayBO in der Fassung der Bekanntmachung vom 14.08.2007 (GVBl. S. 588) vorgesehen, dass

1. nur die Höhe von Dächern mit einer Neigung von weniger als 70 Grad zu einem Drittel, bei einer größeren Neigung der Wandhöhe voll hinzugerechnet und

2. die Tiefe der Abstandsfläche 0,4 H, mindestens 3 m, und in Gewerbe- und Industriegebieten 0,2 H, mindestens 3 m, beträgt. Das Schmalseitenprivileg entfällt.

§ 2 Räumlicher Geltungsbereich

Der räumliche Geltungsbereich dieser Satzung ist in dem beigefügten Lageplan i.d.F. v. 14.07.2008 dargestellt. Dieser Lageplan ist wesentlicher Bestandteil dieser Satzung.

§ 3 Inkrafttreten

Die Satzung tritt am Tage nach Ihrer Bekanntmachung in Kraft.“

Die Grundstücke des Beigeladenen und des Klägers liegen im Geltungsbereich dieser Satzung.

Im Hinblick auf die Abstandsflächensatzung hat das Landratsamt dem Beigeladenen auf einen Tekturantrag hin mit Bescheid vom 22. Juli 2009 eine weitere Genehmigung mit einer Abweichung von den abstandsflächenrechtlichen Anforderungen erteilt. Nach den dieser Genehmigung zugrundeliegenden Bauvorlagen hat der Teil der nach der Vorschriften der Abstandsflächensatzung berechneten Abstandsfläche, der ohne die Abweichung auf dem Grundstück des Klägers läge, eine Größe von 2,34 m². In der mündlichen Verhandlung vom 3. August 2010 hat der Beklagte die Ermessenserwägungen im Bescheid vom 22. Juli 2009 ergänzt.

3. Zur Begründung der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung macht der Beklagte im Wesentlichen geltend: Das Verwaltungsgericht hätte schon nach der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung gegebenen Sach- und Rechtslage der Klage nicht stattgeben dürfen. Das öffentliche Interesse und das Interesse des Beigeladenen überwögen die Belange des Klägers. Die Sanierung und Modernisierung der historischen Bausubstanz mit dem Ziel, Wohnraum für behinderte oder alte Personen zu schaffen, lägen auch im öffentlichen Interesse. Es sei absehbar, dass historische Ortskerne zunehmend von älteren Menschen bewohnt würden, die auf barrierefreie und behindertengerechte Wohnräume angewiesen seien. Da die „Überfahrt“ des eingebauten Fahrstuhls aus städtebaulichen und denkmalschutzrechtlichen Gründen nicht über die Dachhaut des Gebäudes hinausreichen dürfe, habe der Kniestock des Gebäudes angehoben werden müssen. Bei Erteilung der ursprünglichen Baugenehmigung seien Fahrstühle ohne „Überfahrt“ noch nicht auf dem Markt gewesen. Im Übrigen verursachten derartige Spezialfahrstühle erhebliche Mehrkosten. Eine Verschiebung des Auszugschachtes in den Firstbereich des Gebäudes wäre mit einem erheblichen Eingriff in die historische Gebäudesubstanz verbunden gewesen. Bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Zulassung der Abweichung vorzunehmenden Interessenabwägung könnten auch personenbezogene Aspekte berücksichtigt werden. Zu berücksichtigen sei außerdem, dass auf dem Grundstück des Klägers letztlich nur eine Wandfläche ohne Fenster im Sommer für die Dauer von einer Stunde verschattet werde. Nach der Abstandsflächensatzung der Stadt M… vom 8. August 2008 betrage die Abstandsflächenüberschreitung nur rund 2 m².

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 27. November 2007 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt zuletzt,

die Berufung des Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass Ziffer I der Entscheidungsformel des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 27. November 2007 wie folgt gefasst wird:

„Die Baugenehmigung des Landratsamts Mühldorf am Inn vom 14. März 2006 in der am 3. August 2010 ergänzten Fassung des Bescheids vom 22. Juli 2009 sowie der Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberbayern vom 16. Februar 2007 werden aufgehoben.“

Der Kläger hält die Baugenehmigung auch in der Fassung, die sie durch den am 3. August 2010 ergänzten Bescheid vom 22. Juli 2009 erhalten hat, für nachbarrechtswidrig. Die Behauptung des Beklagten, dass die „Überfahrt“ des Fahrstuhls nicht über die Dachhaut hinausreichen dürfe, treffe nicht zu, wie Dachaufbauten in der Umgebung zeigten. Unzutreffend sei auch, dass die Unterbringung des Fahrstuhls eine Anhebung des Kniestocks erfordere. Es gebe Fahrstuhltypen ohne „Überfahrt“. Auch sei eine Verschiebung des Fahrstuhls in die Gebäudemitte möglich und zumutbar. Der Einbau einer nur durch eine Treppe erreichbaren Galerie und das überdimensionierte Dachflächenfenster sprächen dafür, dass der Beigeladene mit der Umbaumaßnahme in erster Linie wirtschaftliche Ziele verfolge. Das Bauvorhaben halte auch nach der Reduzierung der Abstandsflächen auf 0,4 H durch die Abstandsflächensatzung die erforderlichen Abstände nicht ein. Schon die Wirksamkeit der Satzung sei fraglich; jedenfalls sei eine weitere Reduzierung des Mindeststandards der Satzung durch Zulassung einer Abweichung unzulässig. Durch das Vorhaben würden im Sommer und im Winter die Nordwestseite des Gebäudes des Klägers und die Hoffläche, die von den Mietern des Klägers mitgenutzt werden dürfe, jeweils um etwa eine halbe Stunde früher verschattet.

Der Beigeladene unterstützt die Berufung des Beklagten. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus: Die Abweichung sei mit den öffentlichen und privaten Belangen vereinbar. Im Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung sei ausschließliches Ziel der Umbaumaßnahme gewesen, alters- und behindertengerechten Wohnraum für die (inzwischen verstorbenen) gehbehinderten Angehörigen des Beigeladenen zu schaffen. Hierbei handele es sich um einen grundstücksbezogenen Aspekt, der auch im öffentlichen Interesse liege. Das Landesamt für Denkmalschutz habe seine zunächst negative Stellungnahme inzwischen geändert. Die Erhöhung des Kniestocks sei zum Einbau des Fahrstuhls erforderlich gewesen. Fahrstuhlmodelle mit reduziertem Schachtkopf würden erst seit Ende des Jahres 2007 auf dem Markt angeboten. Die Belange des Klägers müssten gegenüber den Interessen des Beigeladenen zurücktreten, weil nach Erlass der Abstandsflächensatzung die Abstandsflächenüberschreitung nur noch einen Umfang von rund 2 m² habe und weil die Beeinträchtigungen durch Verschattung nicht gravierend seien.

4. Der Senat hat am 17. März 2009 und am 3. August 2010 mündlich verhandelt. Auf eine weitere mündliche Verhandlung haben die Beteiligten verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die vom Beklagten vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden darf, hat Erfolg.

1. Gegenstand der Anfechtungsklage sind in der Berufungsinstanz nicht mehr die Baugenehmigung vom 14. März 2006 und der diese Entscheidung bestätigende Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2007. Die Klage richtet sich jetzt gegen den Bescheid vom 14. März 2006 in der Fassung des Bescheides vom 22. Juli 2009 mit den in der mündlichen Verhandlung vom 3. August 2010 zu Protokoll gegebenen Ergänzungen sowie gegen den Widerspruchsbescheid. Wie der Senat im Schreiben vom 16. Juni 2010 im Einzelnen erläutert hat, stellt der Bescheid vom 22. Juli 2009 keine selbständige Baugenehmigung dar, die an die Stelle der ursprünglichen Genehmigung getreten wäre; es handelt sich vielmehr um einen unselbständigen Tekturbescheid, der den Genehmigungsbescheid vom 14. März 2006 nur teilweise ändert. Der Kläger hat die Baugenehmigung in der Fassung des Tekturbescheids zulässigerweise zum Gegenstand seiner Anfechtungsklage gemacht, indem er die Zurückweisung der auf eine Abweisung der Klage zielenden Berufung des Beklagten mit der Maßgabe beantragt, dass die Genehmigung in der Fassung des Tekturbescheids aufgehoben werden soll. Die hierin liegende Klageänderung ist sachdienlich; außerdem haben die übrigen Beteiligten keine Einwände erhoben (§ 91 Abs. 1 VwGO).

2. Die Berufung hat Erfolg.

Für die Berufungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 3. August 2010 maßgeblich, in der der Beklagte die Ermessenserwägungen im Bescheid vom 22. Juli 2009 gemäß § 114 Satz 2 VwGO ergänzt hat. Infolge der Unselbständigkeit der Tekturgenehmigung kommt nach der Übergangsvorschrift des Art. 83 Abs. 1 BayBO hinsichtlich des Baugenehmigungsverfahrens allerdings noch Art. 73 BayBO 1998 zur Anwendung, so dass das Abstandsflächenrecht - gemäß Absatz 1 Nr. 1 dieser Vorschrift - weiterhin Genehmigungsmaßstab ist. Für die materiellrechtliche Beurteilung der allein strittigen abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens ist hinsichtlich der Tiefe der Abstandsflächen aber nicht mehr, wie bei Erteilung der Genehmigung vom 14. März 2006 und zum Zeitpunkt der erstinstanziellen Entscheidung, Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO 1998, sondern die ohne Übergangsregelung am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Vorschrift des Art. 6 Abs. 7 BayBO in Verbindung mit den Bestimmungen der Abstandsflächensatzung der Stadt M… vom 8. August 2008 maßgeblich. Danach muss die der Klage stattgebende Entscheidung des Verwaltungsgerichts geändert werden, weil dem Kläger kein Abwehrrecht gegen die Baugenehmigung in der Fassung des Tekturbescheids mehr zusteht. Der Kläger kann ihre Aufhebung nicht wegen Bestimmtheitsmängeln verlangen (a). Auf eine Verletzung der abstandsflächenrechtlichen Vorschriften könnte sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen, weil die Wohnbebauung auf seinem Grundstück die Abstandsflächen etwa in demselben Umfang nicht einhält (b).

a) Der Kläger kann die Aufhebung der Baugenehmigung vom 14. März 2006 in der Fassung des Bescheides vom 22. Juli 2009 mit den Ergänzungen vom 3. August 2010 nicht schon deswegen beanspruchen, weil sie hinsichtlich der unmittelbar seine Rechte berührenden abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeit nicht den Anforderungen des Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG an die Bestimmtheit eines Verwaltungsakts entsprechen würde. Eine Rechte des Klägers verletzende Unbestimmtheit läge selbst dann nicht vor, wenn dessen Zweifel, ob die in den Bauvorlagen dargestellte Wandhöhe den tatsächlich ausgeführten Maßen entspricht, berechtigt wären. Denn auch in diesem Fall wären die für die Abstandsflächenberechnung erforderlichen Maße in der Baugenehmigung eindeutig bestimmt. Eine hiervon abweichende Bauausführung wäre nicht von der Genehmigung gedeckt; sie wäre auch nicht Gegenstand der gegen die Baugenehmigung - und nicht gegen die tatsächliche Ausführung des Bauvorhabens - gerichteten Klage.

Soweit es für die abstandsflächenrechtliche Beurteilung erforderlich ist, ist das genehmigte Bauvorhaben in den mit Bescheid vom 22. Juli 2009 genehmigten Bauvorlagen eindeutig bestimmt. Genehmigt ist die Errichtung eines Gebäudes, dessen südöstliche, dem Grundstück des Klägers zugewandte Außenwand von der unregelmäßig verlaufenden gemeinsamen Grenze zwischen 5,75 m und 6,15 m bzw. 3,5 m und 3,75 m entfernt ist und das auf der Südostseite eine Wandhöhe (Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO) von 8,51 m und eine Giebelhöhe von 4,01 m aufweist. Die gemäß Art. 6 Abs. 7 BayBO bzw. den Vorschriften der Abstandsflächensatzung berechnete Tiefe der (die Giebelwand verkleinert um den Faktor 0,4 abbildenden) Abstandsfläche beträgt, wie in den genehmigten Bauvorlagen dargestellt, zwischen 3,40 m und 5,01 m. Ausgehend von dem in den Bauvorlagen dargestellten Standort der Außenwand läge eine 2,34 m² große Teilfläche dieser Abstandsfläche auf dem Grundstück des Klägers. Durch die mit dem Bescheid vom 22. Juli 2009 zugelassene Abweichung wurde die Abstandsfläche so verkleinert, dass sie vollständig auf dem Baugrundstück liegt.

Nach den dem Senat vorliegenden Akten ist anzunehmen, dass die der Abstandsflächenberechnung zugrundeliegenden Maße denen des vom Beigeladenen weitgehend fertig gestellten Gebäudes entsprechen. Denn im Verfahren hat sich kein Anhaltspunkt dafür ergeben, dass die von einem fachkundigen Bediensteten des Landratsamts bei einer Baukontrolle am 8. August 2007 ermittelten, in einem Aktenvermerk (Bl. 296 der Bauakten) festgehaltenen Höhenmaße des Gebäude unzutreffend sein könnten. Die vom Kläger (Anlage zum Schriftsatz vom 11.3.2008) bzw. - zu dessen Unterstützung - vom (am Verfahren nicht beteiligten) Kreisheimatpfleger (Anlage zum Schreiben vom 29.2.2008) vorgelegten Fotografien scheinen zwar zu belegen, dass der Kniestock um mehr als das in den Bauvorlagen angegebene Maß von rund 0,80 m erhöht wurde. Hieraus ergibt sich aber nicht zwingend, dass die Wandhöhe größer ist als 8,51 m. Denn die höhere Aufstockung kann auch darauf beruhen, dass der Altbestand niedriger war als er in den Bauvorlagen dargestellt wurde. Im Übrigen hat der Kläger das Maß von 8,51 m im weiteren Verlauf des Berufungsverfahrens nicht mehr in Frage gestellt (vgl. den Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 16.3.2009).

Aber selbst wenn die südöstliche Giebelwand tatsächlich höher wäre als sie in den Bauvorlagen dargestellt ist, deckt die Baugenehmigung nur eine Bauausführung ab, die die in den Bauvorlagen eindeutig bestimmten Maße einhält. In Zweifel zu ziehen wäre in diesem Fall allenfalls das Sachbescheidungsinteresse des Beigeladenen für den Tekturantrag. Angesichts des Verfahrensstandes bezweckt der Antrag allein die (nachträgliche) Genehmigung des nahezu vollständig errichteten Gebäudes. Es ist nicht ersichtlich, welches Interesse der Beigeladene an einer Baugenehmigung für eine vom vorhandenen Bestand abweichende Bauausführung haben könnte. Diese Frage muss aber nicht beantwortet werden; denn der Kläger wäre allein dadurch, dass der Beigeladene mit einer solchen Baugenehmigung einen Genehmigungsbescheid erhalten hätte, von dem er voraussichtlich keinen Gebrauch machen würde, nicht in seinen Rechten verletzt.

b) Ob, wie der Kläger meint, auch die mit dem Tekturbescheid zugelassene Abweichung von den nunmehr maßgeblichen abstandsflächenrechtlichen Anforderungen rechtswidrig ist, kann dahinstehen, weil sich der Kläger auf diesen Rechtsverstoß nicht berufen könnte.

37Der Senat folgt dem von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Rechtssatz, dass sich ein Nachbar nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu - gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 BayBO) zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. VGH BW vom 29.9.2010 Az. 3 S 1752/10 <juris>; vom 4.1.2007 BRS 71 Nr. 181). Nach diesem Maßstab stünde dem Kläger das geltend gemachte Abwehrrecht auch dann nicht zu, wenn die mit dem Tekturbescheid zugelassene Abweichung nicht den Anforderungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO entsprechen würde.

(1) Es ist nicht zu beanstanden, dass die Tiefe der vor der südöstlichen Außenwand des Gebäudes des Beigeladenen einzuhaltende Abstandsfläche und - für einen Vergleich der beiden Abweichungen - die Tiefe der im südwestlichen Teil des Grundstücks des Klägers auf der Nordwestseite des Wohngebäudes anfallenden Abstandsfläche nach den Vorschriften der städtischen Abstandsflächensatzung in Verbindung mit Art. 6 Abs. 7 BayBO berechnet werden.

Die Satzung ist wirksam. Nach der durch das Änderungsgesetz 2008 in die Bayerische Bauordnung aufgenommenen „Experimentierklausel“ des Art. 6 Abs. 7 BayBO kann die Gemeinde durch eine Satzung eigener Art für ihr Gebiet oder Teile ihres Gebiets bestimmen, dass für die Berechnung der Tiefe der Abstandsfläche (abweichend von Art. 6 Abs. 4 Sätze 3 und 4, Abs. 5 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 6) der Wandhöhe nur die Höhe von Dächern - und zwar bei einer Dachneigung von weniger als 70 Grad zu einem Drittel und bei größerer Neigung voll - hinzugerechnet wird und dass die Tiefe der Abstandsfläche 0,4 H, mindestens 3 m, in Gewerbe- und Industriegebieten 0,2 H, mindestens 3 m, beträgt.

Die Einwände des Klägers gegen die Wirksamkeit der inhaltlich dieser Ermächtigung entsprechenden Satzung greifen nicht durch. Dass der eng bebaute Altstadtbereich von M… ein geeigneter Anwendungsfall für die Ermächtigung ist, steht außer Frage. Eine gesetzliche Verpflichtung zur vom Kläger vermissten Beteiligung des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege im Satzungsverfahren, deren Missachtung die Unwirksamkeit der Satzung zur Folge haben könnte, besteht nicht. Dass der Geltungsbereich am nördlichen und nordöstlichen Rand der Altstadt nicht bis zum Stadtbach ausgedehnt wurde, erscheint - auch im Hinblick auf das weite Ermessen des Satzungsgebers bei der Bestimmung des Geltungsbereichs - dadurch gerechtfertigt, dass die Bebauung auf den ausgesparten Flächen deutlich weniger dicht ist als auf den einbezogenen Flächen. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Stadt beim Erlass der Satzung von nicht sachgerechten Erwägungen leiten ließ, haben sich nicht ergeben. Was die Belange des Denkmalschutzes anbelangt, so ist auch dem vom Kläger vorgelegten Schreiben des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege vom 30. April 2009 nicht zu entnehmen, dass diese nicht ausreichend berücksichtigt worden wären.

(2) Die Abstandsflächenüberschreitung durch das genehmigte Bauvorhaben und diejenige durch die dem Grundstück des Beigeladenen gegenüberliegende Wohnbebauung auf dem Grundstück des Klägers halten sich flächenmäßig etwa die Waage, wenn die Tiefe der Abstandsfläche jeweils nach der Satzung der Stadt berechnet wird.

Die Tiefe und die Gestalt der nach der Abstandsflächensatzung auf der Südostseite (Hofseite) des Gebäudes des Beigeladenen anfallenden Abstandsfläche sind in den mit dem Tekturbescheid genehmigten Bauvorlagen auf der Grundlage der am 8. August 2007 ermittelten Maße zutreffend dargestellt worden. Danach liegt eine dreiecksförmige Teilfläche von 2,34 m² auf dem Grundstück des Klägers.

Nach der im Anschluss an die mündliche Verhandlung vom 3. August 2010 im Beisein des Klägers von fachkundigen Bediensteten des Landratsamts an Ort und Stelle durchgeführten Bestandsaufnahme liegt von der Abstandsfläche des betroffenen Teils der Wohnbebauung des Klägers eine Teilfläche von 3,04 m² auf dem Grundstück des Beigeladenen. Das Maß von 0,4 H würde mit 2,55 m bzw. 2,57 m die vorhandenen Grenzabstände (etwa 2,50 m bzw. 2,35 m) zwar nur geringfügig überschreiten. Die berechnete Überschreitung von rund 3 m² ergibt sich aber dadurch, dass die Mindesttiefe der Abstandsfläche auch im Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 7 BayBO 3 m beträgt. Die Einwände des Klägers gegen diese Berechnung greifen nicht durch; vielmehr blieb eine sich zuungunsten des Klägers auswirkende Abweichung unberücksichtigt.

Da die Baumaßnahmen, in deren Zuge das Gelände auf dem Grundstück des Klägers auf das jetzt vorhandene Niveau abgegraben wurde (dazu noch im Folgenden), fast zwei Jahrzehnte zurückliegen, ist es nicht zu beanstanden, dass das Landratsamt bei der Ermittlung der Wandhöhe von dem tatsächlich vorhandenen Geländeniveau ausgegangen ist und nicht von dem früheren Niveau. Abgesehen davon, würde auch eine Berechnung der Wandhöhe mit dem früheren Niveau als unteren Bezugspunkt nichts daran ändern, dass die Mindestabstandsfläche 3 m beträgt. Zulasten des Klägers wirkt sich aus, dass ein Balkon (abweichend von der Baugenehmigung vom 7.10.1992) mit einem Teil seiner Fläche nicht den nach Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 Buchst. c BayBO erforderlichen Abstand von mindestens 2 m von der Grenze zum Grundstück des Beigeladenen einhält und deswegen insoweit wie ein abstandsflächenrechtlich relevanter Wandteil zu behandeln ist (BayVGH vom 29.11.2006 BRS 70 Nr. 126). Berücksichtigt man auch diese Überschreitung, vergrößert sich der auf dem Grundstück des Beigeladenen liegende Teil der Abstandsfläche um etwa 1 m², so dass der Überschreitung durch den Beigeladenen von 2,34 m² eine Überschreitung seitens des Klägers von rund 4 m² gegenübersteht.

(3) Die Abweichungen auf dem Baugrundstück und dem Nachbargrundstück halten sich etwa die Waage und führen nicht zu schlechthin untragbaren Zuständen.

Flächenmäßig überwiegt, wie dargelegt, sogar die Überschreitung durch das Wohnhaus des Klägers. Die unterschiedliche Höhenlage der Grundstücke - die Geländeoberfläche liegt auf dem Grundstück des Klägers rund 1 m tiefer als auf dem Grundstück des Beigeladenen - wirkt sich zwar zulasten des Klägers aus. Der Höhenunterschied beruht jedoch jedenfalls zum größten Teil darauf, dass der Kläger das Gelände bei Errichtung der Wohnbebauung abgegraben hat. Das ergibt sich aus den der Baugenehmigung vom 7. Oktober 1992 zugrundeliegenden Bauvorlagen. Während der Fußboden des Werkstattgebäudes, das früher in der südwestlichen Ecke des Grundstücks stand, 0,87 m über dem in den Bauvorlagen angenommenen Bezugspunkt (Höhenlage der Einfahrt in der N…gasse) lag, liegt das Gelände dort jetzt nur noch 0,17 m über dem Bezugspunkt. Der Kläger konnte eine der Höhe der südöstlich unmittelbar angrenzenden Bebauung noch ausreichend angepasste zweigeschossige Wohnbebauung im rückwärtigen Teil seines Grundstücks nur errichten, weil das Gelände in nicht unerheblichem Umfang abgegraben wurde. Aus diesem Grund wäre es nicht sachgerecht, den Höhenunterschied im Rahmen der am Grundsatz von Treu und Glauben orientierten vergleichenden Bewertung der Abweichungen ausschlaggebend zulasten des Beigeladenen zu berücksichtigen.

Die beidseitigen Abweichungen führen auch nicht zu - gemessen am Schutzzweck der Abstandsflächenvorschriften - schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen. Dies ergibt sich schon daraus, dass sich die nach der Abstandsflächensatzung berechneten Abstandsflächen (mit Ausnahme eines sehr kleinen Teils der erwähnten, vor dem Balkon des Klägers anfallenden Abstandsfläche) nicht überdecken (vgl. Art. 6 Abs. 3 Halbsatz 1 BayBO). Wenn sich der Kläger und der Beigeladene dazu durchringen könnten, in dem betroffenen Bereich eine Grenzregelung in der Weise vorzunehmen, dass sie die Teilflächen der Grundstücke, auf denen jeweils Teile der Abstandsflächen der Bebauung des Nachbarn liegen, tauschen, würden die seit dem Inkrafttreten der städtischen Satzung geltenden abstandsflächenrechtlichen Anforderungen auf Seiten des Beigeladenen vollständig und auf Seiten des Klägers mit der erwähnten, zu vernachlässigenden Einschränkung eingehalten. Dass die Nordwestseiten des Wohngebäudes des Klägers und dessen Hofflächen infolge des Umbaus der Wohnhauses des Beigeladenen, wenn man der Darstellung des Klägers folgt, etwa eine halbe Stunde früher im Schatten liegen, begründet noch keinen Missstand. Dass die Wohnungen in diesem Teil des Grundstücks ausschließlich von Nordwesten her belichtet werden, hat sich der Kläger selbst zuzuschreiben.

c) Wie die mit der Tekturgenehmigung zugelassene Abweichung zu beurteilen wäre, kann nach dem Vorstehenden offen bleiben. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass er die Auffassung zur Bedeutung der von Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO (wie von Art. 70 Abs. 1 BayBO 1998) geforderten Vereinbarkeit einer Abweichung mit den öffentlichen Belangen, die den (nicht tragenden) Ausführungen in der Eilentscheidung zu den Belangen des Denkmalschutzes zugrunde liegt, im Hinblick auf die Einwände von Kuchler , BayVBl 2009, 517, überprüfen würde, aber keine Veranlassung sieht, von den beiden Leitsätzen der Eilentscheidung abzurücken.

3. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, weil er unterlegen ist (§ 154 Abs. 1 VwGO). Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt hat und sich somit nicht dem Risiko, Kosten auferlegt zu bekommen, ausgesetzt hat, besteht keine Veranlassung, seine außergerichtlichen Kosten für erstattungsfähig zu erklären (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 7.500 Euro festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 1 GKG).