VG Augsburg, Beschluss vom 17.02.2010 - Au 1 E 10.124
Fundstelle
openJur 2012, 106251
  • Rkr:
Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller unverzüglich für den Zeitraum bis zur erstinstanzlichen Entscheidung über seine Anfechtungsklage gegen die Ausweisung vom 28. Dezember 2009 eine Fiktionsbescheinigung auszustellen.

II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert für dieses Verfahren wird auf 1.250,-- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit welcher die Antragsgegnerin verpflichtet werden soll, ihm eine Fiktionsbescheinigung zu erteilen.

Hinsichtlich des Sachverhalts kann zunächst Bezug genommen werden auf den Beschluss der Kammer vom 15. Februar 2010 im Verfahren Au 1 S 10.217 (S. 2 ff. des BA).

Am 22. Januar 2010erhob der Antragsteller zur Niederschrift der Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts AugsburgKlagemit dem sinngemäßen Antrag, die Antragstellerin zu verpflichten, ihm eine Fiktionsbescheinigung auszustellen (Az. Au 1 K 10.102). Zur Begründung wurde ausgeführt, er benötige die Fiktionsbescheinigung, um nach ... umzuziehen zu können. Dort habe er eine Wohnung gemietet. Auch habe er einen Arbeitsvertrag mit einem dort ansässigen Arbeitgeber abgeschlossen. Die ihm angebotene Duldung sei nicht ausreichend, um umziehen und arbeiten zu können. Über die Klage ist bislang nicht entschieden.

Zu dieser Klage stellte der Antragsteller zur Niederschrift der Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts Augsburg am27. Januar 2010einenAntrag nach § 123 VwGO. Zur Begründung nahm er Bezug auf die Begründung seiner Klage im Verfahren Au 1 K 10.102.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß:

Die Antragsgegnerin wird im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller eine Fiktionsbescheinigung auszustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Der Antragsteller müsse sein Begehren, nach ... umzuziehen, durch einen Antrag auf Erteilung einer weiteren Duldung bei der dortigen Ausländerbehörde verfolgen. Eine Fiktionsbescheinigung könne dem Antragsteller nach der Ausweisung durch die Regierung von ... aufgrund der Regelung des § 84 Abs. 2 AufenthG nicht mehr ausgestellt werden. Auch fehle es am Anordnungsgrund. Es sei nicht vorgetragen, dass dem Antragsteller ernstliche Nachteile entstünden, wenn ihm ein Umzug nach ... nicht ermöglicht werde. Unabhängig davon, ob tatsächlich ein Miet- und ein Arbeitsvertrag abgeschlossen worden sei, habe der Antragsteller diese Nachteile selbst verursacht, da er sich erst nach dem Zugang des Anhörungsschreibens der Regierung von ... vom 6. November 2009 zum Umzug entschlossen habe, ohne sich bei seinem Bevollmächtigten nach den ausländerrechtlichen Konsequenzen der Ausweisung zu erkundigen.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat nicht Stellung genommen und auch keinen Antrag gestellt.

Am 10. Februar 2010 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers vom 16. März 2007 auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab. Mit Beschluss vom 15. Februar 2010 im Verfahren Au 1 S 10.217 ordnete die Kammer die aufschiebende Wirkung der hiergegen erhobene Klage (Au 1 K 10.212) an. In den Gründen dieses Beschlusses ist ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass die Fiktionswirkung, die der Antrag vom 16. März 2007 ausgelöst hat, trotz der Ausweisung vom 28. Dezember 2009 bis zur Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis fortbestand. Der Beschluss wurde der Antragsgegnerin noch am 15. Februar 2010 zugestellt. Ein Rechtsbehelf wurde bislang nicht eingelegt.

Auf Anfrage der Kammer teilte die Antragsgegnerin am 17. Februar 2010 telefonisch mit, dass eine Fiktionsbescheinigung trotz des Beschlusses im Verfahren Au 1 S 10.217 nach wie vor nicht ausgestellt werden könne.

Ergänzend wird Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakten und der Gerichtsakten (auch in den Verfahren Au 1 K 10.102, Au 1 K 10.121, Au 1 S 10.126, Au 1 E 10.127 [betreffend die Verlängerung eines Reiseausweises für Flüchtlinge], Au 1 K 10.212 und Au 1 S 10.217). Zum Verfahren beigezogen wurden auch die in den Verfahren Au 1 K 10.121, Au 1 S 10.126 und Au 1 E 10.127 vorgelegten Behördenakten der Regierung von ...

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

1. Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig.

Die Kammer legt den Antrag des zunächst nicht anwaltlich vertretenen Antragstellers dahingehend aus (§ 88 VwGO), dass die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erteilung einer Fiktionsbescheinigung angestrebt wird.

Zwar stellt die Fiktionsbescheinigung keinen Verwaltungsakt dar, der etwa konstitutiv die Fortgeltung eines Aufenthaltstitels feststellen würde. Allerdings wird die Bestätigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG, dass ein Aufenthaltstitel des Antragstellers als fortbestehend gilt, es dem Antragsteller ermöglichen, nach ... umzuziehen. Auch wenn die Fiktionsbescheinigung lediglich deklaratorisch feststellt, dass die Wirkungen nach § 81 Abs. 3 bzw. 4 AufenthG fortdauern, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers auf eine sofortige Bescheinigung dieses Zustandes, zumal nicht auszuschließen ist, dass die Ausländerbehörde der Stadt ..., ebenso wie die Antragsgegnerin, anderenfalls davon ausgehen wird, dass die Wirkungen des § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG beim Antragssteller nicht mehr gegeben sind.

Insbesondere steht der Zulässigkeit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO auch nicht die Regelung des § 123 Abs. 5 VwGO entgegen. Der Antragsteller kann durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sein Rechtsschutzziel nicht gleichermaßen erreichen. Es ist davon auszugehen, dass die Klage gegen den Ausweisungsbescheid der Regierung von ... aufschiebende Wirkung hat, da die Regierung von ... die sofortige Vollziehung der Ausweisung nicht angeordnet hat. Einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO würde daher das Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Die trotz der aufschiebenden Wirkung der Klage unberührt bleibende sogenannte innere Wirksamkeit der Ausweisung (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) tritt kraft Gesetzes ein. Selbst wenn sich diese gesetzliche Wirkung der Ausweisung ausnahmsweise durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO suspendieren ließe, ließe sich das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers, das auf die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung gerichtet ist, nicht vollständig erreichen. Die Antragsgegnerin hat zum Ausdruck gebracht, dass sie sich trotz des Beschlusses der Kammer im Verfahren Au 1 S 10.217, in dem ausführlich dargelegt wurde, dass die Ausweisung die Fortbestehensfiktion des Antrags des Antragstellers vom 16. März 2007 nicht zum Erlöschen gebracht hat, nicht verpflichtet sieht, dem Antragsteller eine Fiktionsbescheinigung auszustellen. Insofern verbleibt dem Antragsteller zur Durchsetzung seines einstweiligen Rechtsschutzbegehrens auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung lediglich der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO.

2. Der Antrag ist auch begründet.

Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung eines bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Eine derartige Anordnung setzt voraus, dass ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) besteht und sich der Antragsteller auf einen Anordnungsanspruch berufen kann. Das Vorliegen beider Voraussetzungen ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

a) Im Falle des Antragstellers liegt ein Anordnungsgrund vor. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er in den nächsten Tagen einen Umzug mit seiner gesamten Familie nach ... plant. Nach den vorgelegten Unterlagen wurde der Mietvertrag für die Wohnung in ... mittlerweile gekündigt. Auch hat die Ehefrau des Antragstellers die gemeinsamen Kinder vom Kindergarten abgemeldet. Zudem hat der Antragsteller den Beginn eines Beschäftigungsverhältnisses mit einem Dortmunder Arbeitgeber ab dem 1. März 2010 durch die Vorlage eines Arbeitsvertrages glaubhaft gemacht. Somit droht dem Antragsteller für den Fall, dass ihm keine Fiktionsbescheinigung ausgestellt wird, dass er nicht mit seiner Familie nach ... umziehen kann. Gleiches gilt für die beabsichtigte Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses. Insofern droht bei Ablehnung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutzes eine Beeinträchtigung der Rechte des Antragstellers aus Art. 6 GG (Schutz von Ehe und Familie), Art. 12 Abs. 1 GG (Freiheit der Berufswahl) und Art. 2 Abs. 1 GG (das Recht eines rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländers, seinen Wohnsitz frei zu wählen als Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit).

Dem steht nicht entgegen, dass der Antragsteller möglicherweise auch einen Anspruch auf die Erteilung einer Zweitduldung für ... hat. Es ist nicht abzusehen, ob und gegebenenfalls wann die dort zuständige Ausländerbehörde dem Antragsteller eine solche zweite Duldung ausstellen wird. Darüber hinaus stünde der Antragsteller mit dem Besitz von zwei Duldungen gerade im vorliegenden Sachverhalt wesentlich schlechter als mit dem Besitz einer Fiktionsbescheinigung. Insbesondere müsste der Antragssteller für jede Fahrt zwischen Nordrhein-Westfalen und Bayern eine Erlaubnis zum Verlassen des einen oder anderen Bundeslandes einholen, um sich nicht beim Aufenthalt zwischen den beiden Bundesländern dem Vorwurf eines Verstoßes gegen die mit der Duldung verbundenen räumlichen Aufenthaltsbeschränkungen auszusetzen. Angesichts der im Rahmen eines Umzuges zu erwartenden mehrfachen Fahrten zwischen den beiden Wohnorten braucht sich der Antragsteller nicht auf diesen für ihn wesentlich beschwerlicheren Weg verweisen lassen.

Der Anordnungsgrund entfällt auch nicht dadurch, dass der Antragsteller und seine Ehefrau die entsprechenden Dispositionen erst getroffen haben, nachdem sie von der Regierung von ... zur beabsichtigten Aufenthaltsbeendigung angehört wurden. Allein eine Anhörung zu einer belastenden behördlichen Maßnahme verpflichtet einen Ausländer noch nicht, sämtliche die Lebensführung betreffenden Dispositionen zu unterlassen. Insofern ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller offenbar davon ausging, auch nach einer Ausweisung aus dem Bundesgebiet zunächst noch einen Anspruch auf die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung zu haben. Darüber hinaus ist auch kein öffentliches Interesse erkennbar, den Antragsteller bis zur Klärung seiner ausländerrechtlichen Situation im Hauptsacheverfahren an einem Umzug nach ... zu hindern. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller in ... irgendwelchen Überwachungsmaßnahmen unterliegt. Vielmehr haben die Sicherheitsbehörden dadurch, dass sie es unterlassen haben, die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisung anzuordnen, zum Ausdruck gebracht, dass eine evtl. Gefahr, die vom Antragsteller ausgehen könnte, bis zur Entscheidung über die Hauptsache hingenommen werden kann. Unterstellt man, dass der Antragsteller in ... tatsächlich Mitglied einer islamistischen Gruppierung ist, dürfte sich die von ihm ausgehende Sicherheitsgefahr durch einen Wegzug nach ... eher noch verringern.

Angesichts der erheblichen Interessen des Antragstellers an einem baldigen Umzug nach ... und der Tatsache, dass keine öffentlichen Interessen gegen diesen Umzug sprechen, ist ein Anordnungsgrund des Antragstellers damit gegeben.

b) Der Antragsteller kann sich auch auf einen Anordnungsanspruch berufen. Bei der im Eilverfahren lediglich gebotenen und möglichen summarischen Überprüfung steht dem Antragsteller ein Anspruch auf die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung zu.

Nach § 81 Abs. 4 AufenthG gilt der bisherige Aufenthaltstitel bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend, wenn seine Verlängerung rechtzeitig beantragt wird. Nach § 81 Abs. 5 AufenthG ist dem Ausländer eine Bescheinigung über die Wirkung seiner Antragstellung auszustellen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschriften sind vorliegend erfüllt.

Der Antrag des Antragsstellers vom 16. März 2007 auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis hat die Fortbestehensfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG ausgelöst. Diese Wirkung ist weder durch die Ablehnung des Antrags auf die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis durch die Regierung von ... (Ziffer 2. des Bescheids vom 28. Dezember 2009) noch durch die Ausweisung des Antragstellers erloschen. Insofern wird auf die Gründe des Beschlusses der Kammer vom 15. Februar 2010 im Verfahren Au 1 S 10.217 (S. 11 ff. des BA) Bezug genommen. Schließlich hat auch der Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Februar 2010 die Fiktionswirkung nicht beendet, weil die Kammer die aufschiebende Wirkung der hiergegen erhobenen Klage mit Beschluss vom 15. Februar 2010 im Verfahren Au 1 S 10.217 angeordnet hat.

Besteht die Fiktionswirkung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 16. März 2007 nach wie vor fort, ist dem Antragsteller gem. § 81 Abs. 5 AufenthG eine Bestätigung hierüber auszustellen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Antragsgegnerin hat als unterlegener Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen.

4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG. Die Kammer geht dabei davon aus, dass die in der Hauptsache erhobene Klage auf die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung mit dem halben Auffangstreitwert anzusetzen ist. Entsprechend wurde ein Viertel des Auffangstreitwertes für das Eilverfahren angesetzt (vgl. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).