VG Würzburg, Urteil vom 29.04.2008 - W 1 K 07.1294
Fundstelle
openJur 2012, 91113
  • Rkr:
Tenor

I. Der Bescheid der Gemeinde D. vom 11. Dezember 2006 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamts Schweinfurt vom 15. Oktober 2007 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Betreuungsplatz für das Kind F. M. im Kindergarten der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Christuskirche Schweinfurt für die Kindergartenjahre 2006/2007 und 2007/2008 zu fördern.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten.

IV. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger begehren die Förderung eines Gastkindplatzes nach Art. 23 des Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetzes (BayKiBiG).

Die Kläger sind die Eltern des am … Februar 2004 geborenen Kindes F. M. Wohnort der Familie ist D., eine kreisangehörige Gemeinde mit gut 7.000 Einwohnern. Dort gibt es drei Kindergärten, einen kommunalen und zwei in katholischer Trägerschaft. Einer der kirchlichen Kindergärten befindet sich in unmittelbarer Nähe des Anwesens der Kläger im Ortsteil H. Für die örtlichen Verhältnisse wird auf die eingereichten Lagepläne Bezug genommen. Für die von der Beklagten durchgeführte Bedarfsplanung wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 16.1.2008, Bl. 3 und 53 des Widerspruchsakts und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Der ältere Sohn der Kläger, der am 4. Oktober 2001 geborene L., besucht seit 2004 den Kindergarten der Beigeladenen. Er leidet an einer Hemiparese (halbseitigen Lähmung) und ist mit einem Grad der Behinderung von 90 schwerbehindert. Die Kläger hatten ihn seinerzeit im Kindergarten der Beigeladenen angemeldet, weil dieser ihn ohne Bedenken aufzunehmen bereit war.

Am 27. Oktober 2006 stellten die Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Förderung eines Gastkindplatzes nach Art. 23 BayKiBiG für F. im Kindergarten der Beigeladenen. Die zeitgleiche Betreuung mit dem Geschwisterkind solle ermöglicht werden. Der Antrag wurde mitBescheid vom 11. Dezember 2006abgelehnt. Die drei im Gemeindegebiet bestehenden Kindergärten gewährleisteten eine hinreichende Pluralität des Erziehungsangebots. Auf den Eilantrag der Kläger hin hat das Verwaltungsgericht Würzburg in dem Verfahren W 1 E 07.85 die Beklagte vorläufig verpflichtet, den auswärtigen Betreuungsplatz für F. bis zum Ende des laufenden Kindergartenjahres 2006/2007 zu fördern. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde hob der Bayer. Verwaltungsgerichtshof in dem Verfahren 12 CE 07.500 den Beschluss auf und lehnte den Antrag ab. Für die Gründe wird auf den Beschluss Bezug genommen.

MitWiderspruchsbescheid vom 15. Oktober 2007wies das Landratsamt Schweinfurt den Widerspruch der Kläger vom 20. Dezember 2006 unter Verweis auf den Beschluss des BayVGH zurück.

Unter dem 22. Oktober 2007, eingegangen beim Bayer. Verwaltungsgericht Würzburg am selben Tage, erhoben die Kläger dagegenKlage. Ein Anspruch auf Förderung des auswärtigen Kindergartenplatzes bestehe bereits deswegen, weil die Beklagte keine ordnungsgemäße Planung durchgeführt habe. Konfessionelle Gründe hätten zwar für sie keine Rolle gespielt, wohl aber die Konzeption des Kindergartens der Beigeladenen als Bewegungskindergarten. Zudem liege ein Härtefall i.S.d. Art. 23 Abs. 4 BayKiBiG vor. Es sei unzumutbar, Geschwisterkinder in zwei verschiedenen Kindergärten betreuen zu lassen. Die getrennte Betreuung wäre mit einem erheblichen Zeitaufwand für die Klägerin zu 2) verbunden, die sich in der Woche weitgehend allein um die Kinder kümmern müsse und bereits durch eine Ergotherapie von L. in Gochsheim zeitlich erheblich belastet werde. Zudem begünstige die gemeinsame Betreuung mit dem jüngeren Bruder die Entwicklung von L. Diesen aus dem Kindergarten der Beigeladenen herauszunehmen, sei unzumutbar.

Die Kläger beantragen:

1. Den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 11. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landratsamtes Schweinfurt vom 15. Oktober 2007 aufzuheben.

2. Die Beklagte zu verpflichten, den Betreuungsplatz für den Sohn F. der Kläger im Kindergarten der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Christuskirche Schweinfurt in den Kindergartenjahren 2006/07 und 2007/08 zu fördern.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wird auf das Vorbringen im Eilverfahren und auf den Beschluss des BayVGH verwiesen. Es bleibe den Klägern unbenommen, beide Kinder in einer Einrichtung im Gemeindegebiet unterzubringen. Auf die Durchführung einer Bedarfsplanung komme es bereits nicht an, für F. stehe ein Platz zur Verfügung. Gründe des pädagogischen Konzepts seien für die Kläger nicht ausschlaggebend.

Die Beigeladene hält die gemeindliche Bedarfsplanung für fehlerhaft. Zudem wird darauf verwiesen, dass das bei der Anmeldung von L. geltende Kindergartenrecht eine freie Platzwahl zuließ und L. nunmehr unter die Altfallregelung fällt. Einen Antrag stellt die Beigeladene nicht.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten im Klage- sowie im Eilverfahren, auf die Akte des BayVGH im Verfahren 12 CE 07.500 sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

1. Die Klage ist zulässig. Die Geltendmachung des Anspruchs für das Kindergartenjahr 2007/2008 ist zumindest im Wege der Klageerweiterung (§ 91 VwGO) zulässig. Die Kläger sind klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO); Eltern können die Entscheidung über ihren der Förderung im Verhältnis von Träger und Aufenthaltsgemeinde vorgeschalteten Antrag der gerichtlichen Kontrolle unterstellen (vgl. BayVGH v. 25.4.2007 Az. 12 CE 07.500).

2. Die Klage ist auch begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten. Sie haben Anspruch auf Förderung des Betreuungsplatzes ihres Kindes F. im Kindergarten der Beigeladen in den Kindergartenjahren 2006/07 und 2007/08 aus § 23 Abs. 4 Satz 1 BayKiBiG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

a) Nach Art. 23 Abs. 4 Satz 1 BayKiBiG kann die Aufenthaltsgemeinde in Ausnahmefällen auf Antrag der Eltern einen Betreuungsplatz außerhalb der Gemeinde fördern, wenn zwingende persönliche Gründe, die insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit betreffen, die Wahl des Betreuungsplatzes rechtfertigen. Zwingende persönliche Gründe im Sinne der Vorschrift sind nach Auffassung der Kammer persönliche Gründe von besonderem Gewicht im Einzelfall (vgl. BayVGH v. 23.10.2007 Az. 12 ZB 07.739), die eine Verweisung auf den Betreuungsplatz in der Aufenthaltsgemeinde als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. VG München v. 8.5.2007 Az. M 9 K 06.2999; Jung/Lehner, Bayerisches Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz – Praxishandbuch, Art. 23 Rd.Nr. 176). Art. 23. Abs. 4 BayKiBiG stellt eine Härtefallklausel dar (vgl. LT-Ds. 15/2479 S. 24) und somit eine gesetzliche Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Sie soll erreichen, dass bei Einzelbedürfnissen, die wegen ihrer Atypik bei der Bestimmung des örtlichen Bedarfs nach Art. 7 Abs. 2 BayKiBiG nicht zu berücksichtigen sind (vgl. Jung/Lehner, a.a.O., Art. 23 Rd.Nr. 177) ein angemessenes Ergebnis erreicht wird. Ein wertender Vergleich mit den im Rahmen der Bedarfsbestimmung zu berücksichtigenden Bedürfnissen zeigt dabei, dass die Anforderungen überspannt würden, wenn man für Art. 23 Abs. 4 BayKiBiG die absolute Unmöglichkeit der Betreuung in der Aufenthaltsgemeinde verlangte. Dagegen sprechen auch Anhaltspunkte aus dem Gesetzgebungsverfahren (vgl. VG Würzburg v. 26.Juni 2006 Az. W 1 K 06.1084). Ein „Ausnahmefall“ setzt jedoch voraus, dass die Erschwernisse sich deutlich von den Betreuungsnöten aller Eltern abheben und nicht durch zumutbare Organisationsmaßnahmen zu überwinden sind.

b) Gemessen an diesen Vorgaben lagen nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 4 BayKiBiG sowohl bei dem Einstieg in das Kindergartenjahr 2006/07 als auch zu Beginn des Jahres 2007/08 vor. Die getrennte Betreuung von Geschwisterkindern ist zwar nicht per se unzumutbar. Dass die zeitgleiche Betreuung mit einem Geschwisterkind einen „besonderen Grund“ i.S.d. Art. 23 Abs. 3 darstellt, schließt es jedoch nicht aus, dass bei Hinzutreten weiterer Umstände ein „zwingender Grund“ gegeben ist. Nach dem Verständnis der Kammer stehen diese beiden Begriffe nicht in einem Ausschluss-, sondern in einem Stufenverhältnis.

aa) Im Kindergartenjahr 2006/07 erscheint die Verweisung auf den örtlichen Betreuungsplatz unzumutbar, weil der Klägerin zu 2) dadurch in einer außergewöhnlichen Belastungssituation ein organisatorischer und zeitlicher Mehraufwand abgefordert worden wäre. Zu dem Zeitpunkt, als die Förderung von F. aktuell wurde, war sie bereits durch die zeitintensive Betreuung und Pflege ihres schwerbehinderten ältesten Sohnes, die auch zahlreiche Fahrten zu Therapieterminen umfasst, und die Erziehung von F. über Gebühr beansprucht. Hinzu kamen die Belastungen durch ihre Schwangerschaft, die als Risikoschwangerschaft eingeschätzt wurde. Die Fahrten zu dem Kindergarten in H. wären zwar ohne großen Umweg mit den Wegen nach Schweinfurt zu verbinden gewesen. Die Klägerin hat aber nachvollziehbar dargelegt, dass sie L. nicht im Auto allein lassen möchte, weil dieser dann heftig zu schreien beginnt, und ein Mitnehmen zum Kindergarten aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität ebenfalls mit Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre. Darüber hinaus hat sie dargelegt, dass sie ihre Kinder nicht schlichtweg abliefern möchte, sondern Wert auf Gespräche mit den Erzieherinnen legt. Insoweit ist in der mündlichen Verhandlung angeklungen, dass auch F. kein vollkommen unkompliziertes Kind ist. Für die insgesamt entstehende zeitliche Mehrbelastung sowie für eine Verdopplung der sozialen Kontakte zu den Erzieherinnen und anderen Eltern hatte die Klägerin zu 2) keine Ressourcen mehr frei in einer Situation, in der sie für jede Entlastung dankbar sein musste und Zeit für sich selber benötigte. Bereits insoweit erscheint der Verweis auf den Kindergarten in H. unzumutbar. Hinzu tritt, dass die Kläger auch im Hinblick auf die Entwicklung von L. ein berechtigtes Interesse an der gemeinsamen Betreuung hatten. Nach der Stellungnahme der Kindergartenleiterin B. vom 26. März 2007 hat L. aufgrund seiner Entwicklungsverzögerung Probleme im Kontakt mit anderen Kindern, die zu überwinden ihm sein Bruder hilft. Diese Einschätzung ist ohne weiteres nachvollziehbar. Dass Geschwister für behinderte Kinder eine besondere Bedeutung als Bezugsperson und auch gleichsam als Türöffner für den Kontakt zu anderen Gleichaltrigen haben, liegt auf der Hand. Die gemeinsame Betreuung erscheint somit zumindest als günstig. Dass die Integration von L. in den Kindergarten ohne seinen Bruder nicht gefährdet ist, erscheint der Kammer nach dem oben dargelegten Maßstab nicht ausschlaggebend. Erzieherischen Überlegungen kommt nach dem neuen Kindergartenrecht eine hohe Bedeutung zu. Im Rahmen der Bedarfsplanung haben die Gemeinden bei entsprechender Nachfrage mindestens zwei verschiedene Angebote zu unterstützen (BayVGH v. 23.8.2006 12 CE 06.1468). Angesichts der Funktion von Art. 23 Abs. 4 BayKiBiG als Härtefallklausel wäre es nach Auffassung der Kammer wertungswidrig, wenn sich im Rahmen der Bedarfsplanung individuell begründete Erziehungsvorstellungen im Sinne besonderer pädagogischer Ausrichtungen in weitem Umfang durchsetzen, im Rahmen der Einzelfallentscheidung der Wunsch der Kläger, die Entwicklung ihres behinderten Sohnes nach Möglichkeit zu begünstigen, hingegen abzuweisen wäre.

Keine zumutbare Alternative wäre die gemeinsame Betreuung beider Kinder in einem Kindergarten der Beklagten. Für behinderte Kinder ist ein Wechsel mit besonderen Integrationsschwierigkeiten verbunden, was sich bereits daran zeigt, dass der Kindergarten in H. 2004 vor einer Aufnahme von L. seine Integrationsfähigkeit prüfen wollte. Zudem wurde L. noch nach altem Recht im Kindergarten der Beigeladenen angemeldet, nach der Übergangsvorschrift in § 3 Abs. 3 Nr. 3 Satz 3 BayKiBiG/ÄndG soll ein Wechsel hier bereits unter normalen Umständen vermieden werden.

bb) Im Jahr 2007/08 stellt sich die Situation weitgehend gleich dar. Entfallen ist die Belastung durch die Schwangerschaft, dafür muss die Klägerin zu 2) sich um ihren neugeborenen Sohn kümmern. Insgesamt ist sie damit insbesondere aufgrund der Betreuung von L. nach wie vor besonderen Belastungen ausgesetzt, die die bei allen Kindergartenkindern auftretenden Erschwernisse deutlich übersteigen und nicht durch einfache organisatorische Maßnahmen überwunden werden können. Unverändert ist auch das pädagogische Interesse an der gemeinsamen Erziehung (s.o.).

cc) Bei dem auf der Rechtsfolgenseite eingeräumten Ermessen handelt es sich nach Auffassung der Kammer um ein sog. intendiertes Ermessen (vgl. auch Dunkl/Eirich, BayKiBiG, Anm. 5.1 zu Art. 23; Jung/Lehner, Art. 23 Rd.Nr. 178). Nach dem Sinngehalt der Vorschrift als Härtefallklausel („zwingenden persönliche Gründe“) kann die Gemeinde, wenn ein zwingender Grund vorliegt, das ihr eingeräumte Ermessen im Regelfall fehlerfrei nur durch Förderung des Gastkindplatzes ausüben (vgl. zur Figur des intendierten Ermessens BVerwG v. 1.8.1986 Az. 8 C 54/85 – juris). Besondere Gründe, die eine abweichende Entscheidung rechtfertigen würden, sind hier weder vorgetragen noch von Amts wegen erkennbar. Die Beklagte war damit zur Förderung zu verpflichten.

3. Ob die Beklagte die pädagogische Ausrichtung des Christuskindergartens mit sachgerechter Gewichtung in ihre Bedarfsplanung eingestellt hat, indem sie allein konfessionell begründete Wünsche berücksichtigt hat, und ob die Kläger sich auf einen etwaigen Fehler berufen können, kann daher dahinstehen.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Beigeladene hat sich nicht mit der Stellung eines Antrags am Kostenrisiko beteiligt, so dass es auch nicht der Billigkeit entspricht, der Beklagten dessen außergerichtliche Aufwendungen aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 VwGO). Gerichtskosten werden nicht erhoben, da Streitigkeiten nach dem Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz als Angelegenheiten der Jugendhilfe gemäß § 188 VwGO gerichtskostenfrei sind (BayVGH vom 24.05.2007 Az. 12 C 07.536).

Die Berufung ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 124a Abs. 1 S. 1 VwGO).

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