Bayerischer VGH, Beschluss vom 15.09.2008 - 11 CS 08.2398
Fundstelle
openJur 2012, 94552
  • Rkr:
Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 6.250 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge Geschäftsführer eines Unternehmens, das Pflaster- und Asphaltarbeiten ausführt. Er hatte eine Fahrerlaubnis der Klassen A1, B, BE, C, C1, C1E, CE, L, M und T inne.

Am 23. April 2008 waren im Verkehrszentralregister folgende von ihm begangene Ordnungswidrigkeiten eingetragen:

TatzeitpunktOrdnungswidrigkeitDatum des Bußgeld-bescheids bzw. der gerichtlichen Einspruchs-entscheidungPunkte-zahl11.08.2003Unterschreitung des erforderlichen Abstands24.10.2003309.09.2003Nichteinholung einer Anordnung nach § 45 Abs. 6 StVO26.09.2003127.10.2003Nichteinholung einer Anordnung nach § 45 Abs. 6 StVO05.12.2003125.02.2004Unterschreitung des erforderlichen Abstands19.04.2004303.08.2004Benutzung eines Mobiltelefons als Kraftfahrzeugführer01.09.2004111.01.2005Unterschreitung des erforderlichen Abstands23.02.2005209.08.2005Unterschreitung des erforderlichen Abstands24.10.2005302.09.2005unterlassene Sicherung einer Ladung (mit Unfallfolge)13.10.2005326.06.2006Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit29.02.2008106.12.2007Nichteinholung einer Anordnung nach § 45 Abs. 6 StVO13.02.20081Alle vorgenannten Entscheidungen sind rechtskräftig.

Mit Schreiben vom 29. Juli 2004 hatte das Landratsamt Günzburg den Antragsteller gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG verwarnt und ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar im Sinne von § 4 Abs. 8 StVG mit der Folge eines Punkteabzugs hingewiesen. Hiervon machte der Antragsteller nach Aktenlage nicht Gebrauch. Mit Bescheid vom 5. Januar 2006 hatte die gleiche Behörde gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG seine Teilnahme an einem Aufbauseminar angeordnet und ihm die nach dieser Vorschrift außerdem erforderlichen Hinweise erteilt. Der Verpflichtung zum Besuch eines Aufbauseminars kam der Antragsteller - allerdings erst nach Ablauf der ihm gesetzten Frist - nach.

Durch Bescheid vom 12. Juni 2008 entzog das Landratsamt Augsburg, gestützt auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG, dem Antragsteller die Fahrerlaubnis in vollem Umfang, ordnete die Einziehung seines Führerscheins an und gab dem Antragsteller auf, dieses Dokument beim Landratsamt abzuliefern. Falls er der letztgenannten Aufforderung nicht innerhalb von sieben Tagen nach der Zustellung des Bescheids nachkomme, werde ein Zwangsgeld in Höhe von 250 € fällig.

Mit der am 9. Juli 2008 zunächst zum Amtsgericht Augsburg erhobenen Klage erstrebt der Antragsteller die Aufhebung des Bescheids vom 12. Juni 2008. Gleichzeitig beantragte er, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Das Amtsgericht verwies beide Rechtsschutzbegehren zuständigkeitshalber an das Verwaltungsgericht Augsburg.

Den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO lehnte das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 13. August 2008 ab. Auf die Begründung dieser Entscheidung wird Bezug genommen.

Mit der hiergegen eingelegten Beschwerde beantragt der Antragsteller, den Beschluss vom 13. August 2008 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Landratsamts Augsburg vom 12. Juni 2008 anzuordnen. Die Einbeziehung der Ordnungswidrigkeiten, die Verstöße gegen § 45 Abs. 6 StVO zum Gegenstand hätten, sei vorliegend unverhältnismäßig. In allen drei Fällen habe es sich nicht so verhalten, dass keine Anordnungen der zuständigen Behörden eingeholt worden seien; vielmehr seien die erteilten Genehmigungen in zeitlicher Hinsicht überschritten worden. Zu den diesbezüglichen Bußgeldbescheiden sei es gekommen, weil der vor Ort tätige Bauleiter vergessen habe, die Geschäftsleitung über Verzögerungen der Bauarbeiten zu unterrichten, die eine Verlängerung der entsprechenden Anordnungen erfordert hätten. Die notwendigen Sicherungsmaßnahmen habe man jedoch stets eingehalten. Diese Tatsache stehe der Annahme des Verwaltungsgerichts entgegen, auch die Verstöße gegen § 45 Abs. 6 StVO würden auf eine generelle Einstellung des Antragstellers hindeuten, Verkehrsregeln nicht ernst zu nehmen und sie den eigenen Interessen unterzuordnen. Die Arbeiter seien vor Ort gefragt worden, wer der für die Baustelle Verantwortliche sei; hierbei hätten sie stets den Antragsteller genannt, da im Wesentlichen er sich um die kaufmännischen Angelegenheiten des Unternehmens gekümmert habe. Tatsächlich sei für die Baustellen sein Bruder, der damals Mitgeschäftsführer des Unternehmens gewesen sei, verantwortlich gewesen; auf ihn seien auch die zeitlichen Vorgaben für die verkehrsrechtlichen Anordnungen zurückgegangen. Der einzige Vorwurf, der den Antragsteller in diesem Zusammenhang treffe, liege darin, dass er die drei fraglichen Bußgeldbescheide nicht mit Rechtsbehelfen angegriffen habe.

Wenn das Verwaltungsgericht ausführe, dem Antragsteller sei die Fahrerlaubnis nicht wegen der drei an diese Bußgeldbescheide geknüpften Punkte, sondern wegen der anderen Verkehrsverstöße entzogen worden, so bleibe außer Betracht, dass er bei einer Nichtberücksichtigung dieser drei Punkte unter der gesetzlichen Grenze von "19" Punkten geblieben wäre. Das Mehrfachtäter-Punktesystem sei zwar generell mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar. Das bedeute jedoch nicht, dass unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten keine anderen Entscheidungen getroffen werden könnten.

Zu Unrecht gehe das Verwaltungsgericht ferner davon aus, der Antragsteller habe die gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG angeordnete Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht zum Anlass genommen, sein Verhalten zu ändern. Tatsächlich habe er nach dem Besuch dieses Seminars nur noch zwei Taten begangen. Hierbei handele es sich um die Geschwindigkeitsüberschreitung vom 26. Juni 2006, die "als Grundtat" nur mit einem Bußgeld von 20 € zu ahnden gewesen wäre, und eine weitere "ungenehmigte Baustelleneinrichtung". Der Antragsteller habe sich nach der Seminarteilnahme mithin weitestgehend verkehrskonform verhalten; das sei ebenfalls in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen.

Der Entzug der Fahrerlaubnis stelle für ihn auch deshalb eine besondere Härte dar, weil sein Bruder im April 2008 völlig unerwartet verstorben sei. Auswärtige Tätigkeiten auf eine andere Person zu übertragen, sei dem Antragsteller derzeit nicht mehr möglich; er sei darauf angewiesen, die verschiedenen Baustellen des Unternehmens im süddeutschen Raum möglichst rasch erreichen zu können. Die Abstellung oder Neueinstellung eines Mitarbeiters ausschließlich als Fahrer komme aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Betracht.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und den vom Verwaltungsgericht beigezogenen Behördenvorgang verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Der Antragsteller räumt selbst ein (vgl. S. 3 unten der Beschwerdeschrift vom 29.8.2008), dass das Mehrfachtäter-Punktesystem dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz generell Rechnung trägt (vgl. dazu BayVGH vom 17.1.2005 BayVBl 2005, 278). An dieser rechtlichen Gegebenheit ändert der Umstand nichts, dass bei ihm auch drei Verstöße gegen § 45 Abs. 6 StVO dazu beigetragen haben, dass er die 18-Punkte-Grenze nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG nicht nur erreicht, sondern sogar überschritten hat. Denn auch solche Taten lassen den Schluss zu, dass der Handelnde nicht bereit ist, den Erfordernissen der Sicherheit und/oder der Ordnung des Verkehrs (vgl. zu diesen beiden Schutzgütern der Straßenverkehrs-Ordnung § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO) Rechnung zu tragen. Führt ein Unternehmer straßenverkehrsbezogene Arbeiten durch, ohne dass eine Anordnung nach § 45 Abs. 6 StVO vorliegt, so wird das in vielen Fällen mit einer Gefährdung der Verkehrssicherheit einhergehen. Bringt er selbst Verkehrszeichen oder Verkehrseinrichtungen an oder belässt er sie über den behördlich zugestandenen Zeitraum hinaus an Ort und Stelle, so greift er als Privatperson unerlaubt in die Ordnung des Verkehrs ein und maßt sich damit eine Befugnis an, die nur der öffentlichen Gewalt zusteht. Unabhängig von alledem bringt ein solchermaßen handelnder Unternehmer zum Ausdruck, dass er nicht willens ist, sein Verhalten in Bezug auf den Straßenverkehr an den Geboten der Rechtsordnung auszurichten.

Soweit der Antragsteller in der Beschwerdebegründung vorträgt, die drei wegen Verstößen gegen § 45 Abs. 6 StVO ergangenen Bußgeldbescheide seien zu Unrecht ihm gegenüber erlassen worden, obwohl die damit geahndeten Verhaltensweisen nicht von ihm, sondern von anderen Personen zu verantworten seien, kann er damit im vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr gehört werden. Denn nach § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG ist die Fahrerlaubnisbehörde bei Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG an rechtskräftige Entscheidungen über Ordnungswidrigkeiten gebunden. Diese Bindung wirk sich auch auf die im Verwaltungsstreitverfahren beachtlichen Einwendungen aus. Muss nämlich die Behörde die Behauptung, ein rechtskräftiger Bußgeldbescheid sei inhaltlich unrichtig, unberücksichtigt lassen, so kann ein Verwaltungsakt, der einer solchen Bindungswirkung Rechnung trägt, vor Gericht nicht mit der Begründung angegriffen werden, die Verwaltung hätte von einem anderen Sachverhalt als demjenigen ausgehen müssen, der dem Bußgeldbescheid zugrunde lag.

Als Folge der sich aus § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG ergebenden Bindungswirkung muss vorliegend ferner davon ausgegangen werden, dass die am 26. Juni 2006 begangene Ordnungswidrigkeit den Anfall eines Punkts nach sich gezogen hat (vgl. die Nummer 7 der Anlage 13 zur Fahrerlaubnis-Verordnung). Denn gegen den Antragsteller wurde wegen dieser Zuwiderhandlung durch rechtskräftig gewordenen Beschluss des Amtsgerichts Günzburg vom 29. Februar 2008 eine Geldbuße in Höhe von 40 € festgesetzt; auf die Frage, ob der Regelsatz für eine Geschwindigkeitsüberschreitung der inmitten stehenden Art niedriger ist (vgl. Nr. 11.3.2 der Tabelle 1 zur Bußgeldkatalog-Verordnung), und ob von diesem Regelsatz im gegebenen Fall zu Recht abgewichen wurde, kommt es vor dem Hintergrund des § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG nicht an. Die Festsetzung der Geldbuße auf 40 € hatte nach § 28 Abs. 3 Nr. 3 StVG zur Folge, dass diese Entscheidung in das Verkehrszentralregister eingetragen werden musste; das wiederum zieht gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 StVG die Einbeziehung dieser Zuwiderhandlung in das Punktesystem nach sich.

Die sich aus § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG ergebende Verpflichtung der Behörde, eine Fahrerlaubnis zu entziehen, hängt nur davon ab, dass zu Lasten des Betroffenen 18 oder mehr Punkte aufgelaufen sind, und dass zuvor die beiden nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1 und 2 StVG vorgeschriebenen "Warnmaßnahmen" ordnungsgemäß durchgeführt wurden (vgl. § 4 Abs. 5 StVG). Auf die Frage, ob der Besuch eines gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG angeordneten Aufbauseminars beim Betroffenen einen Verhaltenswandel dergestalt bewirkt hat, dass er nach dessen Abschluss - wie vom Antragsteller behauptet - nur noch in beschränktem Umfang Rechtsverletzungen begangen hat, kommt es dann nicht an, wenn im Anschluss an die "zweite Warnstufe" mindestens 18 Punkte erreicht wurden. Die erforderliche "zweite Warnung" eines Mehrfachtäters liegt im Übrigen bereits in der nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG ergangenen Anordnung als solcher und nicht erst in der Teilnahme am obligatorischen Aufbauseminar (vgl. BayVGH vom 11.8.2006 Az. 11 CS 05.2735).

Sind nach alledem die Voraussetzungen für eine auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis erfüllt, ist angesichts des zwingenden Charakters dieser Vorschrift kein Raum für die Berücksichtigung besonderer Härten, die sich für den Betroffenen hieraus behauptetermaßen ergeben. Es wäre Sache des Antragstellers gewesen, durch ein rechtskonformes Verhalten vor dem Erreichen von 18 Punkten sowie ggf. durch die Inanspruchnahme einer verkehrspsychologischen Beratung im Anschluss an das obligatorische Aufbauseminar (§ 4 Abs. 9 i.V.m. Abs. 4 Satz 2 StVG) dafür Sorge zu tragen, dass ihm die Fahrerlaubnis erhalten bleibt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG und den Empfehlungen in den Abschnitten II.1.5 Satz 1, II.46.2, II.46.4 und II.46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8. Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327).