VG München, Urteil vom 28.02.2008 - M 10 K 06.2850
Fundstelle
openJur 2012, 89941
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom ... April 2004, mit dem der Kläger zu einem Kanalherstellungsbeitrag für das Grundstück FlNr. .../19 der Gemarkung ... (... Straße 25) in Höhe von 1.197,32 Euro (Geschossfläche 74,0 m2x 16,18 Euro/m2) herangezogen wurde. Der Beitrag wurde für die ausgebaute Dachgeschossfläche nacherhoben und auf die Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 5. Mai 2000 (BGS-EWS 2000) gestützt.

Hiergegen legte der Kläger am 15. April 2004 Widerspruch ein. Das Grundstück stehe nicht mehr in seinem Eigentum. Die Beklagte erwiderte, der Dachgeschossausbau sei anlässlich einer Ortsbesichtigung im Jahr 1992 festgestellt worden. Die neuen Eigentümer seien erst 1996 im Grundbuch eingetragen worden. Die erstmals gültige BGS-EWS vom 5. Mai 2000 sei rückwirkend zum 1. April 1995 in Kraft getreten. Somit sei der Kläger bei Entstehung der Beitragsschuld noch Grundeigentümer gewesen.

Der Kläger hielt den Widerspruch aufrecht. Während seiner Eigentümerstellung habe kein Dachgeschossausbau stattgefunden. Die Beklagte half dem Widerspruch nicht ab und legte ihn dem Landratsamt ... vor. Das Landratsamt teilte dem Kläger mit Schreiben vom 14. März 2006 mit, das Verwaltungsgericht München habe die BGS-EWS 2000 für nichtig erklärt. Die aktuelle BGS-EWS vom 18. April 2005 (BGS-EWS 2005) sei rückwirkend zum 1. April 1995 in Kraft getreten und wirksam. Hierauf erwiderte der Kläger, er habe das Anwesen vor über 15 Jahren mit ausgebautem Dachgeschoss erworben. Es sei Festsetzungsverjährung eingetreten. Das Verwaltungsgericht München habe in der Eilentscheidung vom 9. Dezember 2004 lediglich § 5 Abs. 3 Satz 4 2. Halbsatz der BGS-EWS 2000 für unwirksam erklärt. Eine Ungültigkeit der Satzung im Ganzen sei damit nicht eingetreten, zumal die Entscheidung keine inter-omnes-Wirkung entfalte. Die Beklagte habe nicht belegen können, dass die maßgeblichen Vorschriften in den Beitrags- und Gebührensatzungen bis zum Jahr 2005 unwirksam gewesen seien. Spätestens mit Bezugsfertigkeit des Dachgeschosses sei die Beitragspflicht entstanden und die Forderung mittlerweile verjährt.

Mit Widerspruchsbescheid vom ... Juni 2006 wies das Landratsamt ... den Widerspruch zurück. Das Verwaltungsgericht München und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hätten in verschiedenen Entscheidungen festgestellt, dass alle bisher erlassenen Beitrags- und Gebührensatzungen vor dem Jahr 2000 bzw. der Beitragsteil der BGS-EWS 2000 nichtig seien. Erst mit Erlass der BGS-EWS 2005 sei die Beitragsschuld rückwirkend zum 1. April 1995 entstanden. Der zunächst rechtswidrige Beitragsbescheid sei durch die rückwirkend erlassene gültige BGS-EWS geheilt worden. Der Widerspruchsbescheid wurde am 3. Juli 2006 zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2006, der beim Verwaltungsgericht München am selben Tage einging, erhoben die Klägerbevollmächtigten Klage mit dem Antrag,

den Kanalherstellungsbeitragsbescheid vom ... April 2004 und den Widerspruchsbescheid vom ... Juni 2006 aufzuheben.

Zur Begründung wurde der Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und weiter geltend gemacht, dass bei rückwirkender Inkraftsetzung einer Satzung auch die Festsetzungsverjährung rückwirkend beginnen müsse. Eine abweichende Rechtsprechung bedürfe einer verfassungsrechtlichen Überprüfung. Selbst für den Fall, dass die Beklagte die lückenlose Nichtigkeit ihrer Satzungen belegen könne, werde daher an der Einrede der Verjährung festgehalten.

In der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2007 stellte die Klagepartei den Antrag aus der Klageschrift. Die Vertreterin der Beklagten beantragte,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht vertagte die Streitsache und gewährte dem Kläger eine Schriftsatzfrist.

Die Klägerbevollmächtigten trugen mit Schriftsatz vom 31. Januar 2008 vor, es liege eine unzulässige unechte Rückwirkung vor. Wer ein Objekt verkaufe, rechne nach einigen Jahren nicht mehr damit, dass er noch mit Beiträgen belastet werde. Der Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) cc) 2. Spiegelstrich KAG sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass das rückwirkende Inkraftsetzen einer Satzung auch zum rückwirkenden Beginn der Festsetzungsverjährung führe. Bei einem Eigentümerwechsel bedürfe die Rückwirkung unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit verfassungsrechtlich einer Beschränkung. Die rückwirkende Heilung rechtswidriger Satzungen sei, entsprechend der Festsetzungsfrist, nur bis zu einer zeitlichen Grenze von vier Jahren zulässig.

Die Beklagte erwiderte, die genannte Regelung des KAG gelte auch dann, wenn die Satzung rückwirkend in Kraft gesetzt werde.

Die Beteiligten verzichteten auf weitere mündliche Verhandlung.

Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte im schriftlichen Verfahren entschieden werden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom ... April 2004, mit dem der Kläger zu einem zusätzlichen Kanalherstellungsbeitrag herangezogen wurde, ist rechtmäßig und verletzt in daher nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Beklagte verfügt über eine tragfähige satzungsrechtliche Grundlage für den Bescheid. Die BGS-EWS 2000, auf die der Bescheid gestützt wurde, erweist sich zwar im Beitragsteil ebenso als nichtig wie sämtliche vorangegangenen Satzungen. Jedoch ist nunmehr durch die BGS-EWS 2005 rückwirkend zum 1. April 1995 gültiges Satzungsrecht geschaffen worden. Die Beitragsschuld für den unstreitigen sachlichen Beitragstatbestand der nachträglichen Geschossflächenmehrung um 74,0 qm ist hierdurch erstmals entstanden. Diese Beitragspflicht trifft den Kläger als Grundstückseigentümer im maßgeblichen Zeitpunkt des Inkrafttretens der gültigen Satzung. Der hiergegen erhobene Einwand der unzulässigen Rückwirkung bzw. der Verjährung greift nicht durch.

Zum Satzungsrecht der Beklagten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zwar noch in der Entscheidung vom 21. August 2003 (23 CS 03.1918) die Auffassung vertreten, die BGS-EWS 2000 stelle eine tragfähige Rechtsgrundlage dar, dabei jedoch offenbar übersehen, dass die Satzung in § 5 Abs. 3 Satz 4 eine unzulässige Regelung zur Veranlagung einzelner Geschosse innerhalb von Gebäuden oder selbständigen Gebäudeteilen enthält, die nach ständiger Rechtsprechung des BayVGH (vgl. zuletzt Beschl. v. 17.5.2006, 23 CS 06.928) zur Nichtigkeit des gesamten Beitragsteils der Satzung führt. Dies hat das erkennende Gericht hinsichtlich der streitgegenständlichen Satzung bereits in einem anderen Verfahren (Beschl. v. 29.11.2004, M 10 S 04.4227) dargelegt. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es nicht erforderlich, dass die Ungültigkeit einer Satzung mit inter-omnes-Wirkung in einem Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO festgestellt wird. Die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle lässt die Berechtigung und Verpflichtung der Gerichte zur Inzidentkontrolle von Satzungsrecht unberührt (Eyermann, VwGO, 12. Aufl., Rdn. 7 zu § 47 mit Rspr.-Nachw.).

Die vorangegangenen BGS-EWS vom 2. Mai 1995, 7. Dezember 1992, 26. Oktober 1987 und 28. Februar 1980 enthielten ebenfalls derartige rechtswidrige Geschossveranlagungsregelungen. Die EWS mit Beitrags- und Gebührenteil vom 30. Juli 1973 ist bereits wegen einer mit dem Prinzip der gerechten Vorteilsabgeltung nicht zu vereinbarenden Begünstigung kleinerer Einfamilienhäuser beim Beitragsmaßstab Grundstücksfläche (§ 34 Abs. 2 c) im Beitragsteil als nichtig anzusehen, so dass dahingestellt bleiben kann, ob sie weitere unzulässige Maßstabsregelungen enthält (so BayVGH Urt. v. 14.4.1989, 23 B 87.03112). Die BGS-EWS vom 12. Dezember 1960 ist allein schon wegen des nicht vorteilsgerechten Grundbeitrags mit Berücksichtigung der Geschossfläche erst ab dem dritten Vollgeschoss (§ 6 Abs. 1) nichtig (vgl. BayVGH v. 14.4.1989 a.a.O.).

Gegen das formell gültige Zustandekommen und die materielle Gültigkeit der BGS-EWS vom 18. April 2005 bestehen keine Bedenken. Zwar regelt § 5 Abs. 6 nicht alle in Betracht kommenden Nacherhebungsfälle, jedoch gilt insoweit ergänzend Art. 5 Abs. 2 a KAG, der durch die Satzung nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Nach dieser Vorschrift entsteht ein zusätzlicher Beitrag, wenn sich die für die Beitragsbemessung maßgeblichen Umstände ändern und sich dadurch der Vorteil erhöht. Soweit sich die Satzung Rückwirkung beimisst, ist dies nicht zu beanstanden, da die Beklagte mit der Satzung die zur Fehlerhaftigkeit früherer Satzungen führenden Nichtigkeitsgründe beseitigt und im Übrigen nur Begünstigungen für die Beitragspflichtigen geschaffen hat. Die Beklagte hat den Rückwirkungszeitpunkt auch nicht etwa willkürlich bestimmt, vielmehr den gleichen Zeitpunkt für das rückwirkende Inkrafttreten gewählt wie bei der vermeintlich gültigen BGS-EWS 2000, die sich erst nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahre 2003 als im Beitragsteil nichtig herausstellte.

Auf der Grundlage der BGS-EWS 2005 ist die Beitragsschuld für die bislang nicht veranlagte Geschossflächenmehrung von 74,0 qm im Dachgeschoss des streitgegenständlichen Anwesens somit erstmals am 1. April 1995 entstanden. Die persönliche Beitragsschuld trifft den Kläger als zu diesem Zeitpunkt im Grundbuch eingetragenen Eigentümer (Art. 5 Abs. 6 Satz 1 KAG, § 4 BGS-EWS 2005).

Eine Verjährung der Beitragsforderung ist nicht eingetreten, da im Falle der Ungültigkeit einer Satzung die vierjährige Festsetzungsverjährungsfrist erst mit Ablauf des Kalenderjahrs zu laufen beginnt, in dem die gültige Satzung bekannt gemacht worden ist (Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) cc) 2. Spiegelstrich KAG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO). Der Kläger kann hiergegen nicht mit Erfolg einwenden, diese Regelung verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit bzw. verletze ein schützenswertes Vertrauen und müsse daher, insbesondere bei einem zwischenzeitlichen Eigentümerwechsel, abweichend von ihrem Wortlaut zeitlich eingeschränkt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bestehen gegen die Regelung, die der Gesetzgeber bewusst in Kenntnis der früheren Rechtsprechung zu Art. 13 Abs. 2 KAG a.F. getroffen hat, keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. z.B. Beschl. v. 28.11.2005, 23 CS 05.2512). Ersichtliches Ziel des Gesetzgebers war es, die Gemeinden bzw. Gemeindeverbände im Falle nichtigen Satzungsrechts vor Beitragsausfällen infolge Verjährungseintritts zu bewahren. Im Übrigen zeigt gerade der vorliegende Fall, dass die vom Kläger für geboten gehaltene richterrechtliche Einschränkung der Vorschrift zu keinem „gerechteren“ Ergebnis führt. Der jetzige Eigentümer des streitgegenständlichen Grundstücks, der dieses vom Kläger im Jahre 1996 erwarb, könnte gegen eine Inanspruchnahme für den schon vom Ersteigentümer vorgenommenen Dachgeschossausbau erst recht einwenden, dass er nicht mehr damit rechnen müsse, aufgrund einer im Jahre 2005 mit Rückwirkung erlassenen Beitragssatzung veranlagt zu werden. Entscheidend unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes bzw. der unzulässigen Rückwirkung ist vielmehr, dass grundsätzlich keiner der jetzigen oder ehemaligen Grundstückseigentümer in seiner Erwartung geschützt ist, von der Nichtigkeit früheren Satzungsrechts profitieren zu können, denn ein abgeschlossener Beitragstatbestand liegt nicht vor. Welchen der Eigentümer die Beitragspflicht trifft, hängt von der Bestimmung des Zeitpunkts der Rückwirkung ab. Ist dieser Zeitpunkt - wie im vorliegenden Fall - ohne Verstoß gegen das Willkürverbot gewählt, besteht kein Grund für eine rechtliche Beanstandung. Wenn diese geboten wäre , müsste sie sich gegen den Zeitpunkt der Rückwirkung richten, nicht aber gegen die Anwendung der Verjährungsvorschriften.

Die Klage ist demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.

Beschluss

Der Streitwert wird auf EUR 1.197,32 festgesetzt (§ 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz -GKG-).