OLG Nürnberg, Beschluss vom 21.10.2010 - 1 Ws 579/10 H
Fundstelle
openJur 2012, 111447
  • Rkr:
Tenor

Der Haftbefehl des Amtsgerichts R vom 19.1.2010 (Az.: Gs 106/10 III) wird aufgehoben.

Gründe

I.

Der Angeklagte C befindet sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts R vom 19.1.2010 wegen des dringenden Verdachts des schweren Bandendiebstahls in 18 Fällen seit 19.1.2010 in Untersuchungshaft. Der Senat hat zuletzt mit Beschluss vom 29.7.2010 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet und gemäß § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO die Haftprüfung für die nächsten drei Monate dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Mit Eingang 18.10.2010 wurden die Akten dem Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach §§ 121, 122 StPO vorgelegt.

II.

Obwohl Staatsanwaltschaft und Gericht den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft für erforderlich halten, ist der Haftbefehl nunmehr aufzuheben, weil die Voraussetzungen, unter denen ein weiterer Vollzug der Untersuchungshaft gemäß § 121 Abs. 1 StPO angeordnet werden kann, nicht vorliegen. Der an sich gerechtfertigte Haftbefehl kann keinen Bestand haben, da das Verfahren seit der letzten Haftprüfung durch den Senat nicht die in Haftsachen gebotene, auf dem Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK beruhende Beschleunigung erfahren hat.

1. Der Senat ist bereits vor Ablauf der mit Beschluss vom 29.7.2010 gesetzten weiteren Prüfungsfrist von 3 Monaten gem. § 121 Abs. 1 StPO befugt, den Haftbefehl wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben. Es kann offenbleiben, ob und innerhalb welchen Zeitfensters das OLG eine haftaufhebende Entscheidung vor Ablauf der 6-Monatsfrist treffen darf (vgl. für den uneinheitlichen Meinungsstand LR-Hilger § 122 Rdn. 29, 30). Jedenfalls für die Zeit erneuter Prüfungen hat das Oberlandesgericht mit Vorlage der Akten unverzüglich den Haftbefehl aufzuheben, wenn die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO nicht mehr gegeben sind. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 122 Abs. 4 S. 1 StPO, der bestimmt, dass allein dem Oberlandesgericht auch nach Rückübertragung gem. § 122 Abs. 3 S. 3 StPO die Haftverlängerungskompetenz vorbehalten ist. Ergänzend legt § 122 Abs. 4 S. 2 StPO für diese Prüfung eine Höchstfrist fest, denn die Prüfung nach § 121 Abs. 1 StPO muss "spätestens" nach drei Monaten wiederholt werden. Die Festlegung des Höchstprüfungszeitraums im Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts hat das Ziel, eine kontinuierliche, aber auch schematisierte Haftkontrolle zu gewährleisten. Es soll sichergestellt werden, dass die Akten bis zum festgelegten Termin zur Prüfung vorgelegt werden. Eine zeitliche Einschränkung der Haftkontrolle mit der Folge unzulässiger vorfristiger Entscheidung kann aus der Vorschrift nicht entnommen werden (vgl. auch OLG Düsseldorf StV 1991, 222; SK-StPO/Paeffgen § 122 Rn. 13 a. E). Andernfalls würde das Oberlandesgericht durch eine Rückübertragung nach § 122 Abs. 3 S. 3 StPO sich selbst seiner Entscheidungskompetenz gem. § 121 Abs. 1 begeben, die das Haftgericht wegen § 121 Abs. 4 S. 1 StPO nicht hat. Dies hätte die gesetzwidrige Folge, dass überhaupt kein Gericht mehr für die Haftkontrolle zuständig wäre, weil das eine Gericht noch nicht und das andere nicht bzw. nicht mehr zuständig wäre.

2. Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot ist es vorliegend unvereinbar, dass die 1. Strafkammer des Landgerichts R den Hauptverhandlungstermin in dieser Sache erst für den 25.1.2011 und damit knapp acht Monate nach Erhebung der Anklage vom 28.5.2010 und mehr als ein Jahr nach dem Beginn des Vollzugs der Untersuchungshaft anberaumt hat.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der (Anordnung und) Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv entgegen gehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt insoweit, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG StV 2008, 421 m. w. N.).

aa) Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor dem Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 271). Kommt es zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte nicht zu vertreten hat, so steht bereits die Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebotes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG NJW 2006, 1336 m. w. N.). Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft das Gewicht des Freiheitsanspruches gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig vergrößert, weshalb der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen ist (BVerfG StV 2008, 421 m. w. N.).

bb) Weiter ist nach der inzwischen in einer Vielzahl von Entscheidungen herausgearbeiteten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte dem Beschleunigungsgebot - sofern nicht besondere Umstände vorliegen - regelmäßig nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung begonnen wird (vgl. BVerfG StV 2007, 366 m. w. N., OLG Nürnberg StraFo 2008, 469). Hier ist primär zwar auf den förmlichen Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses abzustellen, darüber hinaus ist aber auch zusätzlich zu prüfen, ob bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Eröffnungsreife gegeben war. Denn mit dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot wäre es unvereinbar, wenn das Gericht trotz bestehender Eröffnungsreife den Erlass des Eröffnungsbeschlusses etwa nur deshalb aufschiebt, um einen größeren zeitlichen Spielraum für die nachfolgende Terminierung zu erlangen. Dabei kann im Regelfall die Eröffnungsreife frühestens mit Ablauf der Einlassungsfrist gem. § 201 Abs. 1 StPO eintreten und setzt weiter voraus, dass das Gericht den Inhalt der Akten umfassend geprüft hat, so dass das Vorliegen des hinreichenden Tatverdachtes im Sinne des § 203 StPO beurteilt werden kann. Soweit dies nach den Umständen des Einzelfalles allerdings angenommen werden muss, ist bei der Prüfung, ob das Beschleunigungsgebot beachtet wurde, auf den Zeitpunkt des Eintritts der Eröffnungsreife abzustellen und nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Eröffnungsbeschlusses (Senatsbeschluss StV 2009, 367).

b) Nach diesen Vorgaben verbietet sich vorliegend eine nochmalige Anordnung der Haftfortdauer und der Haftbefehl des Amtsgerichts R vom 19.1.2010 ist aufzuheben.

Der Senat geht hierbei davon aus, dass im Hinblick auf das weitgehende Geständnis des Angeklagten spätestens mit Erlass des Haftfortdauerbeschlusses vom 8.7.2010 Eröffnungsreife eingetreten war und deshalb bis spätestens 8.10.2010 mit der Hauptverhandlung hätte begonnen werden müssen. Besondere Umstände, die eine Nichteinhaltung der Drei-Monats-Frist oder gar eine Fortdauer der Untersuchungshaft über ein Jahr hinaus bis zum Beginn der Hauptverhandlung rechtfertigen könnten sind nicht gegeben. Angesichts der am 8.7.2010 getroffenen Haftfortdauerentscheidung kann ein solch besonderer Umstand nicht in der vom Vorsitzenden mit Aktenvermerk vom 13.9.2010 aufgeführten "anderweitigen erheblichen Arbeitsbelastung (Haftsachen)" gesehen werden, die erst zum 10.09.2010 eine Durcharbeitung der bis dahin 735 Seiten umfassenden Akten ermöglicht hätte. Auch die erst am 13.9.2010 begonnene Terminsabstimmung mit den Verteidigern und der daraus resultierenden Problematik, dass nach dem weiteren Aktenvermerk vom 13.10.2010 erst zum 25.1.2011 ein allen Prozessbeteiligten möglicher Termin gefunden werden konnte, führt zu keiner anderen Bewertung. Unabhängig davon, dass mit Rücksicht auf die bereits erhebliche Dauer der Untersuchungshaft des Angeklagten aus Beschleunigungsgründen auch die Bestellung eines Pflichtverteidigers (vgl. OLG Hamm StV 2002, 151) oder eine Verfahrensabtrennung zu prüfen gewesen wäre, ist vor allem auch zu sehen, dass der Verteidiger Rechtsanwalt W ohne Reaktion der Strafkammer bereits mit Schreiben vom 18.8.2010 unter Hinweis auf eine bereits vorliegende Belegung mit einer Umfangstrafsache um eine baldige Terminierung ersucht hatte.