OLG München, Urteil vom 10.08.2009 - 5St RR 201/09
Fundstelle
openJur 2012, 102663
  • Rkr:
Tenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 18. März 2009 samt den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Aichach hat den Angeklagten wegen Missbrauchs von Notrufen am 24.4.2008 zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.

Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Augsburg am 18.3.2009 mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt wird.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision und rügt die Verletzung materiellen Rechts.

II.

Die nach §§ 333, 341 Abs. 1, 345 Abs. 1 StPO zulässige Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Strafzumessungserwägungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Nachprüfung im Hinblick auf §§ 46, 47 Abs. 1 StGB nicht stand (§§ 337, 349 Abs. 5 StPO).

1. Aufgrund der Sachrüge prüft das Revisionsgericht – und zwar ausschließlich anhand der Urteilsurkunde –, ob das Recht auf den festgestellten Sachverhalt richtig angewendet wurde und die Urteilsfeststellungen eine tragfähige Grundlage für diese Prüfung bieten, insbesondere, ob sie frei von Lücken, Widersprüchen und Verstößen gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze sind (Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 337 Rn. 21).

Auch ohne entsprechende Verfahrensrüge und unabhängig von einer sachlichen Beschwer ist zu prüfen, ob ein mit der Revision angefochtenes Berufungsurteil über alle Entscheidungsbestandteile des vorausgegangenen amtsgerichtlichen Urteils entschieden hat. Aus diesem Grund ist vom Revisionsgericht auch nachzuprüfen, ob und inwieweit die Berufung rechtswirksam beschränkt ist.

Die Berufungsbeschränkung des Angeklagten war wirksam, da die amtsgerichtlichen Feststellungen den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat in ausreichendem Umfang erkennen lassen und daher Grundlage für eine Strafzumessung bilden konnten. Anhaltspunkte für einen völligen Ausschluss der Schuldfähigkeit und damit für eine mangelnde Trennbarkeit der Schuld- und der Straffrage fehlen.

2. Als Rechtsanwendung unterliegt der Rechtsfolgenausspruch revisionsrechtlicher Nachprüfung. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Allein seine Aufgabe ist es, auf der Grundlage der bindenden Feststellungen zur Tat und des in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnenen Eindrucks die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Die tatrichterliche Entscheidung ist vom Revisionsgericht bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen. Das Revisionsgericht darf nur eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen des Urteils in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Das Revisionsgericht prüft, ob der Tatrichter von unrichtigen oder unvollständigen Erwägungen ausgegangen ist oder die ihm gemäß §§ 46, 47 StGB obliegende Pflicht zur Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände verletzt, insbesondere rechtlich anerkannte Strafzwecke nicht in den Kreis seiner Erwägungen einbezogen hat (Meyer-Goßner aaO § 337 Rn. 34 m.w.N.). Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird das Berufungsurteil nicht gerecht.

3. Nach § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Die Vorschrift verfolgt vor dem Hintergrund, dass kurze Freiheitsstrafen als in der Regel spezialpräventiv verfehlt angesehen werden (Fischer StGB 56. Aufl. § 47 Rn. 2 m.w.N.), den Regelungszweck, kurze Freiheitsstrafen nur unter den genannten engen Voraussetzungen zu verhängen. Die erforderlichen besonderen Umstände in der Tat oder der Täterpersönlichkeit verlangen deshalb eine umfassende Gesamtwürdigung (Fischer aaO § 47 Rn. 5). Daran fehlt es hier.

3.1. Rechtsfehlerhaft hat sich das Berufungsgericht mit den Vorverurteilungen des Angeklagten nicht näher befasst, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass sich die Kammer weder durch die Vielzahl der Vorverurteilungen noch durch die Tatsache, dass der Angeklagte die ihm hier zur Last liegende Tat während des Laufs von zwei Bewährungen begangen hat, daran gehindert sieht, für die jetzt zur Aburteilung stehende Tat auch eine Geldstrafe zu verhängen (UA S. 10). Diese im Ansatz vertretbare Erwägung des Berufungsgerichts macht eine nähere Befassung mit den Vorverurteilungen des Angeklagten im Rahmen der erforderlichen umfassenden Gesamtwürdigung aber nicht entbehrlich. Der Angeklagte musste im Zeitraum von Dezember 1997 bis Juli 2004 insgesamt neunmal zu Geldstrafen verurteilt werden, wobei die Verurteilung vom 16.5.2003 (Strafliste Nr. 8; UA S. 6) einschlägige Taten betraf. Der Angeklagte wurde ferner am 2.12.2004 (Strafliste Nr. 11; UA S. 6/7) wegen einer einschlägigen Tat zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der Zeit von April 2005 bis Februar 2007 musste der Angeklagte erneut dreimal zu Geldstrafen verurteilt werden. Zuletzt wurde der Angeklagte im November 2007 zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (vgl. UA S. 7). Wie das Berufungsgericht vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis kam, der Angeklagte sei keineswegs "strafresistent" (UA S. 12), lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Dies hätte aber eingehender Erörterung bedurft, weil die hohe Rückfallgeschwindigkeit bei der Begehung zum Teil einschlägiger Taten den Schluss zulässt, dass sich der Angeklagte konsequent über frühere Warnungen hinwegzusetzen pflegt. Ob und inwieweit das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang die erstmalige Verbüßung von Freiheitsstrafe nach Widerruf der Bewährung (UA S. 4) berücksichtigt hat, bleibt ebenfalls offen.

3.2. Den Urteilsgründen lässt sich auch nicht entnehmen, welche positiven Veränderungen in den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten die Erwartung begründen, dass er keine Straftaten mehr begeht (Fischer aaO § 47 Rn. 10a). Vielmehr sieht das Berufungsgericht die Verhängung einer Geldstrafe zwar als "vollkommen ausreichend" (UA S. 13) an, führt aber an anderer Stelle aus, es sei zu befürchten, dass der Angeklagte "auch künftig immer wieder vergleichbare Taten begehen wird" (UA S. 14). Auch dies lässt das Fehlen der erforderlichen Gesamtwürdigung der vorliegenden Tatsachen hinsichtlich der Tat und der Persönlichkeit des Angeklagten offenbar werden.

3.3. Die vom Berufungsgericht angestellten Betrachtungen zum verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit von Tat und Rechtsfolge (UA S. 11) machen die hier fehlende umfassende Gesamtwürdigung der relevanten Umstände nicht entbehrlich.

Die Verhängung einer die Mindeststrafe übersteigenden kurzen Freiheitsstrafe kann verfassungsgemäß sein, wenn der Täter mehrfach und einschlägig vorbestraft ist, weil § 47 StGB auf der Auffassung beruht, dass die Ziele der Strafrechtspflege die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe insbesondere in denjenigen Fällen notwendig machen können, in denen der Täter ersichtlich durch eine Geldstrafe nicht nachhaltig zu beeinflussen ist oder wo um des Bestands und der Wahrung der Rechtsordnung willen auf eine Ahndung des Rechtsbruchs mit einer Freiheitsstrafe nicht verzichtet werden kann (vgl. BVerfG Beschluss vom 9.6.1994 - 2 BvR 710/94 zitiert nach juris, Rn. 6).

4. Darüber hinaus weisen die Urteilsgründe Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten auf.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Anwendbarkeit des § 21 StGB (UA S. 9) sind aus sich heraus nicht verständlich. Einerseits folgt das Berufungsgericht aus eigener Überzeugung den Ausführungen des Sachverständigen, wonach die Voraussetzungen des § 21 StGB im vorliegenden Fall nicht gegeben sind (aaO). Andererseits hat das Gericht die Kombination von Alkoholkrankheit, aktueller Alkoholisierung und intellektueller Minderbegabung als einen Strafmilderungsgesichtspunkt berücksichtigt, "und zwar unabhängig davon, ob jedem einzelnen dieser Einflussfaktoren oder allen Einflussfaktoren in ihrer Gesamtheit die Ausprägung zuzurechnen ist, dass die Schwelle des § 21 erreicht oder überschritten ist" (aaO). Diesen Ausführungen lässt sich in der Gesamtschau nicht zweifelsfrei entnehmen, ob das Berufungsgericht nun die Voraussetzungen des § 21 StGB für gegeben hielt oder nicht. Ferner lässt sich nicht feststellen, ob das Berufungsgericht vom Regelstrafrahmen oder von einem nach § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen ausgegangen ist.

In diesem Zusammenhang bleibt unklar, von welchem Grad der Alkoholisierung das Berufungsgericht ausgegangen ist, wenn einerseits die vorliegende Alkoholkonzentration beim Alkohol gewöhnten Angeklagten als "nicht so hoch" (UA S. 9) bezeichnet wird und andererseits der Angeklagte als "erheblich angetrunken" (UA S. 12) beschrieben wird.

Wie das Berufungsgericht zu der Erkenntnis kam, dass die Vorverurteilungen des Angeklagten nach Art und Häufigkeit in einem engen Zusammenhang mit der Alkoholkrankheit des Angeklagten gesehen werden müssen (UA S. 10) und welche Schlussfolgerungen das Berufungsgericht im Rahmen der Strafzumessung hieraus gezogen hat, erschließt sich dem Senat nicht. Soweit dies aus den Urteilsgründen ersichtlich ist (UA S. 6/8), war der Angeklagte bei der Tat vom 3.8.2004 (Strafliste Nr. 11) alkoholisiert, wo hingegen dies bei der Tat vom 24.4.2007 (Strafliste Nr. 15) nicht festgestellt wurde. Ob der Angeklagte bei den den übrigen Vorverurteilungen zugrunde liegenden Taten alkoholisiert war, ist ebenfalls nicht festgestellt.

5. Auf den dargelegten Rechtsfehlern beruht das Urteil und war deshalb gemäß §§ 349 Abs. 5, 353, 354 Abs. 2 StPO samt den dem Rechtsfolgenausspruch zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg zurückzuverweisen.