VG München, Urteil vom 26.01.2009 - M 8 K 08.789
Fundstelle
openJur 2012, 97605
  • Rkr:
Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom … Juli 2007 wird aufgehoben.

II. Beklagte und Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen eine isolierte Gestattung einer Mobilfunkanlage auf dem Nachbargebäude.

Am 11. Juni 2007 beantragte die Beigeladene eine isolierte Gestattung zur Zulassung einer Mobilfunkanlage auf dem Grundstück …er Str. 16, FlNr. 858/9, Gemarkung …. Zur Begründung trug sie vor, die Anlage sei funkplanerisch dringend notwendig, da ansonsten in diesem Bereich ein lückenloses Funktionieren der Netzstruktur nicht gewährleistet werden könne. Die Beigeladene legte im Rahmen des Antrags eine entsprechende Standortbescheinigung der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post vor, in der die Einhaltung der in Anhang I zu § 3 26. BImSchV festgestellten Immissionsgrenzwerte bescheinigt wurde.

Mit Bescheid vom … Juli 2007 erteilte die Beklagte gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 31 Abs. 1 BauGB, § 3 Abs. 3 i.V.m. § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO eine Ausnahme wegen Errichtung einer Mobilfunkanlage, die nicht nur der Versorgung des Gebietes diene, in einem reinen Wohngebiet. Zur Begründung wurde angegeben, die Ausnahme sei notwendig für die Gewährleistung angemessener und ausreichender flächendeckender Telekommunikation. Sie diene der Behebung von Versorgungslücken in der Netzabdeckung. Hieran bestehe ein öffentliches Interesse. Wesentliche Nachteile für die Nachbarn seien nicht zu befürchten, weil die entsprechende Standortbescheinigung vorliege.

Eine Zustellung des Bescheids an die Nachbarn erfolgte nicht.

Am 22. Februar 2008 erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag,

den Bescheid vom … Juli 2007 aufzuheben.

Zur Begründung trug er im Wesentlichen vor, eine Ausnahme hätte nicht erteilt werden dürfen, da die optischen Belange in einem reinen Wohngebiet nicht berücksichtigt worden seien. Das Rücksichtnahmegebot sei verletzt. Die Bewahrung der Gebietsart sei bei der Erteilung der Ausnahmegenehmigung durch die Beklagte nicht ausreichend berücksichtigt worden. Die Angaben der Beigeladenen im Antrag auf Erteilung der Ausnahme seien nicht nachgeprüft worden. Im Rahmen des der Beklagten zustehenden Ermessensspielraums seien die Belange der Nachbarn nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, durch die Erteilung einer Ausnahme sei die Anlage auch im reinen Wohngebiet zulässig. Darüber hinaus handle es sich um eine funktechnische Nebenanlage im Sinne von § 14 BauNVO, die u.a. auch der Versorgung des Gebiets diene. Interessen der Nachbarn seien nicht beeinträchtigt, da die notwendige Standortbescheinigung vorgelegt worden sei.

Das Verwaltungsgericht hat am 16. Januar 2009 Beweis erhoben durch die Inaugenscheinnahme des streitgegenständlichen Grundstücks. Am gleichen Tag wurde die Verwaltungsstreitsache mündlich verhandelt. Insoweit wird auf die Niederschrift des Augenscheins sowie das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die streitgegenständliche Gestattung für die Mobilfunkanlage ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, dass die Mobilfunkanlage nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. a BayBO 1998 (vgl. Art. 83 Abs. 1 BayBO 2008) keiner Baugenehmigung bedarf. Diese Vorschrift gilt für Antennen einschließlich der Masten bis zu einer Höhe von 10 m und zugehöriger Versorgungseinheiten mit einem Rauminhalt bis zu 10 m³ sowie, soweit sie auf oder an einer bestehenden baulichen Anlage errichtet werden, die damit verbundene Änderung der Nutzung oder der äußeren Gestalt der Anlage. Die erste Voraussetzung einer Antennenhöhe von maximal 10 m wird augenscheinlich eingehalten, auch wenn es dafür, da sich die Höhenbegrenzung ausschließlich aus statisch-konstruktiven Erwägungen heraus ergibt (vgl. Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiss, BayBO, Loseblatt, RdNr. 98 zu Art. 63 BayBO 1998) - nicht allein auf den sichtbaren oder den den Dachfirst überragenden Anteil der Konstruktion ankommen dürfte, sondern auf deren Gesamthöhe. Da der sichtbare Teil jedoch eine Höhe von 7 bis 8 m hat, ist insgesamt davon auszugehen, dass er noch unterhalb der 10-Meter-Grenze liegt. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Rauminhalt des Betriebsraums der Mobilfunk-Basisstation mehr als 10 m³ beträgt.

Nach bayerischem Landesrecht ist schriftlich die Zulassung einer Abweichung zu beantragen, wenn von Regelungen der Baunutzungsverordnung (BauNVO) über die zulässige Art der baulichen Nutzung abgewichen werden soll (Art. 70 Abs. 3 Satz 1 BayBO 1998). Diese sog. isolierte Abweichung umfasst insbesondere auch den Regelungsbereich der Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB und der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB und begründet eine eigenständige Genehmigungspflicht. Diese Genehmigung stellt - genauso wie die Baugenehmigung - einen Verwaltungsakt dar und kann vom Nachbarn mit der Anfechtungsklage angegriffen werden.

Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVBl 2006, 469) sind Mobilfunk-Basisstationen Teile gewerblicher Hauptanlagen im Sinne der BauNVO und können gleichzeitig fernmeldetechnische Nebenanlagen nach § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO sein. Auch die Zulässigkeit des räumlich abgetrennten Betriebsteils ist damit abhängig von der Zulässigkeit der Art des Betriebs im Baugebiet. Als Ergebnis des durchgeführten Augenscheins geht das Gericht davon aus, dass es sich beim streitgegenständlichen Gebiet um ein reines Wohngebiet im Sinne von § 3 BauNVO handelt. Hiervon ist auch die Beklagte bei Erteilung des Bescheids vom 2. Juli 2007 ausgegangen. An diesem Ergebnis ändert nichts, dass auf dem Anwesen … Str. 24 eine Kfz-Meisterwerkstatt betrieben wird. Diese ist zwar bereits aufgrund ihrer Größe nicht als ausnahmsweise zulässiger nicht störender Handwerksbetrieb - soweit überhaupt ein Handwerk angenommen werden kann - im Sinne von § 3 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO anzusehen. Dass sie damit in einem reinen Wohngebiet bauplanungsrechtlich unzulässig ist, führt jedoch nicht zur Annahme einer anderen Gebietsart. Vielmehr handelt es sich um einen Ausreißer, nachdem ansonsten im streitgegenständlichen Gebiet ausschließlich Wohnnutzung vorhanden ist.

Gewerbebetriebe bzw. Teile hiervon sind in reinen Wohngebieten auch nicht ausnahmsweise zulässig. Somit hätte es nach § 34 Abs. 2, § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m § 3 BauNVO der Erteilung einer Befreiung bedurft. Eine solche wollte die Beklagte mit Bescheid vom … Juli 2007 ausweislich dessen Tenors und dessen Gründen nicht erteilen. Eine solche kann hierin im Übrigen auch nicht gesehen werden, weil es hierfür bereits an der zu fordernden ordnungsgemäßen Ermessensausübung fehlen würde. Nach § 31 Abs. 2 BauGB liegt die Erteilung einer Befreiung im pflichtgemäßen Ermessen der Baugenehmigungsbehörde. Selbst wenn man annehmen wollte, dass durch die Zulassung eines weiteren (Teil)Gewerbebetriebs in Form der Mobilfunkanlage im Wege einer Befreiung der Gebietscharakter noch nicht in Frage gestellt würde, hätte dieser Umstand jedenfalls im Rahmen der Ermessensausübung Berücksichtigung finden müssen.

Weiter kann es dahinstehen, ob es sich bei der streitgegenständlichen Mobilfunk-Basisstation um eine fernmeldetechnische Nebenanlage im Sinne von § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO handelt, die ausnahmsweise zugelassen werden könnte. Nach Ansicht der Kammer kommt es (entgegen HessVGH, NVwZ 2000, 694) nicht allein auf die Höhe der streitgegenständlichen Anlage an, da diese nur indizielle Bedeutung haben kann. Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist es jedoch Voraussetzung, dass solche Nebenanlagen der Versorgung der Baugebiete dienen, damit sie im Wege einer Ausnahme in den Baugebieten zugelassen werden können. Aus der Verwendung der Mehrzahl „Baugebieten“ im Wortlaut der Vorschrift im Unterschied zu § 14 Abs. 1 BauNVO, in dem von der Einzahl „Baugebiet“ die Rede ist, wird teilweise geschlossen, dass eine Nebenanlage im Sinne von § 14 Abs. 2 BauNVO auch dann zugelassen werden kann, wenn sie nicht nur das unmittelbare Standort-Gebiet, sondern auch angrenzende Gebiete versorgt. Nach der in der mündlichen Verhandlung von der Beigeladenen vorgelegten funktechnischen Begründung mit Lageplänen wird von der streitgegenständlichen Anlage aber ein Gebiet versorgt, welches so weit über das Standort-Baugebiet hinaus geht, dass nicht mehr von einer Gebietsversorgung auch im Sinne von § 14 Abs. 2 BauNVO gesprochen werden kann. Darüber hinaus ist die Beklagte nach Ansicht des Gerichts im Rahmen des ihr nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO zustehenden Ausnahmeermessens verpflichtet zu prüfen, ob im Gebiet bereits eine ausreichende Mobilfunkversorgung vorhanden ist oder nicht. Bei dieser Prüfung ist die Versorgung mit ausreichenden Mobilfunkangeboten insgesamt in den Blick zu nehmen, insoweit können nicht nur auf möglicherweise bestehende Versorgungslücken eines konkreten Mobilfunkanbieters abgestellt werden. Denn dies würde dazu führen, dass jedes Mobilfunkunternehmen gesonderte Versorgungseinrichtungen beantragen könnte, die im Ergebnis zu einer unerwünschten Häufung von Mobilfunkmasten und einer Überversorgung des jeweiligen Gebiets führen würden. Eine solche Prüfung hat die Beklagte ausweislich der Bescheidsbegründung und ausweislich des Inhalts der Behördenakten jedoch unterlassen. Damit leidet die streitgegenständliche isolierte Ausnahme an einem Ermessensfehler in Form eines partiellen Ermessensausfalls, der auch vom Gericht berücksichtigt werden kann (§ 114 Satz 1 VwGO).

Auf das Unterbleiben der Erteilung einer notwendigen Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB kann sich der Kläger auch berufen. Denn hierbei sind ausweislich des Gesetzeswortlauts auch nachbarliche Interessen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Erhaltung der Gebietsart, zu berücksichtigen. Gleiches gilt im Zusammenhang mit der ermessensfehlerhaft erteilen Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m § 14 Abs. 2 Satz 1 BauNVO. Denn nur eine ermessensfehlerfrei erteilte Ausnahme wird dem Gebietserhaltungsanspruchs des Nachbarn in zulässiger Weise gerecht.

Nach alledem war der streitgegenständliche Bescheid mit der Kostenfolge des §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO, 100 ZPO aufzuheben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m §§ 708 ff. ZPO.

 

Beschluss

Der Streitwert wird auf EUR 7.500,-- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).

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