Bayerisches LSG, Urteil vom 08.12.2009 - L 5 R 884/09
Fundstelle
openJur 2012, 104766
  • Rkr:
Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid desSozialgerichts Bayreuth vom 15. September 2009 aufgehoben und derRechtsstreit an das Sozialgericht Bayreuth zurückverwiesen.

II. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentscheidungvorbehalten.

III. Der Streitwert wird auf 23.677,85 EUR festgesetzt.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung einer fiktiven Klagerücknahme.

Aufgrund einer Betriebsprüfung forderte die Beklagte von der Klägerin mit Bescheid vom 25.02.2008/Widerspruchsbescheid vom 23.07.2008 Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 23.677,85 EUR nach. Als Begründung der dagegen zum Sozialgericht Bayreuth erhobenen Klage hat die Klägerin "ausdrücklich auf die Einspruchsbegründung Bezug genommen", eine weitere Begründung bleibe vorbehalten. Auf gerichtliche Anforderung hat der Klägerbevollmächtigte zunächst eine Vollmacht sowie eine Geheimhaltungs-Entbindungserklärung übersandt. Eine weitere Klagebegründung ist bis zur Entscheidung des Sozialgerichts nicht erfolgt.

Auf den siebenten Antrag, die Klagebegründungsfrist zu verlängern, hat das Sozialgericht mit Schreiben vom 08.04.2009 erneut Fristverlängerung gewährt, gleichzeitig aber die Klägerin darauf aufmerksam gemacht, dass "nach § 102 Abs. 2 SGG die Klage als zurückgenommen gilt, wenn Sie nach Erhalt dieses Schreibens das Verfahren nicht innerhalb von drei Monaten weiter betreiben". Auf am letzten Tag vor Ablauf der verlängerten Frist gestellten weiteren Verlängerungsantrag um einen Monat hat das Sozialgericht anders als zuvor praktiziert nicht reagiert, ebenso wenig wie auf einen gleichen einen weiteren Monat später gestellten erneuten Verlängerungsantrag. Auf den insgesamt zehnten Verlängerungsantrag vom 03.07.2009 hat das Sozialgericht unter dem 08.07.2009 der Klägerin mitgeteilt, sie habe trotz Aufforderung die Klage länger als drei Monate nicht betrieben, die Klage gelte als zurückgenommen, das Verfahren wegen dreimonatigen Nichtbetreibens ausgetragen und den Streitwert mit Beschluss vom 13.07.2009 auf 23.677,85 EUR festgesetzt.

Auf Antrag der Klägerin hat das Sozialgericht den Rechtsstreit fortgesetzt. Am 11.09.2009 hat die Klägerin die Klage begründet. Mit Gerichtsbescheid vom 15.09.2009 hat das Sozialgericht festgestellt, der Rechtsstreit sei wegen Nichtbetreibens der Klage durch fiktive Rücknahme beendet.

Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt und beantragt,

den Gerichtsbescheid vom 15.09.2009 des Sozialgerichts Bayreuth aufzuheben und hilfsweise festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht durch Rücknahme der Klage gemäß § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise den Gerichtsbescheid vom 15.09.2009 aufzuheben und die Streitsache an das Sozialgericht Bayreuth zurückzuverweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 08.12.2009 waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und im Sinne der Zurückverweisung an die erste Instanz auch begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht festgestellt, die Klage sei zurückgenommen.

1.

Durch das Gesetz vom 26.03.2008 (BGBl I S.444) wurde mit § 102 Abs. 2 SGG in das sozialgerichtliche Verfahren eine Vorschrift zur fiktiven Klagerücknahme eingefügt, die zum 01.04.2008 in Kraft getreten ist. Danach wird eine Klagerücknahme fingiert, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 3 SGG ist der Kläger in einer unerlässlichen Aufforderung hinzuweisen

* auf die Rechtsfolge, dass die Klage als zurückgenommen gilt sowie

* in gerichtskostenpflichtigen Verfahren nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG auf die Kostentragungspflicht, die aus der fingierten Klagerücknahme gem § 155 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) folgt.

2.

Diese gesetzlichen Voraussetzungen der fiktiven Klagerücknahme erfüllt das sozialgerichtliche Vorgehen nicht ansatzweise. Es fehlt bereits an einer deutlichen und in den Handlungsaufträgen klaren Betreibensaufforderung durch das Sozialgericht. Wegen der auch im vorliegenden Verfahren bestehenden Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG hat eine Betreibensaufforderung konkrete Auflagen zu verfügen wie z.B. die Anforderung von Angaben zu einem bestimmten Sachverhalt, Teilnahme an einer ärztlichen Untersuchung oder vergleichbare konkrete Handlungen. Ein allgemeiner Hinweis, das Verfahren sei zu betreiben, reicht nicht aus (vgl. BR-Drs 820/07 vom 11.01.2008, S. 28). Der wahllose und unspezifische Hinweis des Sozialgerichts vom 08.04.2009 mit dem Wortlaut "Das Gericht macht darauf aufmerksam, dass nach § 102 Abs 2 SGG die Klage als zurückgenommen gilt, wenn Sie nach Erhalt dieses Schreibens das Verfahren nicht innerhalb von 3 Monaten weiter betreiben" erfüllt diese Voraussetzungen nicht.

Die Betreibensaufforderung muss nach der Begründung des Gesetzentwurfes (BR-Drs aaO unter Bezugnahme auf Bundesverwaltungsgericht NVwZ 1986, 46, 47) über das Erfordernis hinaus, sich auf konkrete, verfahrensfördernde Handlungen zu beziehen, eine Belehrung über die Fiktionswirkung der Rücknahme enthalten und förmlich zugestellt werden. Auch daran fehlt es vorliegend.

Schließlich fehlt es an dem für die Klägerin als kostenpflichtig Beteiligter gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG unverzichtbaren Hinweis darauf, dass ihr auch im Falle der fiktiven Klagerücknahme die Verfahrenskosten zur Last fallen nach § 155 Abs 2 VwGO.

3.

Der angefochtene Gerichtsbescheid verstößt zudem gegen das aus Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs 4 Satz 1, Art 103 Abs 1 Grundgesetz i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich garantierte Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren. Das Sozialgericht hatte bis hin zum Schreiben vom 08.04.2009 und selbst noch mit diesem Fristverlängerungsgesuche der Klägerin nie abgelehnt. Wegen dieser geübten Prozesspraxis hatte die Klägerin trotz des gerichtlichen Schreibens vom 08.04.2009 damit rechnen können, dass das Sozialgericht auf die weiteren Verlängerungsgesuche vom 11.05.2009, 12.06.2009 und vom 03.07.2009, die jeweils am letzten Tag der beantragten verlängerten Frist gestellt waren, wiederum eine Verlängerung gewähren würde. Das gilt jedenfalls hier, weil kein Hinweis auf eine Änderung der kontinuierlich getätigten Praxis ergangen ist. Die Klägerin hatte somit nicht damit rechnen müssen, dass ihr Antrag vom 03.07.2009 auf weitere Fristverlängerung nicht beachtet werden würde.

4.

Das sozialgerichtliche Verfahren leidet damit an mehreren wesentlichen Mängeln im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so dass der Senat von der Möglichkeit Gebrauch macht, das Verfahren an die Ausgangsinstanz zurückzuverweisen. Damit erhält das Sozialgericht auch die Gelegenheit, die nach § 75 Abs. 2 SGG notwendigen Beiladungen des beitragsrechtlich unmittelbar betroffenen Beschäftigten sowie der Sozialversicherungsträger nachzuholen. Das Sozialgericht wird auch über die endgültige Kostentragungspflicht zu entscheiden haben.

Auf die Berufung der Klägerin wird der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 15.09.2009 aufgehoben und der Rechtsstreit dorthin zurückverwiesen.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1, 47 Abs. 2 Gerichtskostengesetz.

Gründe zur Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.