Bayerisches LSG, Urteil vom 26.11.2008 - L 16 R 610/05
Fundstelle
openJur 2012, 96384
  • Rkr:
Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil desSozialgerichts R. vom 21.06.2005 und der Bescheid der Beklagten vom24.06.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2002abgeändert und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab dem01.11.2008 bis 31.12.2009 Rente wegen voller Erwerbsminderung aufZeit zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger ein Fünftel der außergerichtlichenKosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer vollen Erwerbsminderungsrente ab dem 05.04.2002.

Der 1962 geborene Kläger hat keine abgeschlossene Ausbildung. Er arbeitete zuletzt versicherungspflichtig in einem Steinmetzbetrieb. Ab dem 22.01.2001 war er bis zum 09.06.2002 arbeitsunfähig.

Im Jahr 2000 wurde beim Kläger ein Hamartom im rechten Unterlappensegment der Lunge diagnostiziert. Das gutartige Hamartom wurde operativ entfernt, Metastasen lagen nicht vor. Seit vielen Jahren leidet der Kläger immer wieder unter eitrigen Fistelungen und Abszessen, besonders in der Leistengegend. Diese müssen durch Exzisionen entfernt werden.

Am 05.04.2002 beantragte er bei der Beklagten eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Beklagte holte bei ihrer ärztlichen Gutachterstelle in R. bei Dr. M. ein sozialmedizinisches Gutachten über die Leistungsfähigkeit des Klägers ein. Der Gutachter kam zu der Diagnose, der Kläger habe leichte Abnutzungserscheinungen im Bereich der Wirbelsäule. Er leide an einer Neigung zu eitrigen Fistelbildungen im Bereich der Leisten bei Schweißdrüsenabszessen. Der Zustand nach der Lungenteilresektion wegen des Hamartoms sei unauffällig. Zusammenfassend lasse sich sagen, dass das Leistungsvermögen unter Berücksichtigung aller Befunde nur leichtgradig eingeschränkt sei. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne der Kläger noch leichte bis gelegentlich mittelschwere vollschichtige Tätigkeiten unter Vermeidung von länger andauernden Zwangshaltungen und häufigem Bücken ausführen. Die zuletzt ausgeübten schweren körperlichen Arbeiten in einem Steinmetzbetrieb seien auf Dauer nicht mehr zumutbar.

Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.06.2002 den Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab, da weder eine teilweise noch eine volle Leistungsminderung vorliege. Der Kläger könne nach den ärztlichen Feststellungen auch trotz der Wirbelsäulenbeschwerden wegen Abnutzung und der Neigung zu eitrigen Fistelungen noch mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten.

Hiergegen legte der Kläger am 16.07.2002 Widerspruch ein. Er fühle sich nicht mehr in der Lage, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten.

Am 12.08.2002 erlitt der Kläger einen Hörsturz mit der Folge eines totalen Hörverlustes links und einem Tinnitus rechts. Der Hörsturz wurde im Klinikum D-Stadt stationär behandelt. Eine Verbesserung des Gehörs konnte durch die Therapie nicht erzielt werden. Vom behandelnden HNO-Arzt Dr. B. wurde ein Befundbericht eingeholt, welcher den akuten Hörsturz und damit einhergehend den teilweisen Verlust des Gehörs bestätigt. In der sozialmedizinischen Stellungnahme der Beklagten zu dem Hörsturz wird weiterhin an der vollschichtigen Leistungsfähigkeit des Klägers festgehalten mit der Maßgabe, dass die zumutbare Tätigkeit keine besonderen Ansprüche an das Hörvermögen stellen dürfen.

Mit Bescheid vom 04.12.2002 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Aufgrund der vorliegenden Diagnosen ergäben sich zwar qualitative Einschränkungen im Leistungsvermögen. So könne der Kläger nur leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten, ohne Bücken, länger andauernde Zwangshaltungen, ohne Schicht bzw. Nachtdienst und ohne besondere Anforderungen an das Hörvermögen. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen sei jedoch noch ein vollschichtiges Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt möglich.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 02.01.2003 Klage zum Sozialgericht Regensburg (SG). Das SG holte bei dem Hausarzt des Klägers, Dr. K., einen schriftlichen Befundbericht ein, der folgende Diagnosen enthielt: Perianale Fisteln, Bluthochdruck, Hypertriglyceridämie, Hypercholesterinämie, halotantoxische Hepatopathie, Tinnitus mit Schwerhörigkeit rechts, Taubheit links.

Im Terminsgutachten des Sozialmediziners Dr. W. vom 05.12.2003 wurden die vorstehenden Diagnosen bestätigt. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit stimmte mit der der Vorgutachter überein, eine quantitative Leistungseinschränkung liege nicht vor, lediglich qualitative Einschränkungen seien zu beachten.

Der Kläger wies in der mündlichen Verhandlung darauf hin, er sei seit Monaten in psychiatrischer Behandlung und gehe durchschnittlich einmal in der Woche zur Psychotherapie. Hierzu legte er ein Attest seiner Psychologin Frau N. vor, in dem eine mittelschwere depressive Episode, phobische Störung, psychophysiologische Störung bei chronischem Schmerzsyndrom und Hepatose diagnostiziert wurden. Auf Antrag des Klägers wurde als weiterer Gutachter der Nervenarzt Dr. R. bestellt und die mündliche Verhandlung vertagt. Dr. R. stelle eine länger andauernde depressive Reaktion bei chronischen körperlichen und psychosozialen Problemen fest. Die Verstimmung des Klägers sei aber nicht von einem funktionell relevanten Ausmaß, d.h. der Kläger könne die Erfordernisse des Alltags oder die Verfolgung seiner Interessen leisten. Auf seinem Fachgebiet läge keine Einschränkung des Leistungsvermögens vor. Jedoch sei zur Behandlung der rezidivierenden Hidradentitis eine komplette Exzision notwendig, die noch nicht ausreichend durchgeführt wurde.

Daraufhin wurde auf Antrag des Klägers ein weiteres Gutachten auf dem Fachgebiet der Dermatologie von Dr. W. eingeholt. Dieser Gutachter diagnostizierte bei dem Kläger das Vorliegen einer Akne inversa. Diese sei durch das Auftreten von großen eitrigen Knoten gekennzeichnet, welche in der Regel eine erhebliche Spontanschmerzhaftigkeit und Druckschmerzhaftigkeit beim Gehen und Sitzen auslöse. Zur Ausheilung einer solchen Akne inversa sei nach den Leitlinien der Dermatologischen Qualitätssicherung die großflächige radikale Operation mit Ausräumung der kompletten Leistenregion notwendig. Lediglich kleinere Inzisionen von Eiterknoten, wie sie bei dem Kläger immer wieder durchgeführt wurden, seien durch eine hohe Rückfallquote gekennzeichnet. Eine großflächige Operation sei noch nicht erfolgt. Wegen der Schmerzen bei der Entstehung neuer Knoten sowie der Geruchsbelästigung durch die Entleerung eitrigen Sekrets sei die Gesellschaftsfähigkeit, aber auch die Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingeschränkt. Bis 31.12.2000 sei der Kläger lediglich halbschichtig, ab dem 01.01.2001 überwiegend gar nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt einsetzbar. Eine Besserung sei wegen des chronischen Krankheitsbildes nicht zu erwarten.

Die Beklagte wendete dagegen ein, dass die Diagnose des Dr. W. nicht bezweifelt werde, der sozialmedizinischen Schlussfolgerung jedoch nicht gefolgt werde. Eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei dem Kläger noch zumutbar.

In der mündlichen Verhandlung am 17.11.2004 trug der Kläger vor, seine Hauterkrankung sei mittlerweile derart ausgeprägt, dass man nicht mehr nur von Arbeitsunfähigkeit, sondern von Erwerbsunfähigkeit ausgehen müsse. Eine Aufstellung der notwendigen Operationen und Behandlungen werde nachgereicht. Daraufhin wurde die mündliche Verhandlung erneut vertagt.

Die Beklagte führte zu dem vorgelegten Attest des Hausarztes Dr. K. und der Bescheinigung der Psychotherapeutin N. aus, es seien keine neuen stichhaltigen sozialmedizinisch relevanten Aspekte aufgeführt worden. Deshalb gehe sie weiterhin davon aus, dass der Kläger leichte bis mittelschwere Tätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als sechs Stunden ausüben könne.

Das SG wies mit Urteil vom 21.06.2005 die Klage als unbegründet ab. Es schloss sich in seiner Begründung den Darstellungen der Gutachter Dr. W., Dr. R. und den Gutachtern der Beklagten an, welche zwar qualitative Einschränkungen beim Kläger feststellen konnten, die quantitative Leistungseinschränkung aber als unvermindert ansahen.

Am 29.08.2005 hat der Kläger gegen das am 10.08.2005 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Er sei aufgrund seiner vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von wenigstens sechs Stunden täglich nachzukommen. Die Einschränkungen beruhten auf dem Tinnitus rechts, der Taubheit linksseitig, Atemnot nach der Operation des gutartigen Lungentumors, psychischen Beeinträchtigungen und vor allem auf den Fistelbildungen und Abszessen durch die Akne inversa. Im parallel zu dem Rentenverfahren laufenden Schwerbehindertenverfahren sei vom Gutachter Dr. R. wegen der Akne inversa ein Einzel-GdB von 40 befürwortet worden mit dem Verdacht einer Entwicklungsanomalie.

Der Senat hat die Schwerbehindertenakte beigezogen. Aus dieser ist ersichtlich, dass im Rahmen eines Vergleichs der Gesamt-GdB auf 60 festgelegt wurde.

Der Senat hat als Sachverständigen Dr. F., Allergologe und Arzt für Lungenheilkunde mit einem Gutachten zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers beauftragt. Dieser hat auf seinem Fachgebiet eine leichtgradige Reduktion des gesamten Lungenvolumens aufgrund eines Zustandes nach der Lungenoperation wegen des gutartigen Tumors sowie eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung mit Erhöhung des Atemwegswiderstandes und Erhöhung des Restvolumens der Lunge diagnostiziert. Beide Krankheiten führten jedoch nur zu einer leichten, nicht wesentlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Leichte und mittelschwere Arbeiten könnten vollschichtig verrichtet werden. Arbeiten im Akkord sowie schweres Heben und Tragen sollten vermieden werden. Beim Arbeiten im Sitzen könne es wegen der Fistelbildungen zu Problemen kommen. Allerdings traten bei der Untersuchung, insbesondere beim Belastungstest auf dem Fahrradergometer, keine entscheidenden Sitzprobleme auf.

Der Kläger hat zur weiteren Begründung seiner Berufung eine Stellungnahme seiner Psychotherapeutin N. vom 15.06.2007 vorgelegt, in der aufgrund der multiplen chronischen körperlichen und psychischen Probleme des Klägers (im Einzelnen: mittelschwere depressive Störung, phobische Störung, psychophysiologische Störung bei chronischem Schmerzsyndrom, dekompensiertem Tinnitus, Schwerhörigkeit, Hepatose und Insomnie) eine vorzeitige Verrentung empfohlen wird.

Des Weiteren hat er einen Arztbericht des Krankenhauses A-Stadt eingereicht. Darin wird über eine Narbenhernie des Klägers berichtet, die durch das Krankenhaus versorgt worden ist. Zudem hat er eine Aufstellung über die Fistelbildungen im Zeitraum 27.06.2005 bis 23.07.2007 vorgelegt. Daraus ergibt sich, dass bei dem Kläger ca. zweimal pro Monat eine Entzündung bzw. Fistelbildung entsteht.

In ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme zu den Unterlagen des Klägers führt die Beklagte aus, der Kläger leide nach der Anamnese des Krankenhauses Barmherzige Brüder in R. schon seit 1994 an den Fistelbildungen. Bis zum Jahr 2001 habe der Kläger dennoch schweißtreibende und staubbelastende Tätigkeiten im Steinmetzbetrieb verrichten können. Die Auflistung über die Häufigkeit der Fistelungen und Entzündungen sei zweifelhaft. Bei der Begutachtung durch Dr. W. am 21.06.2004 seien zwar Narbenbezirke festgestellt worden, aber keine akuten Entzündungen. Auch bei der Begutachtung durch Dr. R. am 27.07.2005 seien nur zahlreiche reizlose Vernarbungen entdeckt worden, nicht aber die vom Kläger für diesen Zeitraum aufgelisteten Entzündungen. Auch bei der Begutachtung durch Dr. F. seien keine Sitzprobleme aufgetreten, obwohl der Kläger in diesem Zeitraum Analfisteln in seiner Aufstellung eingetragen habe. Es seien deshalb Zweifel an der vom Kläger vorgetragenen Häufigkeit und Dauer der Entzündungen angezeigt. Auch sei mit einem Rückgang der Abszessbildung zu rechnen, da sich an bereits vernarbten Hautgebieten keine Abszesse mehr bilden könnten. Es werde deshalb die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers aufrecht erhalten.

Der Kläger hat einen weiteren Arztbrief über eine Operation einer epigastrischen Hernie und einer Abszessabspaltung im Bereich der rechten Axilla am 10.10.2007 vorgelegt.

Auf nervenärztlichem Gebiet hat der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. K. am 09.11.2007 ein Gutachten vorgelegt. Neben den bekannten Diagnosen hat er auch eine Konzentrationsstörung und ein LWS-Syndrom festgestellt. Der Kläger sei in der Stimmung leicht depressiv, aber wach und bewusstseinsklar. Sein Gedächtnis, Auffassungsgabe etc. seien intakt. Bei der Leistungsfähigkeit des Klägers seien folgende qualitativen Einschränkungen zu berücksichtigen: Nicht möglich sei das Heben und Tragen von Lasten mehr als 5 kg, keine Tätigkeiten mit Sturzgefahr, keine Nässe-/Kälteexposition, keine Staubbelastung, keine Schichtarbeit, keine Tätigkeit mit erheblichen psychischen Belastungen, keine Tätigkeit mit vermehrtem Bücken oder im Akkord, keine Außendiensttätigkeiten. Zudem seien Arbeiten mit der Notwendigkeit eines guten Hörvermögens bzw. mit Lärmbelastung unmöglich. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien aber unter Berücksichtigung dieser qualitativen Einschränkungen noch vollschichtig möglich.

Der Kläger führt in seiner Stellungnahme zu dem Gutachten aus, Dr. K. habe nicht alle seine Leistungseinschränkungen, insbesondere seinen ausgeprägten Alkoholkonsum berücksichtigt. Zudem müsse er alle zwei bis drei Stunden duschen und frische Wäsche anziehen, um wegen der Blutungen und Abszesse eine Geruchsbildung zu vermeiden.

Auf Antrag des Klägers ist als weiterer Gutachter Prof. Dr. D. bestellt worden. Prof. Dr. D. diagnostizierte eine chronische Anpassungsstörung bei rezidivierend exogenen Belastungsfaktoren. Diese sei bislang insuffizient sowohl quantitativ als auch qualitativ behandelt worden. Im Rahmen dieses Befundes sei nur noch eine Tätigkeit von drei bis sechs Stunden täglich möglich bei leichtem Sitzen, ohne schweres Heben und Tragen, Bücken und Akkordarbeit. Eine weitere Beurteilung der Leistungsfähigkeit und eine prognostische Wertung sei erst nach einer suffizienten pharmakologischen und psychotherapeutischen Maßnahme, frühestens in zwölf Monaten möglich.

Die Beklagte vermag der Schlussfolgerung von Prof. Dr. D., es sei aufgrund des erhobenen Befundes nur noch eine halbschichtige Tätigkeit möglich, nicht zu folgen. Die Einstufung einer schweren depressiven Symptomatik sei aufgrund einer Selbsteinschätzung erfolgt und damit kritisch zu hinterfragen. Eine Störung beim Denken, in der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit sei beim gesamten Untersuchungsverlauf nicht festgestellt worden. Die Befunde reichten für die Feststellung einer quantitativen Leistungseinschränkung nicht aus. Prof. Dr. D. ist im Hinblick auf diese Ausführungen zu einer ergänzenden Stellungnahme gebeten worden, in der er seine Leistungsbewertung erneut aufrecht erhält.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG R. vom 21.06.2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24.06.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01.04.2002 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen.

Der Beklagtenvertreter beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig und auch teilweise begründet. Der Kläger hat einen befristeten Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.11.2008 bis 31.12.2009. Das Urteil des Sozialgerichts R. (SG) vom 21.06.2005 und der Bescheid der Beklagten vom 26.06.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2002 sind deshalb abzuändern und die Beklagte ist zu verurteilen, dem Kläger ab dem 01.11.2008 bis 31.12.2008 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen. Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.

Der Anspruch des Klägers auf eine Erwerbsminderungsrente ergibt sich aus § 42 Abs.2 SGB VI. Voll erwerbsgemindert sind demnach Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs.2 Satz 2 SGB VI).

Nach Überzeugung des Senates ist der Kläger seit April 2008 nicht mehr in der Lage, mehr als sechs Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten auszuüben. Dieses Leistungsvermögen des Klägers ergibt sich aus dem psychiatrischem Gutachten des nach § 109 SGG gehörten ärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. D.. Dieser stellte fest, dass mit dem Zeitpunkt der einsetzenden somatischen Diagnosen (u.a. Tinnitus, Tumor, dermatologische Problematik mit Abszess-, Fistelbildung diffus) auch eine, für eine psychiatrische Bewertung relevante Konstellation eingetreten sei, die sich als chronische Anpassungsstörung bei rezidivierend exogenen Belastungsfaktoren äußert. Diese liegt im Grunde seit April 2002 im Rahmen eines problematischen Wechselwirkungsprozesses aus organischer Belastung und dessen psychischer Verarbeitung vor. Wie Prof. Dr. D. feststellte, besteht dabei die Problematik einer nicht suffizienten, wohl im Hinblick auf die Frequenz wie auch auf die Qualität, Begleittherapie. Die beim Kläger in vierwöchentlichen Intervallen durchgeführte psychotherapeutische Intervention im Sinne eines verhaltenstherapeutischen Settings, ohne jegliche psychopharmakologische (insbesondere antidepressive) Maßnahme entspricht nach den Feststellungen des Gutachters nicht den Kriterien einer leitlinienorientierten Therapie. Nach der Auffassung von Prof. Dr. D. ist die Beurteilung der Leistungsfähigkeit unter der Einschränkung einer bislang nicht ausreichenden psychiatrischen Intervention nur auf dem gegenwärtigen Stand zu beurteilen. Im Rahmen des aktuellen Befundbildes einer mittelgradig depressiven Stimmungsauslenkung ist dem Kläger nunmehr eine Tätigkeit von weniger als sechs, mindestens jedoch drei Stunden bei leichtem Sitzen, ohne schweres Heben und Tragen, Bücken, Akkordarbeit möglich. Da der Arbeitsmarkt für den teilweise erwerbsgeminderten Kläger als verschlossen anzusehen ist, hat der Kläger einen Anspruch auf die Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die von der Beklagten mit Hinweis auf die Stellungnahme der Nervenärztin Dr. K. vorgetragenen Bedenken gegen die Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Gutachten von Prof. Dr. D. kann der Senat nicht teilen. Auch Dr. K. vertritt die Auffassung, dass die ambulanten Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft sind und beim Kläger auf psychiatrischem Fachgebiet keine adäquate Therapie durchgeführt wird. Prof. Dr. D. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 17.10.2008 überzeugend dargelegt, dass die Einstufung einer schweren depressiven Symptomatik keinesfalls nur aufgrund einer Selbstbeurteilung durch den Kläger erfolgt sei, sondern im Rahmen des Gesamtgutachtens neben der Momentaufnahme im Rahmen der Gutachtenssituation durch Einschätzung des psychopathologischen Befundes und testpsychologischen Befundbildes eine Synthese zum Gesamtquerschnitt hergestellt worden sei. Die Gutachten von Dr. W., Dr. R., Stellungnahme Dr. R., Gutachten Dr. F., Bericht der Psychotherapeutin Dr. N. und das Gutachten Dr. K. seien ausgewertet worden. Über den Zeitraum der Jahre 2001 bis 2007 seien psychiatrisch relevante Diagnosen einer mittelschweren depressiven Störung, phobischen Störung, psychopathologischen Störung, des depressiven Syndroms, der psychosozialen Probleme geschildert worden. Prof. Dr. D. ist damit im Rahmen seiner eigenen Befundbewertung, die aus der aktuellen momentanen psychopathologischen und psychologischen Symptomatik resultiert, zu dem Ergebnis einer chronischen Anpassungsstörung gekommen. Dabei habe im psychopathologischen Befund eine deutlich reduzierte Schwingungsfähigkeit mit einer Verschiebung zum depressiven Pol imponiert. Der Senat folgt der überzeugenden Beurteilung durch Prof. Dr. D., dass der Kläger derzeit wegen der insuffizienten Therapie auf psychiatrischem Fachgebiet nur mehr über ein quantitatives Leistungsvermögen von drei bis sechs Stunden täglich bei Beachtung weiterer quantitativer Einschränkungen wie Arbeiten bei leichtem Sitzen, ohne schweres Heben und Tragen, Bücken und keine Akkordarbeiten verfügt. Da Dr. K., Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in seinem Gutachten vom November 2007 noch von einem vollschichtigen Leistungsvermögen des Klägers ausging, obwohl auch er bereits ein phobisch-depressives Syndrom diagnostizierte, geht der Senat davon aus, dass der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung beim Kläger seit April 2008 vorliegt, dem Zeitpunkt der Untersuchung des Klägers durch Prof. Dr. D. und der Dipl. Psychologin Dr. C..

Im Hinblick auf das Alter des Klägers, der 1962 geboren ist, scheint es auch angezeigt, das eingeschränkte Leistungsvermögen nur für ein Jahr zugrunde zu legen. Beim Kläger besteht die Notwendigkeit einer suffizienten dermatologisch, psychotherapeutischen Maßnahme. Dabei ist nach den Feststellungen von Prof. Dr. D. im Gesamtquerschnitt aufgrund der Interaktion aus organischen Erkrankungen (Schwerpunkt dermatologisch) und psychischer Verarbeitung eine rehabilitative Maßnahme in einer psychosomatischen Fachklinik primär, in der Folge eine konsequente, mindestens einmal pro Woche durchgeführte, verhaltenstherapeutische Maßnahme und unterstützende pharmakologische Therapie (Antidepressiva) durch regelmäßige Konsultation eines Facharztes für Psychiatrie/Psychotherapie zu ergreifen. Es liegt am Kläger, in seinem eigenen Interesse die erforderlichen Schritte mit Hilfe des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung und der Beklagten in die Wege zu leiten. Eine endgültige Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers kann erst nach Durchführung der notwendigen Behandlungsmaßnahmen nach Ablauf des Kalenderjahres 2009 erfolgen. Sollte der Kläger die notwendigen Schritte zu einer ausreichenden psychotherapeutischen Behandlung nicht unternehmen, so würde er damit möglicherweise unter Beweis stellen, dass er die chronische Anpassungsstörung bei rezidivierend exogenen Belastungsfaktoren auch ohne ärztliche Hilfe überwinden kann.

Nach § 101 SGB VI werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles der vollen Erwerbsminderung im April 2008 war die Beklagte deshalb zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.11.2008 bis 31.12.2009 zu zahlen. Da nach Auffassung des Senats die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente vor April 2008 abweichend von dem Gutachten von Prof. Dr. D. in Übereinstimmung mit den von Amts wegen eingeholten Gutachten, insbesondere dem von Prof. Dr. K., nicht vorlagen, war die Berufung des Klägers im Übrigen zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten gemäß § 193 SGG beruht auf der Erwägung, dass die Berufung des Klägers nur zu einem geringen Teil erfolgreich war. Nach dem zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers stand im Streit ein Anspruch des Klägers auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab 01.04.2002. Da dem Kläger nur eine Rente vom 01.11.2008 bis 31.12.2009 zuzusprechen war, hat die Beklagte dem Kläger ein Fünftel der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG liegen nicht vor.

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