OLG München, Beschluss vom 04.06.2008 - 4 VAs 7/08
Fundstelle
openJur 2012, 92791
  • Rkr:
Tenor

I. Auf den Antrag des D. auf gerichtliche Entscheidung werden der Bescheid der Staatsanwaltschaft Ingolstadt vom 6. November 2007 und der Beschwerdebescheid des Generalstaatsanwalts in München vom 2. Januar 2008 aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft Ingolstadt wird verpflichtet, über den Antrag des Verurteilten vom 18. Oktober 2007, die weitere Vollstreckung der mit Urteil des Amtsgerichts Ingolstadt vom 30. August 2006 verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren vier Monaten gemäß § 35 BtMG zurückzustellen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.

II. Dem Antragsteller wird für die Durchführung des vorliegenden Verfahrens nach §§ 23 ff. EGGVG Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt X., B., beigeordnet.

III. Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Antragstellers trägt die Staatskasse.

IV. Der Geschäftswert wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1. Der Antragsteller wurde durch Urteil des Schöffengerichts bei dem Amtsgericht Ingolstadt vom 30.8.2006 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren vier Monaten verurteilt. Nach den Urteilsfeststellungen beging der Antragsteller die der Verurteilung zugrunde liegende Tat, um seine eigene Kokainsucht zumindest mitzufinanzieren. Der Antragsteller verbüßt die Strafe derzeit in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Der Zweidrittelzeitpunkt war am 24.11.2007 erreicht, das Strafende ist auf den 4.9.2008 vorgemerkt.

Mit wiederholtem Antrag vom 18.10.2007 begehrte der Antragsteller, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem genannten Urteil gemäß § 35 BtMG zurückzustellen. Der Antrag wurde mit Bescheid der Staatsanwaltschaft Ingolstadt als Vollstreckungsbehörde vom 6.11.2007 abgelehnt. Zur Begründung führte die Staatsanwaltschaft aus, die Zurückstellung der Strafvollstreckung sei nach den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes nicht möglich. Das Verhalten des Verurteilten im Strafvollzug sei weiterhin nicht beanstandungsfrei. Er habe im September 2007 zweimal disziplinarisch beanstandet werden müssen. Zum einen habe er unerlaubterweise Bargeld in Besitz gehabt, zum zweiten habe er ebenfalls unerlaubt ein TV-Gerät, diverses Schleifpapier, eine Tätowiernadel, eine Ziehklinge mit Haschischanhaftungen sowie eine DVD in Besitz gehabt. Es sei deshalb davon auszugehen, dass ihm der ernsthafte Therapiewille und die Bereitschaft, sich einer Hausordnung in einem Therapieprogramm unterwerfen zu wollen, fehle. Es sei auch nicht zu erwarten, dass sich der Verurteilte in die Abläufe einer Therapieeinrichtung einfügen werde sowie insbesondere den Anweisungen des Therapiepersonals Folge leisten werde. Daher liege keine positive Therapieprognose vor. Im Übrigen stünden ausländerrechtliche Maßnahmen im Raum. Aufgrund seiner Straffälligkeit werde die Ausweisung des Verurteilten geprüft. Es bestehe daher die Gefahr, dass sich der Verurteilte dieser durch Flucht entziehen werde.

Der hiergegen gerichteten Beschwerde vom 10.12.2007 hat der Generalstaatsanwalt in München mit Bescheid vom 2.1.2008 keine Folge gegeben. Die Überprüfung habe ergeben, dass die Vollstreckungsbehörde mit ihrer Entscheidung die Grenzen des ihr gesetzlich eingeräumten Ermessens nicht überschritten habe, dass der Ermessensausübung sachgerechte Erwägungen zugrunde lagen und von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde.

Gegen diesen ihm am 10.1.2008 zugestellten Bescheid hat der Antragsteller durch seinen Verfahrensbevollmächtigten mit Schreiben vom 4.2.2008, bei Gericht eingegangen am 6.2.2008, Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt. Er hat ferner Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten beantragt und die formularmäßige Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abgegeben.

Die Generalstaatsanwaltschaft München hält den Antrag aus den Gründen der angefochtenen Bescheide für unbegründet.

II.

Der gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 BtMG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Antrag (§ 26 Abs. 1 EGGVG) führt zu einem vorläufigen Erfolg.

1. Ob eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1, Abs. 3 Ziff. 2 BtMG gewährt wird, steht bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung im Ermessen der Vollstreckungsbehörde. Der Senat kann daher nicht nach eigenem Ermessen entscheiden. Seine Überprüfung ist vielmehr gemäß § 28 Abs. 3 EGGVG darauf beschränkt, ob die Staatsanwaltschaft und nach ihr der Generalstaatsanwalt von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sind und ob sie bei seiner Bewertung die Grenzen des Ermessens überschritten haben, d.h. Willkür oder Missbrauch des Ermessens vorliegen (vgl. Meyer/Goßner StPO 50. Aufl. § 28 EGGVG Rn. 8 m.w.N.; Körner BtMG 6. Aufl. § 35 Rn. 375 m.w.N.).

Hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 BtMG steht der Vollstreckungsbehörde ein Beurteilungsspielraum zu, dessen gerichtliche Überprüfung darauf beschränkt ist, ob die Vollstreckungsbehörde bei ihrer Entscheidung die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat (Körner a.a.O. Rn. 193 m.w.N.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 57).

2. Die nach diesen Grundsätzen vom Senat zu überprüfende Ermessensentscheidung der Vollstreckungsbehörde begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Soweit die Vollstreckungsbehörde ihre Entscheidung darauf gründet, es stünden ausländerrechtliche Maßnahmen im Raum, aufgrund seiner Straffälligkeit werde die Ausweisung des Verurteilten geprüft und es bestünde daher die Gefahr, dass er sich dieser durch Flucht entziehen werde, ist der mitgeteilte Sachverhalt nicht ausreichend, eine Überprüfung durch den Senat zu ermöglichen. Denn der Antragsteller ist ausweislich der Akten staatenlos. Der Senat vermag nicht zu erkennen, welcher Aufnahmestaat für eine Ausweisung des Antragstellers in Betracht kommt. Im Übrigen kann die schlichte Feststellung, es stünden ausländerrechtliche Maßnahmen im Raum, eine ablehnende Entscheidung im Verfahren nach § 35 BtMG nicht begründen.

b) Soweit die Vollstreckungsbehörde ihre ablehnende Entscheidung damit begründet, es sei davon auszugehen, dass dem Antragsteller der ernsthafte Therapiewille und die Bereitschaft, sich einer Hausordnung in einem Therapieprogramm zu unterwerfen fehle, lässt dies befürchten, dass die Vollstreckungsbehörde die rechtliche Bedeutung der Motivationsüberprüfung eines Antragstellers im Verfahren nach § 35 BtMG verkennt.

§ 35 BtMG ergänzt die übrigen vom materiellen und prozessualen Strafrecht vorgesehenen Möglichkeiten, statt durch Haft im Wege der Therapie auf einen Straftäter einzuwirken. Im Rahmen der Vorschrift soll gerade Risikopatienten eine Therapiechance eröffnet werden. Der Strafvollzug und die Regelung des § 35 BtMG dienen jedenfalls auch der Resozialisierung (Art. 2 Satz 2 BayStrVollzG; BVerfGE 35, 202; Körner a.a.O. § 35 Rn. 21 ff). Die Anforderungen an die Therapiewilligkeit und Therapiefähigkeit des Verurteilten dürfen nicht übersteigert werden (OLG Hamm NStZ 1982, 485).

Die Ablehnung einer Zurückstellung nach § 35 BtMG wegen fehlender Therapiewilligkeit hat daher Ausnahmecharakter, denn eine Motivation des Verurteilten zur Therapie ist nicht Voraussetzung, sondern erst Ziel weiterer Therapiebemühungen (OLG Koblenz StV 2003, 288/289 und StV 2006, 588; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2000,153; Körner a.a.O. Rn. 190 und Rn. 194). Ein Versagungsgrund kann deshalb nur dann gegeben sein, wenn konkrete Zweifel an einem ernsthaften Therapiewillen bestehen (OLG Koblenz StV 2006, 588 f.).

14Soweit die Vollstreckungsbehörde den fehlenden ernsthaften Therapiewillen des Antragstellers mit disziplinarischen Verfehlungen im Strafvollzug begründet, vermag dem der Senat insoweit zu folgen, als solche Verstöße ein Indiz für fehlenden Therapiewillen sein können. Allerdings lässt nicht jeder Verstoß gegen die Verhaltensanforderungen im Strafvollzug bereits für sich genommen den Schluss zu, der Betreffende sei nicht therapiewillig. Gerade solche disziplinarischen Verstöße, die ihre Ursache in der nicht therapierten Betäubungsmittelabhängigkeit haben, können nicht ohne besondere Begründung zur Annahme einer Therapieunwilligkeit herangezogen werden (OLG Zweibrücken NStZ-RR 2000, 153; Weber BtMG 2. Aufl. § 35 Rn. 148; Körner a.a.O. Rn. 197). Eine auf den Einzelfall bezogene und alle Umstände einbeziehende Begründung ist der Entscheidung der Vollzugsbehörde jedoch nicht zu entnehmen. Eine solche Begründung hätte einerseits Anlass und Hintergründe der Disziplinarverstöße sowie deren Auswirkungen auf die Anstaltsordnung berücksichtigen müssen, andererseits die Tatsache, dass der Antragsteller nach eigenem Bekunden mehrere Maßnahmen ergriffen hat, um seinen Therapiewillen darzulegen. So habe er sich dem anstaltsinternen Vorbereitungsprogramm für eine Entwöhnungstherapie unterworfen, indem er sich auf eine für Betäubungsmittelabhängige besonders geeignete Station verlegen ließ, an einer freiwilligen Therapiegruppe („Suchtgruppe Dornbusch“) teilnahm und mehrere Urinkontrollen durchführen ließ. Die Begründung der Vollzugsbehörde setzt sich auch nicht mit der Tatsache auseinander, dass die sachnähere Justizvollzugsanstalt in ihrer Stellungnahme vom 22.10.2007 – wenngleich unter Zurückstellung von Bedenken – die Zurückstellung der Strafvollstreckung zum Zwecke der Therapie befürwortet hat. Schließlich kann der Entscheidung der Vollzugsbehörde auch nicht entnommen werden, ob und gegebenenfalls wie sich der Antragsteller im Disziplinarverfahren eingelassen hat.

Vor diesem Hintergrund ist die von der Staatsanwaltschaft herangezogene Begründung des ablehnenden Bescheids nicht ohne Rechtsfehler. Der Senat kann daher letztlich nicht ausschließen, dass bei Berücksichtigung der gesamten Umstände die Strafvollzugsbehörde die vom Antragsteller begehrte Maßnahme nach § 35 BtMG gewährt hätte. Die Sache war dementsprechend zur Nachholung einer vollständigen Sachverhaltsfeststellung und zur erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats an die Vollstreckungsbehörde zurückzugeben.

3. Da die Voraussetzungen der §§ 28 Abs. 3 EGGVG, 114 Abs. 1, 117 ZPO vorliegen, war dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des von ihm genannten Rechtsanwalts zu gewähren. Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erscheint erforderlich, § 121 Abs. 2 ZPO, da im vorliegenden Fall die Sach- und Rechtslage nicht einfach gelagert ist.

4. Da der Antrag zumindest vorläufigen Erfolg hat, fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers der Staatskasse zur Last. Soweit dies nicht ohnehin aus dem Rechtsstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG NJW 1987, 2569/2570) trifft der Senat die Kostenentscheidung nach billigem Ermessen, § 30 Abs. 2 Satz 1 EGGVG.

5. Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 30 Abs. 3 EGGVG i.V.m. § 30 Abs. 3 und 2 KostO.