Bayerischer VGH, Beschluss vom 18.02.2008 - 1 CS 07.2192
Fundstelle
openJur 2012, 90006
  • Rkr:
Tenor

I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 19. Juli 2007 wird in den Nrn. I und II geändert. Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller gegen den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamts ... vom 28. Dezember 2005 und den Änderungsbescheid vom 24. November 2006 wird angeordnet.

II. Der Antragsgegner und der Beigeladene tragen je die Hälfte der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen ein Bauvorhaben des Beigeladenen.

Die Antragsteller sind Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. .../2 Gemarkung ...; der Beigeladene ist Miteigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks Fl.Nr. .../181. Die aus dem Grundstück Fl.Nr. .../2 alt gebildeten Grundstücke, die mit ihre Ostseiten an die ...straße grenzen, sind jeweils mit einem Wohnhaus bebaut. Die Gebäude wurden mit Bescheid des Landratsamts ... vom 8. März 1972 als „Doppelhaus“ auf dem damals noch ungeteilten Grundstück Fl.Nr. .../2 alt genehmigt.

Die nördliche, im Eigentum der Antragsteller stehende Haushälfte umfasst einen zweigeschossigen, in Ost-West-Richtung angeordneten Mittelteil (mit flach geneigtem Satteldach) und einen eingeschossigen Vorbau (mit Flachdach) auf der Südseite sowie eine Garage auf der Nordseite. Der Mittelteil hat seine heutige Form durch einen mit Bescheid des Landratsamts vom 18. September 1998 genehmigten Umbau erhalten.

Die im Miteigentum des Beigeladenen stehende südliche Hälfte des „Doppelhauses“ wurde im Jahr 1972 als eingeschossiges Flachdachgebäude mit einer auf der Nordseite angebauten Garage genehmigt. Nach Kopien von Bauvorlagen, die sich bei den Bauakten für das streitgegenständliche Vorhaben befinden, erhielt der Beigeladene mit Bescheiden des Landratsamts vom 20. Oktober 1980 und 26. Juni 1981 die Baugenehmigung für den Anbau einer Garage (mit einem flachen Satteldach) auf der Südseite seines Anwesens sowie für die Nutzung des ursprünglich als Garage genehmigten Anbaus auf der Nordseite als „Büro“. Die Garage auf der Südseite grenzt an eine von der ...straße in westlicher Richtung abzweigende Wegefläche (Fl.Nr. .../3), über die das südwestlich gelegene Grundstück Fl.Nr. .../4 erschlossen wird. Die Wegefläche gehört dem Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. .../4.

Die Grenze zwischen den Grundstücken der Antragsteller und des Beigeladenen verläuft von Westen her gesehen zunächst entlang der nördlichen Außenwand des Wohnhauses des Beigeladenen. In dem Bereich, in dem der „Vorbau“ der Antragsteller unmittelbar an das Wohnhaus des Beigeladenen grenzt, ist die Grenze - einer Verschmälerung der nördlichen Wand des Wohnhauses des Beigeladenen folgend - um 0,22 m nach Süden versetzt. An der Südostecke des „Vorbaus“ knickt die Grenze - den nunmehr als Büro genutzten Anbau des Beigeladenen umfahrend - zunächst nach Norden und dann wieder nach Osten ab. Nach einem weiteren „Versatz“ in nördlicher Richtung stößt die Grenze auf die ...straße.

Mit Bescheid vom 28. Dezember 2005 erhielt der Beigeladene die Baugenehmigung für eine Aufstockung seines Wohnhauses. Die genehmigten Bauvorlagen sehen - neben baulichen Änderungen im Bereich des Erdgeschosses des Wohnhauses und der auf der Südseite angebauten Garage - die Errichtung eines in Ost-West-Richtung angeordneten Obergeschosses auf dem Flachdachgebäude vor. Das neue Geschoss soll über eine auf der Südseite geplante Außentreppe und einen auf der Westseite geplanten überdachten Balkon erschlossen werden. Nach den Maßangaben in den damals genehmigten Bauvorlagen beträgt die Länge des neuen Geschosses, das ein flach geneigtes Satteldach erhalten soll, einschließlich Balkon 17,70 m, die Wandhöhe auf den Traufseiten 5,44 m (5,436 m) und der Abstand zur nördlichen Grundstücksgrenze 3,00 m. Der „Versatz“ der Grenze nach Süden um 0,22 m im Bereich des „Vorbaus“ der Antragsteller wurde in dem Grundriss, der die Maßangaben enthält („Grundriss Obergeschoss“), nicht dargestellt. Nach den Gründen des Genehmigungsbescheids ging das Landratsamt davon aus, dass die nördliche Außenwand des neuen Obergeschosses in dem Abschnitt, in dem das Grundstück der Antragsteller nach Norden ausgreift (Büroanbau), die „volle“, nach Art. 6 Abs. 4 BayBO a. F. bemessene Abstandsfläche einhält und dass im Übrigen Art. 6 Abs. 5 BayBO a. F. mit der Folge angewendet werden kann, dass ein Grenzabstand von 3,00 m zur Einhaltung der Abstandsfläche ausreicht.

Die Antragsteller legten Widerspruch ein und beantragten beim Verwaltungsgericht München vorläufigen Rechtschutz.

Als Reaktion auf von den Antragstellern gerügte Unstimmigkeiten vor allem bei der abstandsflächenrechtlichen Behandlung der südlichen Außenwand des neuen Obergeschosses und deren mögliche Folgen für die Anwendbarkeit des 16 m-Privilegs auf der Nordseite reichte der Beigeladene während des gerichtlichen Verfahrens beim Landratsamt für die Grundrisse des Erd- und des Obergeschosses einen „Austauschplan“ vom 4. September 2006 ein, der den „Versatz“ im Grenzverlauf berücksichtigt. Nach den Maßangaben in diesem Plan beträgt der Grenzabstand - bei unveränderter Wandhöhe und einer auf 17,00 m verringerten Wandlänge - im Bereich des „Versatzes“ 3,024 m und westlich des „Versatzes“ 3,244 m (östlich des „Versatzes“ folgt der Bereich, in dem das Baugrundstück wegen des Anbaus nach Norden ausgreift). Auf der Grundlage des „Austauschplans“ erteilte das Landratsamt mit Bescheid vom 24. November 2006 eine Änderungsgenehmigung, mit der vier Abweichungen von den Abstandsflächenflächenvorschriften zugelassen wurden. Die Abstandsfläche der nördlichen Außenwand des geplanten Obergeschosses wurde auf einer Länge von 11,37 m von 5,44 m auf das Maß von 3,244 m bzw. 3,024 m verkürzt, die Abstandsfläche der südlichen Außenwand auf einer Länge von 1,48 m um bis zu 0,185 m. Die beiden anderen Abweichungen betreffen die auf der Südseite angebaute Garage. Die Abweichungen für das neue Obergeschoss wurden im Wesentlichen damit begründet, dass das Gebäude trotz der geringfügigen Unterschreitung der Abstandsfläche nach Süden noch dem Typ von Vorhaben entspreche, für den das 16 m-Privileg gedacht sei, dass die Antragsteller die Errichtung eines entsprechenden freistehenden Gebäudes hinnehmen müssten, weil in diesem Fall das 16 m-Privileg angewendet werden könnte, und dass die Aufstockung im Hinblick auf die Ausmaße des Gebäudes auf dem Grundstück der Antragsteller auch unter Berücksichtigung der auf dem „Vorbau“ der Antragsteller montierten Sonnenkollektoren nicht rücksichtslos sei.

Die Antragsteller legten auch gegen den Bescheid vom 24. November 2006 Widerspruch ein und bezogen den Bescheid in ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ein. Mit Beschluss vom 19. Juli 2007 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragsteller mit dem Antrag,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 19. Juli 2007 zu ändern und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen den Baugenehmigungsbescheid Landratsamts ... vom 28. Dezember 2005 in der Fassung des Bescheids vom 24. November 2006 anzuordnen.

Der Antragsgegner und der Beigeladene beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.

II.

Die zulässige Beschwerde hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hätte dem Antrag, die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller gegen den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamts ... vom 28. Dezember 2005 und den Änderungsbescheid vom 24. November 2006 anzuordnen, stattgeben müssen. Das Interesse der Antragsteller, dass vor Eintritt der Bestandskraft der Baugenehmigung keine zu ihren Lasten gehenden vollendeten Tatsachen geschaffen werden, überwiegt das Interesse des Beigeladenen, möglichst bald von der Genehmigung Gebrauch machen zu können, weil der Widerspruch der Antragsteller aussichtsreich erscheint. Nach summarischer Prüfung des nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO für die Beschwerdeentscheidung in erster Linie (zu dieser Einschränkung vgl. BayVGH vom 27.8.2002 BayVBl 2003,304; vom 10.7.2006 – 1 CS 06.407) maßgebenden Beschwerdevorbringen verstößt die im vereinfachten Genehmigungsverfahren erteilte Baugenehmigung gegen Rechte der Antragsteller schützende Vorschriften, die in diesem Verfahren zu prüfen waren (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Art. 73 Abs. 1 BayBO a. F.).

1. Gegenstand der Prüfung sind die angefochtenen Genehmigungsbescheide mit dem Inhalt, den eine im vereinfachten Verfahren erteilte Baugenehmigung nach der bei Erteilung der Genehmigungen maßgebenden Vorschrift des Art. 73 Abs. 1 BayBO in der Fassung vom 4. August 1997 (GVBl S. 433) hat. Die Neuregelung des vereinfachten Verfahrens durch Art. 59 BayBO in der Fassung vom 14. August 2007 (GVBl S. 588), nach der die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den Abstandsflächenvorschriften nicht mehr Gegenstand einer in diesem Verfahren erteilten Baugenehmigung ist, ist nicht anzuwenden. Die Vorschrift des Art. 83 Abs. 1 BayBO ermöglicht einen Übergang auf das neue Verfahrensrecht wohl nur, wenn das Genehmigungsverfahren bei Inkrafttreten des neuen Rechts noch nicht - mit Erlass der Baugenehmigung - abgeschlossen war (so auch: Jäde in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Stand September 2007, Art. 83 RdNr. 5). Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, weil die Genehmigungsbescheide bereits im Dezember 2005 bzw. November 2006 erlassen wurden. Abgesehen davon haben die Beigeladenen auch nicht die nach Art. 83 Abs. 1 BayBO erforderliche Erklärung gegenüber der Bauaufsichtsbehörde abgegeben.

Für die Beurteilung der von den Antragstellern geltend gemachten Rechtsverletzung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage bei Erlass der Genehmigungsbescheide maßgebend. Auch die materiellrechtlichen Vorschriften der Bayerischen Bauordnung sind somit grundsätzlich noch in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung anzuwenden. Änderungen des materiellen Rechts durch die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Neufassung des Gesetzes sind nur zu berücksichtigen, soweit sie sich zugunsten der Beigeladenen auswirken (BVerwG vom 23.8.1998 NVwZ 1998, 1179).

2. Nach summarischer Prüfung verstößt die Baugenehmigung gegen die Abstandsflächenvorschriften. Mögliche die südliche Gebäudeseite betreffende Mängel sind für die ausschlaggebende Frage einer Verletzung von Rechten der Antragsteller allerdings nur mittelbar von Bedeutung (a). Bei der dem Grundstück der Antragsteller zugewandten nördlichen Gebäudeseite, bei der Bestimmtheitsmängel der ursprünglichen Baugenehmigung durch die Änderungsgenehmigung nur teilweise ausgeräumt sind (b), trifft zwar der Ausgangspunkt der abstandsflächenrechtlichen Beurteilung des Landratsamts zu (c). Dem Landratsamt und dem Verwaltungsgericht ist auch insoweit zu folgen, als es nicht von vorneherein ausgeschlossen erscheint, die vor der nördlichen Außenwand des Obergeschosses einzuhaltende Abstandsfläche, bei dem Abschnitt der Wand, bei dem die „volle“ Abstandsfläche gemäß Art. 6 Abs. 4 BayBO a. F. nicht auf dem Baugrundstück eingehalten werden kann, auf das Maß von etwa 3 m zu verkürzen. Nach summarischer Prüfung berücksichtigt die hierfür mit dem Ergänzungsbescheid zugelassene Abweichung die Belange der Antragsteller aber nicht ausreichend (d).

a) Den eingehend begründeten Einwänden der Antragsteller gegen die abstandsflächenrechtliche Beurteilung der südlichen Gebäudeseite muss nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Das gilt sowohl für mögliche Bestimmtheitsmängel der Genehmigung (1) als auch für die auf dieser Seite zugelassenen Abweichungen (2).

(1) Mögliche auf Ungenauigkeiten der Bauvorlagen beruhende Bestimmtheitsmängeln der Baugenehmigung können auf sich beruhen, soweit sie die südliche Gebäudeseite betreffen.

Die gesetzlichen Anforderungen an Bauvorlagen dienen nicht dem Schutz der Nachbarn (vgl. Gaßner/Würfel in Simon/Busse, BayBO, Stand Juli 1999, Art. 67 RdNr. 84). Eine auf der Grundlage mangelhafter Bauvorlagen erteilte Baugenehmigung kann vom Grundstücksnachbarn nur dann mit Erfolg angegriffen werden, wenn sich nicht mit der gebotenen Bestimmtheit feststellen lässt, ob das Vorhaben den maßgebenden nachbarschützenden Vorschriften entspricht (vgl. OVG NRW vom 14.11.2001 BRS 64 Nr. 122; OVG Berlin vom 17.10.2003 BauR 2004, 987; BayVGH vom 10.4.2006 - 1 ZB 04.3506 - Juris).

Nach diesem Maßstab kann, um einen Einwand der Antragsteller herauszugreifen, offen bleiben, ob die Bauvorlagen ausreichend bestimmt erkennen lassen, dass die Höhe der südlichen Außenwand der Garage das nach Art. 7 Abs. 4 BayBO a. F. (und nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO) zulässige Maß von 3 m einhalten muss. Sollten in dieser Hinsicht Mängel vorliegen, wären nicht die Antragsteller, sondern die Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks Fl.Nr. .../3 in ihren Rechten verletzt (vgl. BayVGH vom 13.12.2007 – 1 CS 07.2017 – Juris; vom 24.5.2006 – 1 CS 06.90 – Juris).

(2) Aus demselben Grund muss nicht entschieden werden, ob die auf der südlichen Gebäudeseite zugelassenen Abweichungen (Art. 70 Abs. 1 BayBO a. F.) von den Abstandsflächenvorschriften rechtmäßig sind. Die abstandsflächenrechtliche Beurteilung der südlichen Gebäudeseite ist für die Frage einer Verletzung von Rechten der Antragsteller nur mittelbar von Bedeutung. Dass eine nach Art. 6 Abs. 4 BayBO bemessene Abstandsfläche (auch) auf der südlichen Gebäudeseite nicht vor allen Teilen der Außenwand eingehalten wird, hat zum einen - in Verbindung mit dem Grenzanbau auf der Nordseite - zur Folge, dass das 16 m-Privileg des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO a. F. nicht zur Verfügung steht; dies berücksichtigt der Ergänzungsbescheid. Zum anderen ist die Erwägung betroffen, mit der das Landratsamt die auf der Nordseite zugelassene Abweichung von Abstandsflächenvorschriften im Wesentlichen begründet hat, nämlich dass das aufgestockte Gebäude dem „Typ von Vorhaben“ entspreche, für den das 16 m-Privileg gedacht sei. Hierauf ist im Folgenden zurückzukommen.

b) Die Mängel, die die ursprünglich genehmigten Bauvorlagen bei der Darstellung des Verlaufs der gemeinsamen Grundstücksgrenze aufwiesen, sind in dem mit dem Änderungsbescheid genehmigten „Austauschplan“ vom 4. September 2006 ausgeräumt.

Bei der die Antragsteller betreffenden nördlichen Gebäudeseite ist jedoch zu bemängeln, dass die Veränderungen des Vorhabens, die Gegenstand der Änderungsgenehmigung sind, in den Bauvorlagen unvollständig dargestellt sind. Der mit dem Änderungsbescheid genehmigte „Austauschplan“ vom 4. September 2006 umfasst lediglich den „Grundriss EG“ und den „Grundriss OG“. Eine „Ansicht Nord“, welche die Fenster in der nördlichen Außenwand entsprechend der geänderten Planung darstellt, fehlt. Die Nebenbestimmung der Änderungsgenehmigung, dass „auch Darstellungen und Maßangaben in der Darstellung der Ansichten und des Schnitts (ungültig werden), soweit diese nicht mit den Eingabeplänen vom 04.0.9.2006 vereinbar sind“, genügt wohl nicht, weil offen bleibt, welche „Darstellungen“ an die Stelle der ungültig werdenden treten. Ob die Antragsteller schon aus diesem Grund in ihren Rechten verletzt sind, kann jedoch dahinstehen, weil, wie im Folgenden darzulegen ist, die Anordnung der Fenster auch unabhängig von diesen Mängeln abstandsflächenrechtlichen Bedenken begegnet.

c) Die der Baugenehmigung in der Fassung des Änderungsbescheids zugrundeliegende Beurteilung geht zu Recht davon aus, dass auch vor der nördlichen Außenwand des geplanten Obergeschosses eine Abstandsfläche eingehalten werden muss (1) und dass sich die Tiefe dieser Abstandsfläche an sich nach Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO bemisst (2). Ob auch der Umfang, in dem das Vorhaben abstandsflächenrechtlich zu prüfen ist, richtig erfasst wurde, kann dahinstehen (3).

(1) Vor der nördlichen Außenwand des geplanten Obergeschosses muss eine Abstandsfläche eingehalten werden. Die Voraussetzungen, unter denen eine Abstandsfläche entbehrlich ist, weil aus bauplanungsrechtlichen Gründen an die Grenze gebaut werden darf oder muss (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO a. F.), sind nicht erfüllt.

Das Wohnhaus der Antragsteller und das Wohnhaus des Beigeladenen bilden kein Doppelhaus im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO, bei dem ein Anbau an die „inneren Grenzen“ auch bei offener Bauweise bauplanungsrechtlich zulässig und geboten ist. Kennzeichnend für ein Doppelhaus ist, dass die beiden Gebäude in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut sind. „Aneinandergebautsein“ verlangt zwar keine Deckungsgleichheit. Steht jedoch ein erheblicher Teil mindestens einer Wand frei an der Grenze, so handelt es sich nicht mehr um ein Doppelhaus im bauplanungsrechtlichen Sinn (BVerwG vom 24.2.2000 BVerwGE 110, 355 = NVwZ 2000, 1055). Nach diesem Maßstab sind die beiden Gebäude kein Doppelhaus. Sie sind zwar, worauf zurückzukommen ist, in abgestimmter Weise aneinandergebaut. Die auf der nördlichen Gebäudeseite freistehenden Wände bzw. Wandteile des Hauses des Beigeladenen sind jedoch deutlich größer als dies bei einem Doppelhaus zulässig ist.

Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO sind auch nicht aus anderen Gründen erfüllt. Das Vorhandensein zweier frei an der Grenze stehender Wandteile ändert nichts daran, dass in der Umgebung des Baugrundstücks die offene Bauweise herrscht, in der die Gebäude grundsätzlich mit seitlichem Grenzabstand errichtet werden müssen (vgl. § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO).

(2) Zutreffend ist ferner die dem Änderungsbescheid zugrunde liegende Annahme, dass das 16 m-Privileg des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO a. F. dem Vorhaben nicht zugute kommt. Nach Art. 6 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 1, Satz 3 BayBO ist es von vorneherein auf eine Gebäudeseite beschränkt, weil das Gebäude des Beigeladenen mit einem erheblichen Teil seiner nördlichen Außenwand frei an der Grenze zum Grundstück der Antragsteller steht (vgl. BayVGH vom 21.5.1990 VGH n. F. 43, 88 = BayVBl 1990, 153). Das verbleibende (eine) Privileg kann nicht angewendet werden, weil das Gebäude eine „volle“, gemäß Art. 6 Abs. 4 BayBO a. F. bemessene Abstandsfläche auf mehr als einer Seite, nämlich auf der Nord- und der Südseite, nicht einhält (vgl. BayVGH vom VGH n. F. 53, 89 = BayVBl 2000, 562).

(3) Offen bleiben kann, ob der Umfang, in dem die abstandsflächenrechtliche Zulässigkeit aus Anlass der Aufstockung zu prüfen ist, richtig beurteilt wurde. Das Landratsamt hat in einem frühen Stadium des Genehmigungsverfahrens in einem Vermerk vom 8. Dezember 2005 die Auffassung vertreten, dass die Aufstockung keine abstandsflächenrechtliche Neubeurteilung des Gebäudes erforderlich mache, weil die gesamte Abstandsfläche der neuen Außenwand „innerhalb der bereits durch das vorhandene Gebäude im Erdgeschoss überbauten Fläche liegt und sich mit dessen Abstandsfläche überschneidet“ (Blatt 23 der Bauakten). Unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH vom 20.12.1988 BayVBl 1990, 721 [Errichtung eines Anbaus in den Abstandsflächen]; vom 23.5.2005 - 25 ZB 03.881 - Juris; vom 7.5.2007 - 2 B 04.3589 - Juris [jeweils Veränderungen im Bereich des Daches] dürfte dieser Beurteilung, die im Übrigen hinsichtlich der Nordseite des Gebäudes wohl auf der im weiteren Verlauf des Genehmigungsverfahrens revidierten Annahme beruht, dass dort das 16 m-Privileg des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO a. F. angewendet werden kann, nicht zu folgen sein. Vielmehr dürften die Voraussetzungen, unter denen die zitierte Rechtsprechung eine abstandsflächenrechtliche Gesamtbeurteilung für erforderlich hält, erfüllt sein, weil die nördliche Außenwand des Wohngebäudes der Antragsteller in erheblichem Umfang frei an der im Zuge der Grundstücksteilung gebildeten Grenze steht, ohne dass, wie bereits dargelegt wurde, das Nichteinhalten einer Abstandsfläche in dem von offener Bauweise (§ 22 Abs. 1 und 2 BauNVO) geprägten Gebiet bauplanungsrechtlich gerechtfertigt wäre. Die Frage muss aber nicht entschieden werden, weil auch die auf das neue Obergeschoss beschränkte abstandsflächenrechtliche Prüfung nicht frei von Fehlern ist.

d) Dem Landratsamt und dem Verwaltungsgericht ist zwar insoweit zu folgen, als es sich nicht von vorneherein verbietet, die Tiefe der vor der neuen nördlichen Außenwand einzuhaltenden Abstandsflächenfläche im mittleren und im westlichen Wandabschnitt auf das Maß von etwa 3 m zu reduzieren. Nach summarischer Prüfung berücksichtigt die mit dem Ergänzungsbescheid zugelassene Abweichung aber die Belange der Antragsteller nicht ausreichend.

Eine Abweichung (Art. 70 Abs. 1 BayBO a. F.) von den Abstandsflächenvorschriften darf nur bei einem atypischen Sachverhalt zugelassen werden (BayVGH vom 14.12.1994 VGH n. F. 48, 24). Diese Voraussetzung ist erfüllt. Durch die Teilung des Grundstücks Fl.Nr. .../2 alt ist insofern eine für ein Gebiet mit offener Bauweise aus dem Rahmen fallende Grundstückssituation entstanden, als wesentliche Teile der nördlichen Gebäudeseite des Hauses des Beigeladenen frei an der Grenze stehen.

Nicht von vorneherein zu beanstanden ist auch, dass sich das Landratsamt bei dem Umfang der Abweichung an Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO a. F. orientiert hat. Zwar liegt der Entscheidung des Senats, auf die sich die Behörde hierbei beruft (Beschluss vom 16.7.2003 BauR 2004, 65 = BRS 66 Nr. 137) ein anderer Sachverhalt zugrunde (in jenem Fall betraf die Abweichung nicht die Seite, auf der das Gebäude [teilweise] an der Grenze steht, sondern die gegenüberliegende Seite). Fraglich erscheint auch, ob darauf verwiesen werden darf, dass der Beigeladene ein Gebäude mit derselben Wandhöhe und der Länge der geplanten Aufstockung unter Ausnutzung des 16 m-Privilegs mit einem Grenzabstand von 3 m errichten dürfte; denn bei dieser Vergleichsüberlegung bleibt die Besonderheit des Vorhabens, nämlich dass es sich um die Aufstockung eines an der Grundstücksgrenze stehenden Gebäudes handelt, unberücksichtigt. Ein Abstandsflächenmaß entsprechend Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO erscheint aber auch unabhängig von diesen Überlegungen jedenfalls für Teile der neuen Außenwand sachgerecht. Bei der Bewertung der Grundstückssituation ist nämlich nicht nur zu berücksichtigen, dass der östliche, rund 5,50 m lange Abschnitt der nördlichen Außenwand des geplanten Obergeschosses eine „volle“ Abstandsfläche (mit dem Maß von 5,44 m) auf dem Baugrundstück (mehr als) einhält, weil der Abstand zur Grenze dort – wegen des „Versatzes“ nach Norden – etwa 7 m beträgt (vgl. die zutreffende Beschränkung der Abweichung für die nördliche Gebäudeseite „auf eine Länge von 11,37 m“ [Nr. 2 Buchst. d des Bescheides vom 24.11.2006]). Zu berücksichtigen ist auch, dass das Gebäude der Antragsteller mit seinem nach den Plänen knapp 6 m breiten südlichen Vorbau an der Grenze zum Grundstück des Beigeladenen steht. Jedenfalls in diesem Bereich, bei dem die Bebauung den Verhältnissen bei einem Doppelhaus entspricht, ist das zugelassene Abstandsflächenmaß sachgerecht. Denn bei einer „einseitigen“ Aufstockung eines Doppelhauses, mit der das Vorhaben in seinem mittleren Teil verglichen werden kann, reicht es in der Regel aus, wenn das neue Geschoss so weit von der gemeinsamen Grenze abgerückt wird, dass der Abstand der Höhe der neuen freistehenden Wandfläche bzw. der Mindestabstandsfläche von 3 m entspricht (vgl. BayVGH vom 26.01.2000 BayVBl 2001, 628 = BRS 63 Nr. 136). Strengere Anforderungen sind dort auch nicht wegen der Sonnenkollektoren angezeigt, die die Antragsteller auf dem Flachdach des „Vorbaus“ errichtet haben. Soweit es sich um untergeordnete Anlagen handelt, dürfte - unter Berücksichtigung der Art. 6 Abs. 8 BayBO a. F. zugrundeliegenden Wertung des Gesetzes - gegen die Errichtung im grenznahen Bereich zwar nichts einzuwenden sein. In diesem Bereich müssen die Antragsteller aber eine Funktionsbeeinträchtigung hinnehmen.

Bei dem etwa 3,50 m langen westlichsten Teil der nördlichen Außenwand des Obergeschosses erscheint es jedoch sehr fraglich, ob die Belange der Antragsteller bei der Abweichung ausreichend berücksichtigt wurden.

Die beiden Wohnhäuser bilden zwar, wie bereits dargelegt wurde, kein Doppelhaus im bauplanungsrechtlichen Sinn; den mit Bescheid vom 8. März 1972 genehmigten Bauvorlagen ist jedoch zu entnehmen, dass dem „Doppelwohnhaus“ eine Gesamtplanung zugrunde lag, die die Belange der beiden Haushälften auch im Fall einer – wohl von Anfang an ins Auge gefassten – Grundstücksteilung sorgfältig „austariert“ hat. Die südliche Haushälfte (des Beigeladenen) wurde, um den Nachteil des kleineren Grundstücks auszugleichen, mit ihrer teilweise versetzten nördlichen Gebäudeseite vollständig an der gemeinsamen Grenze errichtet, während die nördliche Hälfte (der Antragsteller) nur mit dem „Vorbau“ bis an diese Grenze reicht. Der in der Grenzbebauung liegende Nachteil für das nördliche Grundstück wird dadurch ausgeglichen, dass dort im Schatten der Grenzwände zwei atriumsähnliche Bereiche entstanden sind, die infolge der eingeschossigen Flachdachbauweise der südlichen Haushälfte vor Einblicken völlig geschützt sind. Wegen dieser Besonderheit hat das Interesse, vor Einblicken von dem Nachbargrundstück verschont zu bleiben, ausnahmsweise ein rechtlich erhebliches Gewicht. Dies hätte bei der Entscheidung über die Abweichung berücksichtigt werden müssen. Wenn es überhaupt zu rechtfertigen ist, das - grundsätzlich zulässige - Obergeschoss auch im westlichen Bereich, in dem auf dem Grundstück der Antragsteller der größere, zum Garten hin orientierte geschützte Bereich mit dem Schwimmbad unmittelbar angrenzt, mit einem auf das Maß von etwa 3 m verringerten Grenzabstand zu errichten, dann nur unter der Voraussetzung, dass auf Öffnungen in der westlichen Hälfte der nördlichen Außenwand des Obergeschosses so weit wie möglich verzichtet wird. Dem entspricht die geänderte Planung - trotz der Reduzierung der Zahl der Fenster auf der Nordseite von fünf auf drei - nicht. Zum einen ist bei dem Wohnraum im westlichen Teil des Obergeschosses ein zur Belichtung dieses Raums wohl nicht erforderliches Fenster auf der Nordseite geplant. Zum anderen bestehen Bedenken gegen den auf der Westseite vorgesehenen, nach Norden zum Grundstück der Antragsteller hin offenen Balkon. Diese Bedenken wiegen deswegen schwer, weil die Wohnung im Obergeschoss über den Balkon erschlossen werden soll. Damit wird ein nach der Grundkonzeption der Planung völlig geschützter Bereich des nördlichen Grundstücks nach summarischer Prüfung Beeinträchtigungen ausgesetzt, die die Antragsteller nicht hinnehmen müssen.

Dem kann nicht entgegenhalten werden, dass auch die Antragsteller ihre Haushälfte durch die Errichtung eines vollwertigen Obergeschosses verändert haben. Zwar weicht auch dieses Vorhaben insofern von dem die Belange beider Grundstücke ausgewogen berücksichtigenden Planungskonzept ab, als das neue Obergeschoss mehr Öffnungen nach Süden hat als das ursprünglich errichtete Dachgeschoss. Das Obergeschoss der Antragsteller ist jedoch so weit von der gemeinsamen Grenze entfernt, dass der den Blicken vom Nachbargrundstück entzogene Bereich, den es auch auf dem Grundstück des Beigeladenen gibt, nicht tangiert sein dürfte.

3. Da das Vorhaben des Beigeladenen das aus den dargelegten Gründen ausnahmsweise rechtlich erhebliche Interesse, vor Einblicken vom Nachgrundstück verschont zu bleiben, stark beeinträchtigt, ist nach summarischer Prüfung anzunehmen, dass die Baugenehmigung Rechte der Antragsteller auch wegen eines Verstoßes gegen das - im Einfügungsgebot des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthaltene - Gebot der Rücksichtnahme verletzt.

4. Als Unterlegene tragen der Antragsgegner und der Beigeladene die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu gleichen Teilen (§ 154 Abs. 1 VwGO; § 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO). Dem Beigeladenen dürfen Kosten auferlegt werden, weil er jeweils einen (erfolglosen) Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO). Dass die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen nicht erstattet werden, ist billig (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil der Beigeladene unterlegen ist.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 3 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 1.5 Satz 1 und Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2004 (NVwZ 2004, 1327).