Bayerischer VGH, Urteil vom 30.01.2008 - 12 B 06.2859
Fundstelle
openJur 2012, 89210
  • Rkr:
Tenor

I. Unter Aufhebung der Nummern 2 bis 4 des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 29. Juni 2006 wird der Beklagte verpflichtet, über den Antrag des Klägers vom 12. Mai 2005 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Kläger und der Beklagte je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

IV. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festgesetzten Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am ... geborene Kläger begehrt vom Beklagten die Gewährung von Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35 a Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in Form der Übernahme der Schulkosten für eine private Schule für Erziehungshilfe für das Schuljahr 2005/2006.

Beim Kläger liegt nach der Stellungnahme des Klinikums Nürnberg, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie – Psychotherapie, vom 8. September 2004 bei durchschnittlicher Intelligenz (CFT 20: IQ 102) eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10: F 90.0), eine emotionale Störung (ICD-10: F 93.8) sowie eine Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (ICD-10: F 82) vor.

Auf den Antrag der Mutter des Klägers vom 27. April 2004 übernahm der Beklagte mit Bescheid vom 10. November 2004 im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten des Schulbesuchs der privaten ...-Schule für Erziehungshilfe (Nürnberg) vom 1. Mai 2004 bis 31. Juli 2005 (Schuljahresende 2004/2005) sowie die Kosten der Hausaufgabenbetreuung ab 1. Mai 2004 bis 30. November 2004. Grundlage waren insoweit die vorgenannte Stellungnahme des Klinikums Nürnberg vom 8. September 2004 und eine Stellungnahme des Gesundheitsamtes beim Landratsamt Fürth vom 14. September 2004.

Unter dem 12. Mai 2005 beantragte die Mutter des Klägers die Weiterführung der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für die ...-Schule für das Schuljahr 2005/2006. Nach Anhörung lehnte der Beklagte diesen Antrag mit Bescheid vom 15. Juni 2005 ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Entscheidungskonferenz vom 9. Juni 2005 aus: Im Entwicklungsbericht der ...-Schule vom 21. Februar 2005 werde der Kläger als freundlicher und zuvorkommender Schüler beschrieben, der im Umgang mit Klassenkameraden schon viel Selbstsicherheit aufgebaut habe und sogar zum Klassensprecher gewählt worden sei. Es falle ihm immer leichter, in der Kleingruppe am Unterricht teilzunehmen, er melde sich und bereichere den Unterricht mit mündlichen Beiträgen. Aus Sicht der Schule sei zwar der Verbleib des Klägers an einer Schule für Erziehungshilfe weiterhin nötig, um die positive Entwicklung voranzutreiben und das Erreichte zu festigen. Das Zwischenzeugnis vom 18. Februar 2005 bestätige aber eine deutliche Verbesserung seiner Leistungen und enthalte eine durchwegs positive Beurteilung. So werde z. B. berichtet, dass er sich nur selten vom Unterricht ablenken lasse, sich lernwillig zeige und Durchhaltevermögen beweise. Er gehe in vielen Situationen auf andere zu und arbeite im Team sinnvoll mit Klassenkameraden. Als Klassensprecher habe er die Interessen der Gemeinschaft angemessen vertreten. Es sei nicht Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII, Kindern und Jugendlichen eine bessere Schulbildung in einer Privatschule zu ermöglichen, sondern eine drohende seelische Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Aufgrund der geschilderten positiven Entwicklung sei ein signifikantes soziales Integrationsrisiko nicht mehr zu erkennen und eine Hilfe zur Eingliederung in die Gesellschaft nicht notwendig. Deshalb werde die weitere Kostenübernahme für den Schulbesuch abgelehnt. Laut Schreiben des Schulleiters der für den Kläger zuständigen (Regel-)Hauptschule ... könne eine Rückführung zum Schuljahr 2005/2006 dorthin stattfinden. Zusätzlich könne der Kläger noch an einer „sozialen Gruppenarbeit“ für Schüler mit Integrationsbedarf teilnehmen. Auf den weiteren Inhalt dieses Bescheides wird Bezug genommen.

Auf die hiergegen erhobene Klage hin verpflichtete das Verwaltungsgericht Ansbach den Beklagten mit Urteil vom 29. Juni 2006, unter Aufhebung seines Bescheides vom 15. Juni 2005 dem Kläger ab Beginn des Schuljahres 2005/2006 bis zum 23. August (gemeint: April) 2006, dem Zeitpunkt der stationären Aufnahme des Klägers, Jugendhilfe in Form der Eingliederungshilfe durch Übernahme der Schulkosten für den Besuch der ...-Schule zu gewähren. In dem für die Prognoseentscheidung des Beklagten maßgeblichen Zeitpunkt kurz vor Beginn des Schuljahres 2005/2006 hätten die Voraussetzungen für die Weitergewährung von Eingliederungshilfe zum Besuch der ...-Schule vorgelegen, weil das Klinikum Nürnberg in seiner Stellungnahme vom 8. September 2004, von der weiter auszugehen sei, eine Spezialbeschulung „auch im weiteren“ für notwendig erachtet habe. Der Beklagte hätte ein erneutes schulpsychiatrisches Gutachten einholen müssen. Die Entscheidungen des Jugendamtes in den beiden Entscheidungskonferenzen vom 12. Mai und 9. Juni 2005 seien nicht nachvollziehbar. So werde aufgrund des Halbjahreszeugnisses vom 18. Februar 2005 und des Berichtes der ...-Schule vom 21. Februar 2005 kein „signifikantes soziales Integrationsrisiko“ mehr gesehen. Beide Äußerungen der ...-Schule befassten sich aber im Wesentlichen mit dem Erscheinungsbild des Klägers an der Schule, nicht jedoch mit anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Der Jugendhilfebericht vom 18. April 2005 sei nicht ausreichend berücksichtigt worden. Darin werde die Einschätzung vertreten, dass ein soziales Integrationsrisiko vorhanden und der Kläger noch nicht stabilisiert genug sei, um eine Regelschule zu besuchen. Die Ermittlungstätigkeit des Jugendhilfeträgers habe sich – neben der erfolglosen Einschaltung der staatlichen Beratungsstelle für Kinder mit besonderem Förderbedarf in Nürnberg – im Wesentlichen auf die Frage beschränkt, ob die organisatorischen Voraussetzungen für eine Rückführung des Klägers an die Hauptschule ... vorgelegen hätten. Die Berücksichtigung der Äußerung des dortigen Rektors habe sich schon deshalb verboten, weil dieser offenbar kein Fachmann im Hinblick auf Fragen der Beeinträchtigung der Teilnahme seelisch behinderter Kinder am Leben in der Gesellschaft sei. Auch habe sich in der mündlichen Verhandlung herausgestellt, dass kein Mitglied der Entscheidungskonferenzen vom 12. Mai und 9. Juni 2005 den Kläger persönlich angehört habe, um sich ein Bild von dessen Fähigkeit zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft machen zu können. Die Prognose des Beklagten leide somit im Wesentlichen an fehlenden tatsächlichen Grundlagen sowie einer Verengung des Blickfeldes auf den sozialen Bereich „Schule“. Deshalb habe der Kläger auch seinen Schulbesuch trotz Ablehnung seines Antrags auf Weiterführung dieser Hilfe fortsetzen dürfen.

Mit der vom Verwaltungsgerichtshof wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zugelassenen Berufung wendet sich der Beklagte gegen das vorgenannte Urteil und trägt im Wesentlichen vor: Dem Kläger sei zunächst Förderung zur „E-Beschulung“ gewährt worden, weil ein Integrationsrisiko, wenn auch kein signifikantes, gesehen worden sei. Nach etwa eineinviertel Jahren hätten positive Verhaltensänderungen im schulischen, nicht aber auch im häuslichen Bereich festgestellt werden können. Daraufhin sei in den Hilfeplankonferenzen die Entscheidung für eine andere Hilfeart („ambulante familienunterstützende Maßnahmen“) getroffen worden, weil das Integrationsrisiko in den außerschulischen Bereichen liege. Die angebotenen ambulanten Hilfen habe die Mutter damals jedoch abgelehnt. Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass seitens des Jugendamtes keine Änderung in der medizinischen Einschätzung gesehen worden sei. Medizinische Sachverständige seien heranzuziehen, um die medizinische Frage einer seelischen Behinderung oder drohenden seelischen Behinderung zu klären, nicht aber für die fachliche Beurteilung, welche Hilfe im konkreten Fall geeignet und erforderlich sei, wenn sich die „maßgeblichen Erkenntnisse aus anderen Aspekten und Beobachtungen“ ergäben. Der Kläger leide nach der medizinischen Begutachtung an ADHS und einer emotionalen Störung, die nach dem Wesen dieser Krankheit nicht zu beheben, sondern lediglich abzumildern sei. Es erfolge eine medikamentöse Behandlung. Im Rahmen der Eingliederungshilfe gehe es vor allem auch darum, das Kind und die Familie im Umgang mit der Problematik zu unterstützen, damit ihm eine Teilnahme am Leben in der Gesellschaft möglich sei. Das Kreisjugendamt sei aufgrund der Erkenntnisse der ursprünglich gewährten Hilfeart (Besuch der Privatschule) zu dem Ergebnis gelangt, dass der tatsächliche jugendhilferechtliche Förderbedarf des Klägers in den unangemessenen Reaktionen seiner Umgebung bestehe, und zwar insbesondere seiner häuslichen, denn er habe nach einem Jahr „E-Schule“ bereits gelernt, sich dort angemessener zu verhalten und zudem gute schulische Leistungen erbracht. Im häuslichen Bereich habe es weiterhin Probleme gegeben. Deshalb habe das Jugendamt zwar die Übernahme der Schulkosten eingestellt, dafür aber entsprechende häusliche Unterstützung pädagogischer Art angeboten, was dem Beurteilungsspielraum des Jugendhilfeträgers unterliege. Die gerichtliche Überprüfbarkeit der Auswahl der richtigen Hilfeart beschränke sich darauf, ob die Entscheidung für die jeweilige Hilfeart fachlich zumindest vertretbar sei. Dabei bestehe auch bei einer Änderung der Hilfeart ein fachlicher „Beurteilungsspielraum“ des Jugendamtes. Diesen habe das Verwaltungsgericht auf Null reduziert. Die angebotene ambulante Hilfe – in Form einer sozialen Gruppenarbeit – sei jedoch nicht angenommen worden. Eine Rückführung und eine soziale Eingliederung in die Regelschule in ... wären möglich gewesen, wenn die Mutter diesen Schritt unterstützt und dazu motiviert hätte. Die Stellungnahme der die Hilfe erbringenden Einrichtung sei kritisch zu sehen, weil nicht davon auszugehen sei, dass der Lehrer einer Privatschule gegen den Wunsch der Eltern eine Rückführung an eine Regelschule anstrebe. Dass der Schulleiter der Regelschule den Kläger nur wegen der Auffüllung seiner Klassen aufnehmen wolle, sei eine Unterstellung. Die Richtigkeit der Einschätzung des Kreisjugendamtes werde durch die weitere Entwicklung bestätigt, denn im Frühjahr 2006 sei die häusliche Situation trotz des Besuchs der ...-Schule eskaliert und der Kläger habe stationär untergebracht werden müssen. Der vorhandene erzieherisch pädagogische Bedarf sei durch entsprechende Jugendhilfeeinrichtungen abzudecken, ein Bedarf für den Besuch einer „E-Schule“ sei nicht mehr gegeben.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 29. Juni 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Durch seine Bevollmächtigten lässt er zur Erwiderung im Wesentlichen vortragen: Die Voraussetzungen nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII hätten auch noch zu Beginn des Schuljahres 2005/2006 vorgelegen. Dem Gutachten des Klinikums Nürnberg vom 8. September 2004 sei kein Hinweis zu entnehmen, ab welchem Zeitpunkt bei ihm die vorgenannten Voraussetzungen entfallen würden. Ein neues Gutachten habe der Beklagte nicht eingeholt. Der weitere Verlauf der Entwicklung des Klägers zeige aber offensichtlich, dass nach wie vor ein Bedarf bestanden habe. Dies komme auch im Jugendhilfebericht vom 18. April 2005 und dem Entwicklungsbericht des Klassenleiters vom 15. Juni 2005 zum Ausdruck. Das Ergebnis der Entscheidungskonferenzen vom Mai und Juni 2005 sei nicht nachvollziehbar. Die teilnehmenden Personen hätten ihn nie persönlich kennen gelernt. Die Begründung des Beklagten, positive Verhaltensänderungen seien zwar im schulischen, nicht aber im häuslichen Bereich feststellbar gewesen, entbehre jeder Grundlage. Der Kläger zeige „unstreitig psychiatrische Auffälligkeiten“, er könne sich nirgendwo integrieren. Er sei zunächst in ... untergebracht gewesen, dann in ..., danach in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in ..., seit den Osterferien (2007) sei er in …. Die dortigen geschulten Erzieher seien mit ihm überfordert. Von der Mutter erwarte man aber, dass sie diese Probleme in den Griff bekomme. Aus dem Jugendhilfebericht vom 18. April 2005 ergebe sich, dass die Mutter grundsätzlich kompetent sei, ihre Kinder zu erziehen. Es sei reine Spekulation, dass die Eingliederung an der Regelschule an der ablehnenden Haltung der Mutter gescheitert sei. Die dortige Einschulung hätte für den Kläger und die Familie Vorteile gehabt, auch wäre es für die Mutter finanziell einfacher gewesen. Es sei eine Unterstellung, dass eine Privatschule immer eine Rückführung an die Regelschule ablehne. Die ...-Schule verzeichne eine große Nachfrage und es bestehe eine lange Warteliste. Der Kläger benötige eine Beschulung in einer Schule zur Erziehungshilfe. Das habe offensichtlich auch das Jugendamt so gesehen. Durch die Maßnahmen in der ...-Schule habe sich sein Verhalten deutlich gebessert gehabt, erst als im Gespräch gewesen sei, er solle die Schule verlassen, seien die alten Verhaltensmuster wieder aufgekommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in beiden Rechtszügen sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen. Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung vom 30. Januar 2008 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Gründe

Die statthafte und vom Senat durch Beschluss vom 1. März 2007 zugelassene Berufung des Beklagte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 29. Juni 2006 ist zulässig, aber nur zum Teil begründet.

Die Berufung ist begründet, soweit das Verwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet hat, dem Kläger ab Beginn des Schuljahres 2005/2006 bis 23. April 2006 Jugendhilfe in Form der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII durch Übernahme der Schulkosten für den Besuch der privaten ...-Schule zu gewähren. Soweit das Verwaltungsgericht den Bescheid des Beklagten vom 15. Juni 2005 aufgehoben hat, ist die Berufung zurückzuweisen, weil sie unbegründet ist. Der Beklagte ist zu verpflichten, den Antrag des Klägers vom 12. Mai 2005 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass der Bescheid des Beklagten vom 15. Juni 2005 rechtswidrig ist. Er beruht auf einer unzureichenden Feststellung hinsichtlich des Vorliegens einer Teilhabebeeinträchtigung nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII i. d. Fassung vom 19. Juni 2001 (BGBl I S. 1046 = F. 2001).

Voraussetzung für die Bewilligung einer Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche ist nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII F. 2001 und auch den folgenden Fassungen, dass die seelische Gesundheit des Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Zu diesen beiden Tatbestandsvoraussetzungen des § 35 a Abs. 1 SGB VIII kommt hinzu, dass die hilfebedürftige Person so rechtzeitig einen Antrag auf Hilfegewährung stellt, dass der Jugendhilfeträger zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist (vgl. dazu BVerwG vom 28.9.2000 BVerwGE 112, 98).

Der Antrag auf Weitergewährung der bereits vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Juli 2005 (Schuljahresende 2004/2005) erbrachten Eingliederungsmaßnahme (Übernahme der Kosten für den Schulbesuch der ...-Schule) wurde rechtzeitig am 12. Mai 2005 gestellt. Das Vorliegen der Voraussetzungen der § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII (Abweichen von dem für sein Lebensalter typischen Zustand) ist nach der Berufungsbegründung nicht strittig.

Es fehlt aber an der ausreichenden Tatsachenermittlung des Jugendamtes zur Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung gemäß § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII, die Grundlage für die Auswahl der notwendigen und geeigneten Hilfeart im Einzelfall (§ 35 a Abs. 2 SGB VIII) ist. Bei der letztgenannten Auswahlentscheidung über die Hilfeart handelt es sich - worauf der Beklagte zutreffend hinweist - um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung der Antragsteller und mehrerer Fachkräfte, das nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt und das auch nicht durch eine gerichtliche Bewertung - auch mit Hilfe von Sachverständigen – ersetzt werden kann. Die vom Jugendamt vorgeschlagene Maßnahme muss als angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation geeignet sein, d. h., dieses Ziel erreichen können (BVerwG vom 24.6.1999 BVerwGE 109, 155/167). Vorauszugehen ist aber - was der Beklagte verkennt - eine ordnungsgemäße Entscheidung über die Teilhabeberechtigung, die der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt (so Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/KJHG, 3. Aufl. 2007, § 35 a RdNr. 14; ebenso OVG Rheinland/Pfalz vom 26.3.2007 FEVS 58, 477). Für die Feststellung einer kausalen Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bedarf es einer fachlichen Beurteilung, die den Fachkräften des Jugendamtes obliegt, an der aber auch gegebenenfalls andere Stellen und insbesondere die betroffenen Kinder oder Jugendlichen selbst bzw. deren Eltern zu beteiligen sind (so Fischer, a.a.O., § 35 a RdNr. 13; Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl.2006, § 35 a RdNr. 25). Die Fachkräfte des Jugendamtes haben die unterschiedlichen Informationen, beispielsweise aus dem Elternhaus, aus der Schule oder aus Einrichtungen, die der Betroffene bereits besucht, von Ärzten oder Fachkräften außerhalb des Jugendamtes, insbesondere wenn sie den Betroffenen bereits betreuen oder betreut haben, zu bündeln und eine nachvollziehbare Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung vorzunehmen (vgl. dazu Wiesner, a.a.O., § 35 a RdNr. 25). Es gilt der Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X (so Münder u.a. FK-SGB VIII, 5. Aufl. 2006, § 35 a RdNr. 33) mit der Folge, dass das Jugendamt alle wesentlichen entscheidungserheblichen Tatsachen zu ermitteln hat. Erst auf dieser Grundlage kann der Jugendhilfeträger den tatsächlichen Hilfebedarf des Betroffenen - wiederum durch Fachkräfte - feststellen und hieraus – nunmehr gerichtlich eingeschränkt überprüfbar – auf die notwendigen und geeigneten Hilfemaßnahmen schließen.

Vor diesem rechtlichen Hindergrund hält der angefochtene Bescheid vom 15. Juni 2005 einer Überprüfung nicht Stand. Die Begründung dieses Bescheides und die Berufungsbegründung widersprechen sich hinsichtlich des Vorliegens einer Teilhabebeeinträchtigung. Während der Bescheid ein „signifikantes soziales Integrationsrisiko“ verneint, geht die Berufungsbegründung davon aus, dass das Jugendamt keine Änderung der medizinischen Einschätzung (ADHS, emotionale Störung) gesehen habe. Deshalb sei kein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten erforderlich gewesen. Lediglich die Hilfeart sei im Hinblick auf den „tatsächlichen jugendhilferechtlichen Förderbedarf“ des Klägers zu ändern gewesen, weshalb entsprechende häusliche Unterstützung pädagogischer Art angeboten worden sei. Letzteres setzt aber die Feststellung des Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung voraus.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass das Gutachten des Klinikums Nürnberg vom 8. September 2004, das Grundlage für die Kostenübernahme für den Besuch der ...-Schule im Zeitraum vom 1. Mai 2004 bis 1. Juli 2005 war, nicht durch neuere, gleichwertige Erkenntnisse widerlegt war. In diesem Gutachten wird von einer Abweichung der seelischen Gesundheit des Klägers vom alterstypischen Zustand für wahrscheinlich länger als sechs Monate ausgegangen. Es hätte daher nahegelegen, vor einer Ablehnung der Weitergewährung ein neues Gutachten einzuholen. Dies war nicht deshalb entbehrlich, weil der Leiter der Hauptschule in ... in einer Stellungnahme vom Mai 2005 eine Rückführung des Klägers an die Regelschule befürwortet hat. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass der Schulleiter insoweit die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung einer Teilhabebeeinträchtigung besitzt. Seine Ausführungen werden zudem von der Leiterin der ...-Schule bestritten. Sie gibt an, mit dem Schulleiter nicht über den Fall des Klägers gesprochen zu haben.

Somit bleiben als weitere Entscheidungsgrundlagen des Jugendamtes der Entwicklungsbericht der ...-Schule vom 21. Februar 2005 und das Zwischenzeugnis vom 18. Februar 2005. Darin wird aber der weitere Besuch einer Schule zur Erziehungshilfe für notwendig erachtet. Auch der Jugendhilfebericht vom 18. April 2005 geht von einem Fortbestehen eines sozialen Integrationsrisikos aus und lehnt eine Rückführung des Klägers an die Regelschule mit der Begründung ab, sein Zustand sei dazu noch nicht hinreichend stabilisiert. Den Hinweis der Beratungsstelle für Kinder mit besonderem Förderbedarf in Nürnberg vom 25. April 2005, wonach die Frage der „weiteren Beschulung in vertrauensvoller Kooperation und zum Wohle des Schülers mit der ...-Schule zu klären“ sei, hat das Jugendamt erkennbar nicht berücksichtigt. Auch hätte es nahegelegen, vor der maßgeblichen Entscheidungskonferenz einen aktuellen Entwicklungsbericht der vorgenannten Schule anzufordern.

Die Beteiligung der Eltern - hier der Mutter - und des Jugendlichen selbst war ebenfalls völlig unzureichend. Ein klärendes Gespräch mit der Mutter hat - jedenfalls nach dem Inhalt der vorgelegten Akte - nie stattgefunden. Sie wurde lediglich nach den Entscheidungskonferenzen zur beabsichtigten Ablehnung der Weitergewährung der Hilfe angehört. Mit den von ihr vorgetragenen Argumenten hat sich das Jugendamt nicht nachvollziehbar auseinandergesetzt. Die Mutter hat in ihrem Schreiben vom 31. Mai 2005 auf das an der ...-Schule durchgeführte Elterntraining hingewiesen sowie auf den Umstand, dass ein Schulwechsel auf die Regelschule den Abbruch der bisherigen positive Entwicklung des Klägers zur Folge haben könnte. Dies steht im Einklang mit den Stellungnahmen der Schule und dem Jugendhilfebericht.

Es fehlt somit an einer qualifizierten Feststellung für das Schuljahr 2005/2006, in welcher Intensität nach Breite, Tiefe und Dauer eine seelische Störung beim Kläger vorlag und in welchen Bereichen bei ihm die Ausübung sozialer Funktionen und Rollen beeinträchtigt war (vgl. dazu Fischer, a.a.O., § 35 a RdNr. 11). Diese Feststellung ist die notwendige Grundlage für die gerichtlich nur noch eingeschränkt überprüfbare Auswahlentscheidung auf der nächsten Stufe, welche Hilfeart im Einzelfall notwendig und geeignet ist. Deshalb ist die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides durch das Verwaltungsgericht nicht zu beanstanden und die Berufung insoweit zurückzuweisen.

Die Berufung ist jedoch begründet, soweit das Verwaltungsgericht den Beklagten zur Übernahme der begehrten Kosten für den Schulbesuch im Schuljahr 2005/2006 (bis 23. April 2006) verpflichtet hat. Erst nach Feststellung einer Teilhabeberechtigung kann - die allein durch die Fachkräfte des Jugendamtes zu treffende – Auswahlentscheidung über die Hilfe im Einzelfall erfolgen, die der Senat nicht vorwegnehmen kann. Der Senat kann nicht sein Ermessen an die Stelle des jugendamtlichen Ermessens setzen und selbst über die notwendige und geeignete Hilfe entscheiden (Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, 37. EL, Stand: Juni 2007, § 36 RdNr. 59). Die Sache ist daher nicht spruchreif im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO (vgl. dazu Jörg Schmidt in Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 113 RdNrn. 38, 42). Der Beklagte war deshalb lediglich zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats für das Schuljahr 2005/2006 zu bescheiden (dazu auch BVerwG vom 20.7.2000 BVerwGE 111, 328).

Das aufgezeigte Fehlen nachprüfbarer Feststellungen zur Teilhabebeeinträchtigung führt zwar zur Aufhebung des ablehnenden Bescheides für den entsprechenden Zeitraum (vgl. Kunkel a.a.O. § 36 RdNr. 3), aber nicht dazu, dass der Beklagte in jedem Fall jedwede vom Kläger ausgewählt Maßnahme durch Übernahme der Kosten zu finanzieren hat. Eine solche Rechtsfolge ergibt sich weder aus der Rechsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Übernahme der Kosten selbst beschaffter Hilfemaßnahmen (vgl. dazu BVerwG vom 11.8.2005 BVerwGE 124, 83) noch aus dem am 1. Oktober 2005 in Kraft getretenen § 36 a Abs. 3 SGB VIII (siehe dazu BT-Drs. 15/3676 vom 8.9.2004 S. 26).

Die vom Verwaltungsgericht angenommenen Ermessensreduzierung auf Null, bei der der Senat die Sache spruchreif machen und anstelle des Beklagten über die Hilfeart entscheiden könnte (dazu Jörg Schmidt, a. a. O.), ist nicht gegeben. Denn die Übernahme der Schulkosten durch den Beklagten - hierauf schränkt sich die Entscheidungsmöglichkeit des Beklagten nun ein (siehe dazu BVerwG vom 20.7.2000 BVerwGE 111, 328) - kann für den maßgeblichen Zeitraum ohne eine qualifizierte Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung nicht als fachlich vertretbar (vgl. dazu § 36 a Abs. 3 SGB VIII) angesehen werden, um den gesamten Hilfebedarf des Klägers vollständig abzudecken.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.