VG München, Urteil vom 27.07.2010 - M 10 K 09.4571
Fundstelle
openJur 2012, 109473
  • Rkr:
Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamts … vom … September 2009 wird aufgehoben.

II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger und verfügt über ein Daueraufenthaltsrecht in der tschechischen Republik, seit Februar 2010 in Form eines Daueraufenthaltsrechts-EG. Er wendet sich gegen eine Ausweisungsverfügung des Beklagten.

Am 30. Oktober 2006 reiste der Kläger aufgrund eines „Van der Elst“-Visums (Gültigkeit 15. September 2006 bis 31. März 2007) in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Aufenthaltstitel gestattete ihm keine Erwerbstätigkeit mit Ausnahme einer Beschäftigung nach § 18 AufenthG i.V.m. § 15 BeschV als Schweißer bzw. Schlosser zur Mitwirkung am Bauprojekt …, …. Laut „Gewerbeschein“ des Gewerbeamts … hat der Kläger ein Gewerbe zur Oberflächenbearbeitung und zu Metallschweißarbeiten in …/Tschechien angemeldet. Nach einem „Leistungsvertrag“ führt der Kläger für die Firma … mit Sitz in … Schweiß- und Schlosserarbeiten auf dem Gebiet der Tschechischen Republik durch. Der Kläger verfügt über eine E 101-Bescheinigung der tschechischen Behörden, die ihn als selbständig tätige Person qualifiziert.

Am 12. Dezember 2006 stellte der Kläger bei der Stadt … einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit, wobei er als Arbeitgeber die Firma … angab. Die Firma … bestätigte, dass der Kläger bei ihr beschäftigt sei. Laut Auftragsbestätigung vom 5. Juli 2006 war die … von der Firma … Anlagetechnik und Montagen mit der Vorfertigung und Montage von Rohrleitungen für das Kraftwerk … beauftragt. Dem Kläger wurde zunächst eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt. Am 30. Mai 2007 erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis („Van der Elst“) zur Mitwirkung am Bauprojekt … in …, die in der Folge bis 31. August 2008 verlängert wurde. Ab 29. Oktober 2007 wurde dem Kläger dabei eine Beschäftigung als Schweißer bzw. Schlosser bei der Firma … GmbH und Co. Anlagetechnik und Montage, ab 4. Dezember 2007 bei der … und der … gestattet.

Am 19. Februar 2008 meldete sich der Kläger mit Hauptwohnung von … nach … um. Nach Ermittlungen der Ausländerbehörde des …-Kreises verzog der Kläger im Oktober 2008 nach unbekannt. Im Melderegister wurde er ab dem 16. Dezember 2008 als nach … in Tschechien verzogen geführt.

Laut Zuzugsmitteilung zog der Kläger am 4. Mai 2009 aus … nach … zu. Am 30. Juni 2009 meldete er sich wieder nach … ab.

Nach Anhörung zu einer beabsichtigten Ermessensausweisung wies das Landratsamt … den Kläger mit Bescheid vom … September 2009 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziff. 1). Das Betretungsverbot wurde auf 3 Jahre nach erfolgter Ausreise auf dem Bundesgebiet befristet (Ziff. 2). Der Kläger sei am 4. Mai 2009 von Tschechien nach …, …straße 20 zugezogen. Unter dieser Anschrift seien mehrere Wohncontainer in der Nähe des Kraftwerks …, … für die Arbeiter im Kraftwerk aufgestellt. Es sei daher dringend davon auszugehen, dass der Kläger in … Arbeiten am dortigen Kraftwerk durchgeführt habe. Dies lasse sich auch aus vorherigen Arbeiten an Kraftwerken herleiten. Durch den Aufenthalt in Verbindung mit der Arbeitsaufnahme im Zeitraum vom 4. Mai 2009 bis 30. Juni 2009 habe sich der Kläger ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufgehalten, was einen Straftatbestand darstelle. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG könne ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen habe. Der Kläger verfüge über keinerlei Bindungen im Inland und habe sich nur zur Durchführung der Arbeiten im Bundesgebiet aufgehalten. Die Ausweisung sei das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel zur Beendigung des rechtswidrigen Aufenthalts. Rechtmäßige Aufenthaltszeiten stünden der Ausweisungsentscheidung nicht entgegen. Schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche und sonstige Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet lägen nicht vor. Durch den unerlaubten Aufenthalt zur Arbeitsausübung habe der Kläger erheblich die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört. Durch eine kontinuierliche Ausweisungspraxis sollten auch andere Ausländer auf die Folge eines rechtswidrigen Handelns hingewiesen werden. Laut Zustellungsbeleg wurde der Bescheid dem Kläger in Tschechien am 19. September 2009 zugestellt.

Mit Fax vom 28. September 2009 erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag,

den Bescheid des Beklagten vom … September 2009 (Ziffern 1 bis 2) aufzuheben.

Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger sei selbstständiger Gewerbetreibender in Tschechien und als solcher für die in … ansässige … (GmbH tschechischen Rechts) im Rahmen von Dienstleistungsverträgen tätig. Die … ihrerseits erbringe Dienstleistungen im Bundesgebiet im Bereich der Industrie-Metallmontage. Für diese Zwecke schließe sie Dienstleistungsverträge mit selbständigen Gewerbetreibenden wie dem Kläger und entsende diese zu Montageeinsätzen auf in der Bundesrepublik befindliche Großbaustellen in Kraftwerken. Wäre der Kläger Arbeitnehmer der …, so benötigte er nach Art. 21 Schengener Durchführungsübereinkommen als langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger kein Visum für die Einreise in die Bundesrepublik. Dies gelte auch bei vorübergehender Entsendung zur Erbringung einer Dienstleistung. Eine Arbeitsgenehmigung wäre gem. § 15 BeschV nicht erforderlich. Selbst wenn ein Mitarbeiter einer in der EU ansässigen juristischen Person einer Visumspflicht unterläge, wäre eine automatische Versagung einer Aufenthaltserlaubnis in den Fällen einer Einreise ohne Sichtvermerk ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht. Diese Erwägungen müssten auch dann gelten, wenn ein in der EU langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger als Eigenunternehmer unter Beibehaltung seines Wohn- bzw. Geschäftssitzes grenzüberschreitende Dienstleistungen für eine in der EU ansässige juristische Person eines anderen Mitgliedstaats erbringe. Es sei ein ungerechtfertigter Zustand, dass ein Drittstaatsangehöriger, der in enger Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaats stehe, als Arbeitnehmer von einem in der EU ansässigen Unternehmen entsandt werden könne, während er als selbständig Gewerbetreibender mit Leistungsvertrag mit dem in der EU ansässigen Unternehmen eine Gesellschaft im Sinne von Art. 48 EG-Vertrag gründen müsste. Da der Kläger als Subunternehmer der … Leistungen in der Bundesrepublik Deutschland erbringe, sei er auch als solcher von der Einholung eines sog. „Van der Elst“-Visums befreit. Er sei in Tschechien langfristig aufenthaltsberechtigt und dürfe dort einer ordnungsgemäßen Beschäftigung nachgehen. Der Kläger wäre aufgrund seines Aufenthaltsstatus genauso gut in der Lage gewesen, ein Arbeitsverhältnis mit der … einzugehen. Es mache keinen Unterschied, ob eine in der EU ansässige juristische Person ihr Recht auf Dienstleistungsfreiheit dadurch ausübe, dass sie sich eigener Mitarbeiter bediene, oder ob sie selbständig Gewerbetreibende zur Erbringung einer Dienstleistung entsende. Auch die Entsendung eines im Rahmen eines Leistungsvertrages verpflichteten langfristig aufenthaltsberechtigten drittstaatsangehörigen Gewerbetreibenden in einen anderen Mitgliedstaat sei von der Dienstleistungsfreiheit des entsendenden Unternehmens erfasst. Der Kläger könne sich zwar nicht auf ein eigenes Recht auf Dienstleistungsfreiheit berufen. Er leite aber sein Recht auf Einreise und Arbeitsaufnahme von der Dienstleistungsfreiheit des ihn entsendenden Unternehmens ab. Vor diesem Hintergrund sei die Ausweisungsverfügung rechtswidrig.

Der Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2009,

die Klage zurückzuweisen.

Er legt ein Schreiben der Regierung … vor. Diese vertritt die Auffassung, ein Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Schengener Durchführungsübereinkommen erlösche, sobald eine Erwerbstätigkeit aufgenommen werde. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger eine Aufenthaltsgenehmigung nach Art. 21 AufenthG erhalten könne. Die Voraussetzungen (übergeordnetes wirtschaftliches Interesse und Erwartung von positiven Auswirkungen auf die Wirtschaft), seien wohl kaum erfüllt. Im Übrigen könne nach § 39 Nr. 6 AufenthVO ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet nur eingeholt werden, wenn ein gesetzlicher Anspruch bestehe. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 21 AufenthG stehe jedoch in pflichtgemäßem Ermessen. Auch liege ein Ausweisungsgrund vor. Ansonsten könnte künftig jeder Drittstaatsangehörige mit einem nationalen Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaates als Selbständiger tätig werden, ohne dabei irgendwelche aufenthaltsrechtlichen Sanktionen zu befürchten. Dies widerspreche der geltenden Rechts- und Gesetzeslage. Ein Richtlinienentwurf mit dem Ziel, Drittstaatsangehörige bei der Dienstleistungsfreiheit weitgehend gleichzustellen, sei im Jahre 2004 zurückgezogen worden.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien und der übrigen Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung sowie den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten verwiesen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom … September 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung vor (I.). Die Ausweisung ist jedoch unverhältnismäßig und daher ermessensfehlerhaft (II.).

I. Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 55 Abs. 1 AufenthG. Danach kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Eine solche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegt nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG insbesondere vor, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Zu Recht hat der Beklagte angenommen, dass der Kläger durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik im Zeitraum vom 4. Mai 2009 bis 30. Juni 2009gegen Rechtsvorschriften verstoßen hat. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für den Aufenthalt im Bundesgebiet grundsätzlich eines Aufenthaltstitels. Der Kläger hat sich ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufgehalten. Das Erfordernis eines Aufenthaltstitels entfiel für den Kläger weder aufgrund der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 f. EG (jetzt Art. 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV) (1.) noch nach Art. 21 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (Schengener Durchführungsübereinkommen - SDÜ) (2.).

1. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann das Erfordernis eines Aufenthaltstitels aufgrund europarechtlicher Bestimmungen entfallen. Der Kläger kann jedoch kein Recht auf erlaubnisfreien Aufenthalt aus Europarecht herleiten. Er kann sich insbesondere nicht auf die Bestimmung der Art. 56 f. AEUV (ex-Art. 49 f. EG) berufen.

Art. 56 AEUV verbietet Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union. Nach Art. 57 Abs. 3 AEUV kann ein Dienstleister zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergibt sich aus Art. 56 f. AEUV für den Dienstleistungserbringer ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt im Staat der Leistungserbringung (EuGH vom 5.2.1991, Roux, C-363/89, Slg. 1991, I-273, RdNr. 9). Das nationale Recht darf insofern weder die förmliche Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung noch einer Arbeitserlaubnis fordern (EuGH vom 27.3.1990, Rush Portuguesa, C-113/89, Slg. 1990, I-1417, RdNr. 12; vom 9.8.1994, Vander Elst, C-43/98, Slg. 1994, I-3803, RdNr. 15; vom 19.1.2006, Kommission gegen Deutschland, C 244/04, Slg. 2006, I-885).

Der Kläger ist jedoch nicht Berechtigter der Dienstleistungsfreiheit, da er als Drittstaatsangehöriger nicht in deren personellen Anwendungsbereich fällt (vgl. EuGH vom 3.10.2006, FKP Scorpio, C-290/04, Slg. 2006, I-9461, RdNr. 67; vom 3.10.2006, Fidium Finanz, C-452/04, Slg. 2006, I-9521, RdNr. 50). Art. 56 AEUV ist schon dem Wortlaut nach auf „Angehörige der Mitgliedstaaten“ beschränkt. Nach Art. 56 Abs. 2 AEUV können Europäisches Parlament und Rat beschließen, dass die Dienstleistungsfreiheit auch auf in der Union ansässige Drittstaatsangehörige ausgedehnt wird. Von dieser Ermächtigung wurde bislang nicht Gebrauch gemacht. Bei der Ausweitung auf Drittstaatsangehörige handelt es sich danach um eine politische Entscheidung. Eine unmittelbare europarechtliche Begünstigung besteht gerade nicht (vgl. auch Kluth in Calliess/Ruffert [Hrsg.], EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 49, 50 RdNr. 33 ; Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim [Hrsg.], Das Recht der Europäischen Union, Art. 49/50 EGV RdNr. 27 f.).

Der Kläger kann auch keine Rechte aus der Dienstleistungsfreiheit der … herleiten. Die … ist zwar als tschechische Gesellschaft mit Sitz in Tschechien über Art. 62 i.V.m. Art. 54 AEUV Trägerin der Dienstleistungsfreiheit. Danach hat sie das Recht, zur Erbringung von Dienstleistungen ihr eigenes Stammpersonal in andere Mitgliedstaaten zu entsenden. Auf das damit verbundene Recht zum erlaubnisfreien Aufenthalt können sich die ordnungsgemäß beschäftigten Arbeitnehmer der … berufen (vgl. EuGH vom 25.10.2001, Finalarte, C-49/98 u. a., Slg. 2001, I-7877, RdNr. 22; Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim [Hrsg.], Das Recht der Europäischen Union, Art. 49/50 EGV RdNr. 38). Der Kläger ist jedoch selbständiger Gewerbetreibender mit einer eigenen Gewerbeanmeldung in Tschechien, der lediglich aufgrund eines „Leistungsvertrags“ für die … tätig wird. Als solcher unterfällt er nicht dem europäischen Arbeitnehmerbegriff. Das Gericht ist mangels hinreichender Anhaltspunkte auch nicht zur Prüfung befugt, ob der Kläger entgegen seinem Auftreten als scheinselbständiger Arbeitnehmer einzustufen ist. Mit der vorgelegten E 101-Bescheinigung hat die Tschechische Republik den Kläger als Selbständigen qualifiziert. Das Gemeinschaftsrecht ist vom Grundsatz gegenseitiger Anerkennung ausländischer Bescheinigungen geprägt. Die nationalen Instanzen sind daher an die Feststellung in der E 101-Bescheinigung jedenfalls solange gebunden, wie weder eine offensichtliche Unrichtigkeit noch ein eindeutiger Mißbrauch nachgewiesen ist (vgl. EuGH vom 10.2.2000, FTS, C-202/97, Slg 2000, I-883, RdNr. 51 ff.; vom 30.3.2000, Banks, C-178/97, Slg. 2000, I-2005, RdNr. 48; Gronert, Die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen, 2001, S. 315).

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit ist auch nicht auf den Kläger als Subunternehmer übertragbar. Als selbständig tätiger Drittstaatsangehöriger kann er sich nicht auf eine von der … abgeleitete Dienstleistungsfreiheit berufen. Träger der Dienstleistungsfreiheit ist die Gesellschaft und damit das Unternehmen als solches mit seinen integralen Bestandteilen. Hierzu gehören zwar die Arbeitnehmer eines Unternehmens, nicht mehr aber selbständige Subunternehmer. Diese sind vielmehr selbst Dienstleister. Die Ermächtigung zur Erstreckung der Dienstleistungsfreiheit auf Drittstaatsangehörige in Art. 56 Abs. 2 AEUV macht im Umkehrschluss deutlich, dass die Dienstleistungsfreiheit in ihrem jetzigen Anwendungsbereich europäischen Dienstleistern, nicht aber Dienstleistern aus Drittstaaten einen gemeinsamen Markt bieten will. Diese Zielsetzung würde durch eine abgeleitete Dienstleistungsfreiheit für selbständige drittstaatsangehörige Dienstleister unterlaufen. Während bei ordnungsgemäß in der Europäischen Gemeinschaft beschäftigten Arbeitnehmern die einschlägigen Bestimmungen des Mitgliedstaats vor einer Ausbeutung von Arbeitnehmern und der Verfälschung des Wettbewerbs schützen (vgl. EuGH vom 9.8.1994, Vander Elst, C-43/98, Slg. 1994, I-3803, RdNr. 24 f.), besteht überdies bei einer Erstreckung der abgeleiteten Dienstleistungsfreiheit auf Subunternehmer aus Drittstaaten die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen und dem Unterlaufen von Bedingungen zum Schutz der Beschäftigten. Auch dies spricht gegen eine solche Ausweitung der Dienstleistungsfreiheit.

2. Der Aufenthalt des Klägers war auch nicht nach Art. 21 SDÜ erlaubnisfrei, da er während seines Aufenthalts eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.

Nach Art. 21 SDÜ können sich Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einer der Vertragsparteien ausgestellten Aufenthaltstitels sind, aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments bis zu drei Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien bewegen. Dies gilt jedoch unter anderem vorbehaltlich der Tatsache, dass der Betreffende die Einreisevoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. e) der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) erfüllt. Dieser ist an Stelle des gestrichenen Art. 5 SDÜ getreten, auf den in Art. 21 SDÜ verwiesen wird. Art. 5 Abs. 1 Buchst. e) Schengener Grenzkodex setzt unter anderem fest, dass der Drittstaatsangehörige keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen darf.

Der in der Tschechischen Republik aufenthaltsberechtigte Kläger wäre zwar grundsätzlich nach Art. 21 SDÜ zum erlaubnisfreien Aufenthalt in der Bundesrepublik berechtigt. Mit der Ausübung der Erwerbstätigkeit hat der Kläger jedoch die Ordnungswidrigkeit des § 98 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG verwirklicht (a)). Damit liegt ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Buchst. e) Schengener Grenzkodex vor, der zum Erlöschen seines Rechts aus Art. 21 SDÜ führt (b)).

a) Der Kläger hat die Bußgeldvorschrift des § 98 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Danach handelt ordnungswidrig, wer entgegen § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine selbständige Tätigkeit ausübt. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dürfen Ausländer eine Erwerbstätigkeit nur ausüben, wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigt. Dies setzt nach § 4 Abs. 2 Satz 1 AufenthG voraus, dass das Gesetz dies bestimmt oder der Aufenthaltstitel die Ausübung der Erwerbstätigkeit ausdrücklich erlaubt. Eine solche Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit lässt sich aus dem Aufenthaltsrecht aus Art. 21 SDÜ nicht herleiten. Das SDÜ verhält sich vielmehr neutral zur Frage der Erwerbstätigkeit (Westphal/Stoppa, ZAR 2002, 315/317 f.; Maor, ZAR 2005, 333/336; Renner, AufenthG, 8. Aufl. 2005, § 6 Rn. 6).

Der Kläger hatte auch sonst keine Erlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Ein Recht zur Arbeitsaufnahme lässt sich insbesondere nicht aus Art. 14 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (Daueraufenthalts-richtlinie) herleiten. Der Kläger verfügte zum Zeitpunkt seines Aufenthalts in der Bundesrepublik schon nicht über ein Daueraufenthaltsrecht-EU im Sinne der Richtlinie. Zudem stellt die Richtlinie das Recht zur Erwerbstätigkeit unter den Vorbehalt nationaler Bestimmungen (Art. 14 Abs. 3 Daueraufenthaltsrichtlinie) und enthält in ihrem Art. 14 Abs. 5 b) überdies eine Bereichsausnahme für die Erbringer grenzüberschreitender Dienstleistungen.

b) Der Verstoß gegen § 98 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG hat das Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus Art. 21 SDÜ zur Folge. Der Kläger stellt aufgrund dieses Verstoßes eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Buchst. e) Schengener Grenzkodex dar. Der Rechtsbegriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung des Schengener Grenzkodex ist weit auszulegen (OVG Berlin vom 18.12.2009 Az. OVG 3 B 6.09) und ist schon bei der Gefahr der Begehung kleinerer Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten erfüllt (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier [Hrsg.], GK-AufenthG, § 6 RdNr. 38). Die Aufnahme einer Beschäftigung unter Verstoß gegen § 4 Abs. 3 AufenthG stellt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar. Da die Voraussetzungen des Art. 21 SDÜ, Art. 5 Abs. 1 e) Schengener Grenzkodex nicht mehr erfüllt sind, erlischt der erlaubnisfreie Aufenthalt nach Art. 21 SDÜ spätestens mit der Aufnahme der unerlaubten Erwerbstätigkeit (vgl. VG Ansbach vom 11.11.2003 Az. AN 19 K 03.00595 <juris> RdNr. 21 f.).

II. Ob der Verstoß gegen Rechtsvorschriften vereinzelt und geringfügig war, kann offen bleiben. Die Ausweisung ist jedenfalls unverhältnismäßig und daher ermessensfehlerhaft. Als milderes Mittel wäre eine Aufklärung des Klägers über die Rechtslage, möglicherweise verbunden mit einer Abschiebungsandrohung, in Betracht gekommen. Es ist davon auszugehen, dass dem Kläger die Unrechtmäßigkeit seines Aufenthalts zumindest nicht voll bewusst war. Aufgrund der schwierigen Rechtslage hätte es nahe gelegen, zunächst eine Klärung herbeizuführen. Es fehlte vor der Ausweisungsverfügung an einer für den Kläger verbindlichen Information über die Rechtslage durch den Beklagten. Der Geschehensablauf spricht dafür, dass nach Aufklärung über die Rechtslage weitere Verstöße des zum Zeitpunkt der Ausweisung schon ausgereisten Klägers nicht zu besorgen gewesen wären. Die Ausweisung kann daher nicht mit Zwecken der Spezialprävention begründet werden (vgl. Discher in Fritz/Vormeier [Hrsg.], GK-AufenthG, § 55 Rn. 494). Aufgrund der Komplexität der Rechtslage und der Besonderheiten der gewählten Konstellation eignet sich der Sachverhalt auch nur bedingt zur Generalprävention. Die Ausweisung war daher aufzuheben.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Beschluss

Der Streitwert wird auf EUR 5.000,-- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG- in Verbindung mit Nr. 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).

 

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