Bayerischer VGH, Urteil vom 23.03.2010 - 11 B 08.30249
Fundstelle
openJur 2012, 106670
  • Rkr:
Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 17. Mai 2008 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingseigenschaft.

Sie reiste im Juni 1990 ohne Personaldokumente in das Bundesgebiet ein. Nach ihren eigenen Angaben ist sie russische Volkszugehörige mit ursprünglich sowjetischer Staatsangehörigkeit. Zu ihren Fluchtgründen trug sie zusammengefasst vor, die ganze Familie sei Repressalien ausgesetzt gewesen. Sie sei mehrmals ohne Anlass in psychiatrische Anstalten gebracht worden. Der KGB habe versucht, sie als Spitzel anzuwerben. Mehrmals sei ihr eine Ausreise verweigert worden. Bei einer Rückkehr in die UdSSR müsse sie damit rechnen, in ein Gefängnis zu kommen, weil sie um politisches Asyl nachgesucht habe.

Mit Bescheid vom 8. Januar 1992 wurde der Asylantrag abgelehnt. Der Klägerin wurde die Rechtsstellung nach § 51 Abs. 1 AuslG zugebilligt. Eine politische Verfolgung in der UdSSR haben sie nicht glaubhaft machen können. Zwar sei davon auszugehen, dass ihr eine Bestrafung gemäß Art. 20 des Unionsgesetzes über Straftaten gegen den Staat drohe, weil sie den Auslandsaufenthalt dazu benutzt habe, einen Asylantrag zu stellen. Dieses Bestrafungsrisiko stelle aber einen subjektiven Nachfluchttatbestand dar; die Verfolgungssituation sei erst nach Verlassen des Heimatlandes eingetreten und von der Klägerin selbst herbeigeführt worden. Jedenfalls aber habe sie deshalb mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG zu rechnen.

Im Frühjahr 2000 prüfte das Bundesamt die Einleitung eines Widerrufsverfahrens, teilte aber der Ausländerbehörde mit, aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls sei eine Einleitung nicht angezeigt. Es sei weiterhin vom Bestehen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG auszugehen.

Auf erneute Bitte der Ausländerbehörde verfügte das Bundesamt mit Bescheid vom 20. Januar 2008 den Widerruf der mit Bescheid vom 8. Januar 1992 getroffenen Feststellung und verneinte die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 AufenthG. Die erforderliche Prognose drohender politischer Verfolgung lasse sich nicht mehr treffen. Die Klägerin habe zwar die russische Staatsangehörigkeit wohl nicht erlangt, da sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des russischen Staatsangehörigkeitsgesetzes nicht im Gebiet der Russischen Föderation wohnhaft gewesen sei. Es sei ihr aber jedenfalls möglich, auf Antrag die Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation zu erwerben, wo sie zuletzt ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Wegen ihrer Asylantragstellung habe sie im Fall einer Rückkehr nicht mit politischer Verfolgung zu rechnen. Der Widerruf müsse deshalb zwingend erfolgen. Er erfolge nur aus Gründen der Statusbereinigung, aufenthaltsbeendende Maßnahmen seien nicht beabsichtigt. Über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG werde deshalb nicht entschieden.

Auf die Anfechtungsklage der Klägerin hin hob das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 7. Mai 2008 den Widerrufsbescheid vom 22. Januar 2008 auf. Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung sei nur aufgrund einer Ermessensentscheidung möglich, die jedoch im angefochtenen Bescheid unterblieben sei.

Mit Beschluss vom 8. Juli 2008 ließ der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die vom Bundesamt beantragte Berufung zu, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe.

Zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung beziehungsweise der Berufung selbst trug das Bundesamt vor, für den Fall, dass eine Widerrufsprüfung schon im Jahr 2000 ergangen sei, handle es sich bei dem Widerruf nicht um eine Ermessensentscheidung. Im Übrigen ergebe sich aus den Gründen des erstinstanzlich aufgehobenen Widerrufsbescheids, dass die Klägerin nicht mehr verfolgt sei.

Die Bevollmächtigten der Klägerin erwidern, das Erstgericht habe richtig entschieden. Die Klägerin sei staatenlos und niemals Bürgerin der Russischen Föderation geworden. Sie sei in der ehemaligen UdSSR stärksten Repressalien ausgesetzt gewesen. Es sei ihr unmöglich, nach Russland zurückzukehren, da der russische Staat sie nicht als Staatsangehörige akzeptiere. Verschiedene Vorsprachen der Klägerin bei der russischen „Botschaft“ in München seien erfolglos geblieben. Ihr sei nicht einmal bestätigt worden, dass sie zum Zweck der Feststellung ihrer Staatsangehörigkeit vorgesprochen habe. In der Russischen Föderation habe sie keinerlei soziale Kontakte mehr. Beide Kinder seien in Deutschland aufgewachsen und hier sozialisiert. Die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung aufgrund ihrer damaligen politischen Tätigkeiten und insbesondere auch aufgrund ihrer langen Abwesenheit sei im Fall einer Rückkehr durchaus hoch.

Die Verwaltungsstreitsache wurde am 22. März 2010 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angegriffene Widerrufsbescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie hat auch keinen Anspruch auf Zubilligung der Rechtsstellung des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Rechtsgrundlage für den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Nach Satz 2 der Vorschrift ist dies insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder wenn er als Staatenloser in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Satz 2 gilt nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG).

2. Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 73 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylVfG liegen vor.

a) Die Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, sind weggefallen: Eine Strafbarkeit nach dem Unionsgesetz der UdSSR wegen Stellung eines Asylantrags im Ausland ist nicht mehr zu befürchten. Dieses Gesetz ist wegen der Auflösung der UdSSR nicht mehr in Kraft; es sind auch keine Fälle bekannt geworden, in denen Bürger der ehemaligen Sowjetunion, die noch während des Bestehens der UdSSR ins Ausland geflüchtet sind und dort einen Asylantrag gestellt haben, nach einer Rückkehr in die Russische Föderation aus diesem Grund Repressalien ausgesetzt waren oder gar verfolgt wurden (vgl. Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Förderation vom 30.7.2009 – Lagebericht – S. 30). In diese Richtung hat die Klägerin auch nichts vorgetragen. Diese durch den Zusammenbruch der UdSSR und die Etablierung rechtsstaatlicher Grundsätze und Strukturen in der Russischen Föderation - so werden in Russland die Grundrechte der Verfassung garantiert, Russland ist internationalen Menschenrechtskonventionen beigetreten und Regierung und Präsident bekennen sich unzweideutig zur Einhaltung der Menschenrechte (Lagebericht S. 5) - eingetretenen Veränderungen sind auch so tiefgreifend, dass generell vormalige Machtstrukturen, unter denen sich die Verfolgung ereignete, weggefallen sind. Diese Veränderungen haben auch dauerhaft und stabil Platz gegriffen in dem Sinn, dass der Prozess der politischen Veränderung weitgehend abgeschlossen ist und zu neuen - prinzipiell verfolgungsfreien - Machtstrukturen geführt hat. Es hat sich ein neues politisches System und Klima entwickelt, in dem demokratische Strukturen bestehen und eine allgemeine, substantielle Verbesserung der Menschenrechtssituation eingetreten ist. Vor diesem Hintergrund kann es offen bleiben, wie § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG in der Neufassung durch das EU-Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 auszulegen ist. Zwar wird teilweise, gestützt auf die Formulierung des Art. 11 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 S. 12) – sog. Qualifikationsrichtlinie (QRL) - vertreten, dass die in der Rechtsprechung zum Widerruf entwickelten Grundsätze mit der Qualifikationsrichtlinie und der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in Einklang stünden (Nachweise bei Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, Loseblatt, Stand August 2008, § 73 AsylVfG, Rd.Nr. 33). Nach dieser Auffassung dürfen Flüchtlinge legitimerweise erwarten und haben ein schützenswertes Vertrauen darin, den Schutz ihres Aufnahmelandes und die mit ihrem Status verbundenen Rechte so lange nicht zu verlieren, wie ihr Herkunftsland zur Schutzgewährung nicht in der Lage ist, so dass entgegen der bisher herrschenden Rechtsprechung, die im Zusammenhang mit dem Widerruf der Flüchtlingsstellung nur den Schutz vor Verfolgung prüft (vgl. etwa BVerwG vom 18.7.2006 BVerwGE 126, 243), möglicherweise auch der Schutz vor sonstigen allgemeinen Gefahren im Herkunftsland mit einzubeziehen wäre (dagegen Hailbronner, a.a.O., RdNr. 37). Nach dem oben Dargestellten ergibt sich jedoch zweifelsfrei, dass eine Verfolgung der Klägerin in der Russischen Föderation aufgrund ihrer Asylantragstellung im Ausland mit Sicherheit und auf Dauer nicht stattfinden wird. Darüber hinaus ist auch unter Berücksichtigung der Befürchtung der Klägerin, dass die Zuerkennung der russischen Staatsangehörigkeit nach ihrer Rückkehr in die Russische Föderation sehr lange dauern könnte und sie bis dahin gezwungen wäre, in der Illegalität zu leben und wirtschaftliche Nachteile hätte, keine solche Allgemeingefahr erkennbar, so dass ihr eine Rückkehr in die Russische Föderation insgesamt zumutbar ist. Denn die Klägerin, die im Bundesgebiet nach eigenen Angaben als Änderungsschneiderin tätig ist, wäre grundsätzlich auch in der Russischen Föderation in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit sicherzustellen. Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung in Russland (dazu Lagebericht S. 28 f.) hat sich seit dem Jahr 2000 deutlich verbessert. Zwar bedarf die Klägerin zur Legalisierung ihres Aufenthalts in der Russischen Föderation grundsätzlich einer Registrierung. Die Anwendung der Registrierungsregeln wird auch regional unterschiedlich gehandhabt. Jedoch ist es nach der Rechtsprechung des Senats sogar für nichtrussische Volkszugehörige bei gehöriger Anstrengung möglich, eine Registrierung außerhalb ihres Heimatgebiets in der Russischen Föderation zu erreichen (vgl. im einzelnen BayVGH vom 17.4.2008 Az. 11 B 08. 30038). Das muss erst recht für die Klägerin gelten, wenn sie sich als russische Volkszugehörige innerhalb Russlands niederlassen will.

b) Die Klägerin ist auch tatsächlich in der Lage, in das Land zurückzukehren, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Zwar ist sie staatenlos. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit infolge der Staatennachfolge nach Auflösung der UdSSR war folgendermaßen geregelt: Gemäß dem Staatsangehörigkeitsgesetz vom 28. November 1991 wurden als Staatsbürger der Russischen Föderation alle Staatsbürger der ehemaligen UdSSR anerkannt, die am 6. Februar 1992 ständig auf dem Territorium der Russischen Föderation lebten (Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Loseblatt, Stand 30.11.2005, Russische Föderation, S. 11). Zu diesem Zeitpunkt hielt sich die Klägerin allerdings bereits im Bundesgebiet auf. Nach Art. 14 Nr. 1 b) des Gesetzes über die Staatsangehörigkeit vom 31. Mai 2002 (abgedruckt bei Bergmann/Ferid/Henrich, a.a.O., S. 16 ff.) ist die Klägerin berechtigt, im vereinfachten Verfahren einen Antrag auf Verleihung der Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation zu stellen, nachdem sie im Besitz der Staatsangehörigkeit der UdSSR gewesen ist und in einem Staat, der zur UdSSR gehörte, gelebt hat.

Bei ihrer informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin angegeben, aufgrund ihrer ersten Anträge habe man ihr beim Russischen Generalkonsulat in München gesagt, sie müsse sich in Deutschland abmelden und mit einer vom Generalkonsulat ausgestellten Bescheinigung nach Russland einreisen. Anschließend würde sie in Russland einen russischen Ausweis bekommen. Die Ausstellung dieses Ausweises wäre gleichbedeutend mit dem Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit, weil sie noch nie die russische Staatsangehörigkeit besessen habe. Der Senat hat keinen Anlass, an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin zu zweifeln, nachdem die Kontaktaufnahme der Klägerin mit dem Russischen Generalkonsulat in München durch eine in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Bescheinigung, die den Stempel des Russischen Generalkonsulats trägt, wonach die Klägerin am 11. Januar 2007 beim Russischen Generalkonsulat in München vorgesprochen hat, bestätigt wurde und die erteilte Auskunft, dass die Klägerin grundsätzlich die russische Staatsangehörigkeit erwerben könne, im Einklang mit der oben dargestellten Rechtslage steht. Damit steht in tatsächlicher Hinsicht fest, dass die Klägerin in der Lage wäre, sich ein von der Russischen Föderation ausgestelltes sog. Laissez-Passer zu beschaffen, das sie legitimieren würde, in die Russische Föderation einzureisen.

3. Der einen Widerruf ausschließende Tatbestand des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG liegt nicht vor. Danach gilt Satz 2 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Bei dem Begriff der „zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich voll überprüfbar ist und die Berücksichtigung humanitärer Gründe zulässt (VGH Mannheim vom 12.2.1986 EZAR 214 Nr. 1). In Betracht kommen ausschließlich Gründe, die ihre Ursachen in einer früheren Verfolgung haben. Damit soll der psychischen Sondersituation Rechnung getragen werden, in der sich ein Flüchtling befindet, der ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem es deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (Hailbronner, a.a.O., RdNr. 63 m.w.N.). Dass die Klägerin ein solches Verfolgungsschicksal in der UdSSR nicht erlitten hat, ist mit der Ablehnung ihres Asylantrags bestandskräftig festgestellt. Im Übrigen hat sie auch im streitgegenständlichen Widerrufsverfahren nur pauschal und völlig unsubstantiiert vorgetragen, dass sie im Fall ihrer Rückkehr eine Verfolgung befürchte. Vor dem Hintergrund der grundlegenden Änderung der Verhältnisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Etablierung der Russischen Föderation erscheint dies jedoch ausgeschlossen.

4. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts handelt es sich im hier zu entscheidenden Fall bei der Widerrufsentscheidung nach § 73 AsylVfG nicht um eine Ermessensentscheidung, so dass der Frage, ob im streitgegenständlichen Bescheid insoweit ausreichende Ermessenserwägungen angestellt wurden, nicht nachzugehen ist. Der Widerruf einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung steht erst dann nach § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG im Ermessen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, wenn dieses zuvor in dem seit dem 1. Januar 2005 nach § 73 Abs. 2 a AsylVfG vorgeschriebenen Verfahren die Widerrufsvoraussetzungen sachlich geprüft und verneint hat. Eine - wie hier - vorher durchgeführte Prüfung nach der alten Rechtslage reicht dafür nicht aus (BVerwG vom 25.11.2008 BayVBl 2009, 377).

5. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der inhaltlich im Wesentlichen dem früheren § 51 Abs. 1 AuslG entspricht, darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 QRL ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten als Verfolgung in diesem Sinne u.a. Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK - keine Abweichung zulässig ist.

Art. 9 Abs. 3 QRL bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Verfolgungsgründen und den in Abs. 1 als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.

Die Beantwortung der Frage, welche Wahrscheinlichkeit die in § 60 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefahr aufweisen muss, hängt davon ab, ob der schutzsuchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist (vgl. BVerfG vom 10.7.1089 BVerfGE 80, 315/333; BVerwG vom 26.3.1985 BVerwGE 71, 175 f.). War er noch keiner asylrechtlich beachtlichen Bedrohung ausgesetzt, kommt es bei der anzustellenden Prognose darauf an, ob ihm bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit "beachtlicher" Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG vom 29.11.1977 Buchholz 102.23 § 78 AuslG Nr. 11). Wurde ein Ausländer demgegenüber bereits im Herkunftsland politisch verfolgt, so greift zu seinen Gunsten ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab ein: Er muss vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" sein (vgl. BVerfG vom 2.7.1980 BVerfGE 54, 341/360).

Nach der Auffassung des Senats gelten die Grundsätze zum Prognosemaßstab bei der Anerkennung von Flüchtlingen - zumindest im Kern - auch nach der ausdrücklichen Übernahme zahlreicher Normen der Qualifikationsrichtlinie in das deutsche Recht fort (vgl. BayVGH vom 17.4.2008 Az. 11 B 08.30038 und vom 16.6.2008 Az. 11 B 07.30185). Daneben stellt nach Art. 4 Abs. 4 QRL, der gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ergänzend anzuwenden ist, der Umstand, dass der schutzsuchende Ausländer bereits verfolgt wurde oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden (vgl. Art. 15 QRL) erlitten hat bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Mit seiner Entscheidung vom 7. Februar 2008 (ZAR 2008, 192 f.) hat das Bundesverwaltungsgericht im Falle eines einen irakischen Flüchtling betreffenden Asylwiderrufs ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EGV an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gerichtet, im dem u.a. auch die Frage etwaiger Auswirkungen der Neuregelung in Art. 4 Abs. 4 QRL auf den Prognosemaßstab aufgeworfen wird. Das Bundesverwaltungsgericht geht dabei in seiner Vorlageentscheidung davon aus, dass weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Qualifikationsrichtlinie einen Maßstab dafür angeben, wie wahrscheinlich die Verfolgungsgefahr sein muss, damit die Furcht des Flüchtlings als begründet angesehen werden kann. Es stellt weiter fest, dass die Anwendung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nach seiner Auffassung in der Praxis bei Widerrufsfällen zu gleichen Ergebnissen führen wird wie die bisherige Anwendung der Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe (vgl. auch BVerwG vom 20.3.2007 BayVBl 2007, 632 f., wo darauf hingewiesen wird, dass die in Art. 4 Abs. 4 QRL vorgesehene Beweiserleichterung auf tatsächlicher Ebene nur im Falle einer Vorverfolgung eingreift). Auch aus der Beantwortung des genannten Vorabentscheidungsersuchens durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH vom 2.3.2010 Az. 175/08, Asylmagazin 2010, 124) ergibt sich nichts Gegenteiliges. Insbesondere weist der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung (a.a.O., RdNr. 91) darauf hin, dass der Wahrscheinlich-keitsmaßstab bei der Prüfung der Frage, ob dem Betroffenen im Fall des Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft entweder aus dem gleichen Grund wie dem ursprünglichen oder aus einem anderen der in Art. 2 Buchst. c QRL genannten Gründe die Gefahr droht, verfolgt zu werden, der gleiche ist wie bei der Anerkennung als Flüchtling angewandte, ohne dass er den Maßstab für die Wahrscheinlichkeit selbst aus der Richtlinie herleitet. Zwar stellt der Europäische Gerichtshof heraus, dass bei der Beurteilung der Größe der Gefahr in allen Fällen mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzugehen sei, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und individuellen Freiheiten betroffen seien, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehörten (EuGH, a.a.O., RdNr. 90). Jedoch genügen sowohl der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit als auch der herabgestufte Wahrscheinlich-keitsmaßstab diesen Anforderungen.

Mit der Ablehnung des Asylantrags der Klägerin ist bestandskräftig festgestellt, dass sie die Sowjetunion nicht als Vorverfolgte verlassen hat. Nach dem unter 1. Ausgeführten besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Klägerin im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation Verfolgungsmaßnahmen drohen würden.

6. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sind nicht streitgegenständlich.

Nach alledem ist der Berufung der Beklagten stattzugeben.

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe im Sinn von § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.