OLG Köln, Beschluss vom 20.04.2012 - 25 WF 64/12
Fundstelle
openJur 2012, 86107
  • Rkr:
Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 25. Februar 2012 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Leverkusen vom 7. Februar 2012 (31 F 384/11) wie folgt abgeändert und neu gefasst:

Der Antragstellerin wird mit Wirkung ab Antragstellung ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. I, L., bewilligt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin ist die am x. März 1992 geborene, im Haushalt der Mutter lebende Tochter des Antragsgegners. Sie hat die Realschule im Schuljahr 2009/2010 ohne Abschluss verlassen und besucht seit dem 7. September 2011 das Städtische Berufskolleg für Technik, Hauswirtschaft und Sozialpädagogik in M.; dort leistet sie ein Berufsorientierungsjahr in der Fachrichtung Ernährung und Hauswirtschaft, Körperpflege, Soziales ab. Der Antragsgegner bezieht Renteneinkünfte in Höhe von jedenfalls 1.247,87 €. Die Mutter der Antragstellerin ist mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden beschäftigt und verdient brutto 723,05 €.

Die Antragstellerin beabsichtigt, den Antragsgegner auf Unterhalt für die Zeit des Berufsorientierungsjahres in Anspruch zu nehmen und begehrt hierfür Verfahrenskostenhilfe. Sie vertritt die Auffassung, sie befinde sich in der allgemeinen Schulausbildung im Sinne von § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB.  Der Selbstbehalt des Antragsgegners sei daher mit 770,-- € anzusetzen, weshalb er für den geforderten Unterhaltsbetrag (Mindestunterhalt) leistungsfähig sei.

Der Antragsgegner tritt dem insbesondere im Hinblick auf die Frage der allgemeinen Schulausbildung entgegen. Darüber hinaus meint er, ein eventuell bestehender Unterhaltsanspruch sei verwirkt. Jedenfalls aber sei die Kindesmutter gleichfalls zum Barunterhalt heranzuziehen.

Das Amtsgericht - Familiengericht -, auf dessen Entscheidung wegen aller Einzelheiten Bezug genommen wird, hat der Antragstellerin die nachgesuchte Verfahrenskostenhilfe verweigert und zur Begründung ausgeführt, die Teilnahme am Berufsorientierungsjahr erfülle nicht die Anforderungen, die an den Begriff der allgemeinen Schulausbildung im Sinne des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB zu stellen sei.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Antragstellerin, der das Amtsgericht - Familiengericht - mit Beschluss vom 8. März 2012 nicht abgeholfen hat.

Die Beteiligten hatten im Beschwerdeverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die gemäß §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, 127 Abs. 2 S. 2, 567 ff. ZPO an sich statthafte, rechtzeitig innerhalb der Frist des § 127 Abs. 3 S. 3 ZPO eingelegte und damit insgesamt zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Verfahrenskostenhilfe versagenden Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Leverkusen vom 7. Februar 2012 (31 F 384/11) hat auch in der Sache Erfolg. Das Amtsgericht hat der Antragstellerin die begehrte Verfahrenskostenhilfe mit Erwägungen verweigert, die der Senat nicht zu teilen vermag.

1.

Die unverheiratete, volljährige, im Haushalt ihrer Mutter lebende Antragstellerin befindet sich - im Gegensatz zur Rechtsmeinung des Amtsgerichts - noch in allgemeiner Schulausbildung im Sinne von § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB.

Im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend geht das Amtsgericht allerdings davon aus, dass der Begriff der „allgemeinen Schulausbildung“ in § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB in drei Richtungen einzugrenzen ist, nämlich nach dem Ausbildungsziel, der zeitlichen Beanspruchung des Schülers und der Organisationsstruktur der Schule. Ziel des Schulbesuchs muss der Erwerb eines allgemeinen Schulabschlusses als Zugangsvoraussetzung für die Aufnahme einer Berufsausbildung oder den Besuch einer Hochschule oder Fachschule sein. Diese Voraussetzung ist beim Besuch der Hauptschule, der Gesamtschule, der Realschule, des Gymnasiums und der Fachoberschule immer erfüllt. Anders zu beurteilen ist der Besuch einer Schule, die neben allgemeinen Ausbildungsinhalten bereits eine auf ein konkretes Berufsbild bezogene Ausbildung vermittelt. Auf die Rechtsform der Schule kommt es dagegen nicht an. Einer Schulausbildung steht es daher gleich, wenn ein Kind, ohne einen Beruf auszuüben, allgemeinbildenden Schulunterricht in Form von Privat- und Abendkursen erhält, der diesem Ziel dient, eine staatlich anerkannte allgemeine Schulabschlussprüfung abzulegen (BGH FamRZ 2001, 1068 - zitiert nach Juris; SenE v. 17.05.2002 - 25 UF 269/01 = FamRZ 2003, 179 [L] - zitiert nach Juris; Wendl/Dose-Klinkhammer, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 8. Auflage 2011, § 2 Rz. 584). Entscheidendes Abgrenzungskriterium ist danach, ob die Ausbildung bereits auf eine bestimmte Berufstätigkeit vorbereitet, oder ob dem Absolventen nach Durchlaufen der Ausbildung und Erwerb des Abschlusses noch mehrere Berufsfelder offen stehen.

Gemessen hieran ist das von der Antragstellerin absolvierte Berufsorientierungsjahr als „allgemeine Schulausbildung“ im Sinne von § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB anzusprechen. Ausweislich einer Information des Schulministeriums NRW (www.berufsbildung.nrw.de) dient das Berufsorientierungsjahr der Vorbereitung auf die Aufnahme einer Berufsausbildung und vermittelt Kenntnisse und Fertigkeiten aus mehreren Berufsfeldern. Der Erwerb des Hauptschulabschlusses wird ermöglicht. Die Schülerinnen und Schüler, die - wie hier die Antragstellerin - nicht in einem Berufsausbildungsverhältnis stehen, erhalten ein Abschlusszeugnis, wenn sie die Leistungsanforderungen erfüllt haben. Mit dem Abschlusszeugnis erwerben die Schülerinnen und Schüler (scil.: automatisch) den Hauptschulabschluss, wenn sie in den Fächern Deutsch/Kommunikation, Politik/Gesellschaftslehre, Mathematik sowie in einem der Fächer Naturwissenschaft oder Englisch mindestens ausreichende Leistungen erzielt und eine Durchschnittsnote von mindestens 4,0 in allen Fächern der Stundentafel erreicht haben. Hieraus wird deutlich, dass das  erfolgreiche Durchlaufen des Berufsorientierungsjahres - das angesichts der bislang gezeigten Leistungen der Antragstellerin durchaus erwartet werden darf - die Antragstellerin noch nicht konkret auf ein bestimmtes Berufsziel (hier: aus dem - für sich genommen bereits recht weitgefächerten - Bereich Ernährung und Hauswirtschaft, Körperpflege, Soziales) hin qualifiziert; vielmehr stehen der Antragstellerin nach dem - automatisch mit ausreichenden Leistungen in den genannten Fächern verbundenen - Erwerb des Hauptschulabschlusses weitere, mit den genannten Berufsfeldern u.U. gar nicht in Zusammenhang stehende Ausbildungsberufe oder aber auch eine schulische Weiterqualifizierung offen.

Auch die weiteren von der Rechtsprechung für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der „allgemeinen Berufsausbildung“ im Sinne des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB verlangten Voraussetzungen zur zeitlichen Beanspruchung des Schülers sowie zur Organisationsstruktur der Schule (vgl. BGH und SenE a.a.O.) liegen vor. Die Antragstellerin ist  mit der Schulausbildung ausweislich des vorgelegten Stundenplans 35 Wochen(schul)stunden beschäftigt. Das vorgelegte Halbjahreszeugnis für das Schuljahr 2011/2012 zeigt, dass die Anwesenheit der Antragstellerin regelmäßig kontrolliert wird, der Schulbesuch mithin nicht in ihrem Belieben steht.

2.

Soweit der Antragsgegner sich darauf beruft, der Unterhaltsanspruch sei wegen ihm gegenüber begangener vorsätzlicher  schwerer Verfehlungen der Antragstellerin gemäß § 1611 Abs. 1 BGB verwirkt, gilt Folgendes: Nach der genannten Vorschrift schuldet der Verpflichtete im Falle einer ihm gegenüber begangenen schweren Verfehlung des Berechtigten nur einen der Billigkeit entsprechenden Beitrag zum Unterhalt. Die Verpflichtung fällt (nur dann) ganz weg, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre. Wegen der tiefgreifenden Rechtsfolgen ist die Annahme einer Anspruchsverwirkung nach anerkannter Auffassung auch bei volljährigen Kindern auf besonders schwere Ausnahmefälle zu beschränken, zu deren Feststellung überdies eine auf den jeweiligen Einzelfall bezogene, umfassende Abwägung unter Einbeziehung der Umstände von Trennung und Scheidung der Kindeseltern und der sich hieraus ergebenden Eltern-Kind-Beziehung zu erfolgen hat. Eine vorsätzlich schwere Verfehlung gegen den unterhaltspflichtigen Elternteil kann nur bei einer tiefgreifenden Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Verpflichteten angenommen werden (vgl. OLG Hamm NJW-RR 2006, 509; Wendl/Dose-Klinkhammer, a.a.O., § 2 Rz. 603).

a) Die Antragstellerin hatte zum 1. Oktober 2010 eine Ausbildung begonnen; der Ausbildungsvertrag ist allerdings seitens des Arbeitgebers bereits per 15. Dezember 2010 wieder gekündigt worden. Ausbildungsvergütung hat die Antragstellerin daher nur für diesen - relativ  kurzen - Zeitraum bezogen. In der Rechtsprechung wird aber eine - und dann auch nur teilweise - Verwirkung des Unterhaltsanspruchs lediglich für Fälle längeren verschwiegenen Einkommensbezugs erwogen (OLG Hamm FamRZ 1996, 809; OLG Koblenz FamRZ 1999, 402 - beide zitiert nach Juris: mehr als ein Jahr). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

b) Eine Verwirkung des Ausbildungsunterhalts gemäß § 1611 Abs. 1 BGB kommt aber dadurch in Betracht, dass die Antragstellerin dem Antragsgegner nicht mitteilte, dass sie im Juli 2010 - also nach Eintritt der Volljährigkeit - die Schule abbrach und ihn dadurch veranlasste, weiter an sie Unterhalt zu zahlen, obwohl er hierzu nicht mehr verpflichtet war. Die schwere Verfehlung der Antragstellerin gegenüber ihrem Vater läge dann darin begründet, dass sie diesem einen nicht unerheblichen Schaden durch diese schuldhafte Pflichtverletzung zugefügt hat (vgl. OLG Köln FamRZ 2005, 301 - zitiert nach Juris). Bei pflichtgemäßer Aufklärung des Antragsgegners über den Schulabbruch hätte dieser nach Überzeugung des Senats sicherlich seine Unterhaltszahlungen eingestellt. Hiervon musste auch die Antragstellerin ausgehen, weil sie mit Schreiben des Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners vom 22. April 2010 zur Vorlage von Nachweisen über die Schulausbildung aufgefordert worden war.

Wie vorstehend dargelegt ist aber die Frage, ob und bejahendenfalls in welcher Höhe der Unterhaltsanspruch verwirkt ist, im Wege einer auf den jeweiligen Einzelfall bezogenen, umfassenden Abwägung unter Einbeziehung der Umstände von Trennung und Scheidung der Kindeseltern und der sich hieraus ergebenden Eltern-Kind-Beziehung zu beantworten. Zu den in diese Abwägung einzustellenden tatsächlichen Umständen ist bislang seitens der Beteiligten nicht vorgetragen worden. Es kann vor diesem Hintergrund nicht Aufgabe des Verfahrenskostenhilfeprüfungsverfahrens sein, diese Abwägung vorwegzunehmen. Anderenfalls würde dieses summarische Verfahren an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten (vgl. BVerfG FamRZ 2010, 867 - zitiert nach Juris).

3.

Auch die Kindesmutter ist der Antragstellerin grundsätzlich barunterhaltspflichtig; § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB gilt nicht (Wendl/Dose-Klinkhammer, a.a.O., § 2 Rz. 594). Allerdings ist von ihrem Einkommen regelmäßig ein Sockelbetrag in Höhe (jedenfalls) des notwendigen Selbstbehalts abzuziehen (Wendl/Dose-Klinkhammer, a.a.O., § 2 Rz. 595). Dieser ist angesichts eines Bruttoeinkommens der Kindesmutter in Höhe von 723,05 € unterschritten.

a) Auf fiktives Einkommen der Kindesmutter muss die Antragstellerin sich - entgegen der von dem Antragsgegner geäußerten Rechtsmeinung - nicht verweisen lassen. Sie kann entsprechend dem Rechtsgedanken des § 1607 Abs. 2 BGB allein den leistungsfähigen Elternteil in Anspruch nehmen. Ihr tatsächlich vorhandener Lebensbedarf kann nicht dadurch gedeckt werden, dass sie auf fiktive Einkünfte ihrer Mutter verwiesen wird. Die Gleichsetzung von realen und fiktiven Einkünften im Unterhaltsverhältnis rechtfertigt sich aus der Erwägung, dass der unter Verletzung seiner Erwerbsobliegenheit handelnde Unterhaltsgläubiger oder -schuldner sich so behandeln lassen muss, als erziele er die ihm möglichen Einkünfte wirklich. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um eine Obliegenheitsverletzung der unterhaltsberechtigten Antragstellerin sondern um die eines Dritten, ihrer Mutter, deren Verhalten ihr nicht zurechenbar ist (OLG Nürnberg MDR 2000, 34; s. weiter Büttner/Niepmann/Schwamb, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 11. Auflage 2010, Rz. 180; Wendl/Dose-Klinkhammer, a.a.O., § 2 Rz. 435, 567).

b) Die Frage, ob und bejahendenfalls in welcher Größenordnung eine Herabsetzung dieses Selbstbehalts der Kindesmutter mit Rücksicht auf einen von ihrem neuen Ehemann zur Verfügung gestellten, den Selbstbehalt ganz oder teilweise deckenden Familienunterhalt angesichts des Umstands in Betracht kommt, dass die Kindesmutter ihrerseits erwerbstätig ist (hierzu vgl. Wendl/Dose-Klinkhammer, a.a.O., § 2 Rz. 555, 574, 291 ff., 279; s. auch BGH FamRZ 2008, 594 - zitiert nach Juris, dort Tz. 36) stellt eine komplexe Rechtsfrage dar, zu der ggf. noch weiterer tatsächlicher Vortrag der Beteiligten erforderlich ist und die - ebenso wie diejenige der Verwirkung - nicht im Verfahrenskostenhilfeprüfungsverfahren abschließend beurteilt werden kann.