OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.10.2010 - 12 B 1190/10
Fundstelle
openJur 2012, 88431
  • Rkr:
Tenor

Der angefochtene Beschluss wird unter Zurückweisung der Beschwerde im Übrigen geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 4. Oktober 2010 vorläufig Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII in Form einer außerschulischen Förderung wegen drohender seelischer Erkrankung zu gewähren. Für den vorausgegangenen Zeitraum wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Die erstinstanzlichen Kosten des gerichtskosten-freien Verfahrens trägt der Antragsteller. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen der Antragsteller und der Antragsgegner je zur Hälfte.

Gründe

Die Beschwerde hat Erfolg, soweit mit ihr vorläufige Hilfe für die Zukunft erstrebt wird.

Für den zurückliegenden Zeitraum fehlt es - ungeachtet der überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Beschluss zu einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache noch vor Stellung einer fundierten Prognose über die Wirksamkeit schulischer Fördermaßnahmen - jedenfalls aufgrund Zeitablaufs am Anordnungsgrund.

Eine Begrenzung des Anordnungszeitraumes, wie er aus dem erstinstanzlich gestellten Antrag hervorgeht, auf das Schuljahr 2009/2010 ist durch die Empfehlungen des Antragsgegners in seinem Ablehnungsbescheid vom 18. Februar 2010 und des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Beschluss, zur Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen einen neuen Antrag zu stellen, nicht rechtswirksam erfolgt, zumal der Antragsteller ohnehin bereits am 19. Juli 2010 (Unterrichtsende des Schuljahres 2009/2010) beim Antragsgegner einen erneuten Förderungsantrag gestellt hat, dessen bisherige Nichtbescheidung nicht ihm anzulasten ist, sondern in den Risikobereich der Behörden fällt.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist auf der Grundlage der - durch das Beschwerdevorbringen und das Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 27. April 2010 ergänzten - Antragsbegründung für den Regelungszeitraum zu bejahen. Aus dem Vortrag des Antragstellers ergibt sich insoweit in Verbindung mit dem Akteninhalt die erforderliche Glaubhaftmachung sowohl eines Anordnungsanspruchs als auch eines Anordnungsgrundes (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO, § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X).

Der Senat sieht es mit der für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erreichbaren Sicherheit als gegeben an, dass der Antragsteller gegen den Antragsgegner gemäß § 35a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 SGB VIII i.V.m. §§ 53, 54 SGB XII, § 12 EinglHVO einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine außerschulische Förderung der begehrten Art hat.

Insoweit setzt § 35a Abs. 1 SGB VIII voraus, dass

die seelische Gesundheit des Betreffenden mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht, und

daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Bei kumulativem Vorliegen beider Voraussetzungen geht das Gesetz von einer "seelischen Behinderung" aus (vgl. § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

Mit Bescheinigung vom 1. Oktober 2009 hat das T. Zentrum des N. -I. E. u.a. durch einen Diplom-Psychologen in diesem Sinne bescheinigt, dass beim Antragsteller eine ausgeprägte Anpassungsstörung (ICD 10: F 43.2) aufgrund einer LRS (ICD 10: F 81.0) vorliegt. Dahingehend soll nach Angaben des Antragsgegners eine erneute fachärztliche Stellungnahme (vgl. § 35a Abs. 1a SGB VIII) vorliegen. Eine Lese-/Rechtschreibstörung oder Legasthenie stellt als solche zwar noch keine seelische Störung dar, vielmehr muss infolge der Legasthenie eine sekundäre seelische Störung eingetreten sein, die nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt.

Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 12. November 2008 - 12 A 2551/08 -, m.w.N.

Davon ist hier mit Blick auf die attestierte Anpassungsstörung aber in wohlwollender Auslegung auszugehen. Bloße Entwicklungsstörungen (ICD 10: F 43) können als solche zwar nicht ohne weitere Feststellungen zur sozialen Integration im Einzelfall dann auch als Teilnahmebeeinträchtigungen im Sinne des § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII angesehen werden.

Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2008 12 A 3841/06 -.

Vor dem Hintergrund, dass der Antragsgegner selbst das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung unter Abwägung der Erscheinungsformen des beim Antragsteller zutage tretenden sozialen Verhaltens nicht ernsthaft in Abrede gestellt hat, lässt es der Senat - vorbehaltlich einer näheren Prüfung im Hauptsacheverfahren - hier aber ausreichen, wenn das T. Zentrum des N. -I. E. dem Antragsteller bescheinigt hat, die Anpassungsstörung beeinträchtige sein Selbstwertgefühl und seine Fähigkeiten soziale Kompetenzen auszubauen, prognostisch sei eine auf Versagensängsten beruhende Schulphobie nicht auszuschließen und ihm drohe eine seelische Behinderung, da die altersgerechte Teilhabe an der Gesellschaft für mindestens sechs Monate erheblich gefährdet sei. Auch im Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 27. April 2010 beschreiben der Sonderpädagoge und der Klassenlehrer Verhaltensweisen des Antragstellers im Umgang mit seinen Mitschülern und im Unterricht, die über bloße Schulprobleme oder Schulängste, die andere Kinder teilen, hinauszugehen scheinen.

Vgl. dazu, dass bei Problemen in der Schule, wie sie auch andere Kinder haben, z. B. bei Gehemmtheit, Versagensängsten oder Schulunlust, eine Teilhabegefährdung oder Beeinträchtigung noch nicht anzunehmen ist, etwa: BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487.

Auch wenn man hier deshalb mit hinreichender Wahrscheinlichkeit annehmen darf, dass die Beeinträchtigung des Klägers in seiner psychosozialen Funktionstüchtigkeit bereits oberhalb der Erheblichkeitswelle liegt, trifft es indes zu, dass sich der seelisch Behinderte zunächst auf die vorrangige Verpflichtung des Schulwesens zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lern- und Leistungsstörungen und entsprechende seiner seelischen Behinderung entgegen wirkende - Schulangebote verweisen lassen muss.

Vgl. zum Vorrang einer Förderung durch die Schule etwa: OVG NRW, Urteil vom 4. Februar 2009 - 12 A 255/08 -, m.w.N.; Meysen, in: FK-SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 35a Rn. 62.

Die Jugendhilfe kann jedoch auf eine schulische Förderung nur verweisen, wenn diese tatsächlich bedarfsgerecht zur Verfügung steht; ansonsten wird die nachrangige Leistungspflicht nach dem SGB VIII aktualisiert.

Vgl. etwa Meysen, a.a.O., § 35a Rn. 41.

Hierfür fehlt eine wirksame schulrechtliche Entscheidung über einen sonderpädagogischen Förderbedarf und den Förderort. Eine Möglichkeit der Sonderbeschulung kann der Antragsgegner dem Kläger allerdings insoweit nicht vorhalten.

Vgl. zu diesem Erfordernis etwa: OVG NRW, Urteil vom 22. März 2006 - 12 A 806/03 -, juris, m.w.N.

Vielmehr kommt das Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 27. April 2010 zu dem Ergebnis, dass beim Antragsteller kein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt.

Höchstwahrscheinlich durfte der - auf das Schreiben der Städtischen Realschule H. vom 14. April 2010 gestützten - Behauptung des Antragstellers, von Seiten dieser - von ihm aktuell besuchten - Regelschule werde ihm gerade keine ausreichende Förderung gewährt, bis zum Ende des Schuljahres 2009/2010 wohl zu Recht noch entgegen gehalten werden, es sei - um eine fundierte Prognose über die Wirksamkeit der schulischen Förderung stellen zu können - zunächst deren Erfolg zu prüfen. Nach Ende des Schuljahres 2009/2010 und hinreichender Zeit zur Auswertung der durch die schulischen Maßnahmen bis dahin erreichten Ergebnisse greift dieser Einwand hingegen derzeit nicht mehr. Es ist Sache des Antragsgegners, in angemessener Zeit nach Ende des Erprobungszeitraumes eine Analyse dazu zu treffen, inwieweit die Fördermöglichkeiten der Schule ausgeschöpft sind. Da dies bisher nicht geschehen ist, kann sich der Antragsteller - mangels anderer ihm zur Verfügung stehender Nachweismöglichkeiten - auf das Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 27. April 2010 berufen, nach dem der bei ihm festzustellende große Förderbedarf nur außerschulisch befriedigt werden kann.

Vgl. zur Eingliederungshilfe in Form der Therapie wegen Legasthenie, Dyslexie oder Dyskalkulie: Meysen, a.a.O., § 35a Rn. 62 a.E.

Erhält der Antragsteller nicht bald die nach summarischer Prüfung erforderliche außerschulische Förderung, droht erfahrungsgemäß mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Verfestigung oder Verschlimmerung der zumindest drohenden seelischen Behinderung, so dass auch vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes ausgegangen werden muss.

Gewinnt der Antragsgegner andere Erkenntnisse zu den Anspruchsvoraussetzungen, steht es ihm offen, in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO beim Verwaltungsgericht eine Abänderung der einstweiligen Anordnung zu versuchen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.

Der Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.