SG Düsseldorf, Urteil vom 01.03.2012 - S 27 R 1870/11
Fundstelle
openJur 2012, 85915
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten streitig.

Der am 00.0.1940 in C geborene Kläger ist Verfolgter des Nationalsozialismus. Am 11.06.1995 beantragte er bei der Claims Conference die Gewährung von Leistungen aus dem Art. 2 Fonds. Er gab an, sich in der Zeit von 1941 bis 1944 im Ghetto Bershad aufgehalten zu haben. Seine Mutter habe ihm – als er das schon verstehen konnte – erzählt, dass sie es sehr schwer mit ihm gehabt hätte. Es habe wenig Nahrung gegeben und sie hätten unter der schweren Kälte gelitten. Im April 1944 seien sie nach Bershad zurückgekehrt, dort sei sein Vater umgekommen. Er habe dann in Bershad gelebt, bis er 1990 nach Israel auswanderte. Die Claims Conference gewährte dem Kläger die beantragten Leistungen.

Am 09.10.2002 beantragte der Kläger erstmals bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente auf Grund von Ghetto-Beitragszeiten. Er machte geltend, er habe sich im Ghetto Bershad aufgehalten. Die Frage nach dem Zeitraum der Beschäftigung beantwortete er mit: 1941 bis 1944, die Frage nach der Art der Beschäftigung ließ er unbeantwortet. Mit Bescheid vom 08.01.2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab. Das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto finde keine Anwendung, wenn das Ghetto auf dem Gebiet des Deutschen Reiches oder eines mit dem ehemaligen Deutschen Reich verbündeten Staates befunden habe. Das gelte aber für das Ghetto, in dem sich der Kläger aufgehalten habe. Das Ghetto Bershad habe sich in Transnistrien befunden, das damals zum rumänischen Staat gehört habe und Rumänien sei mit dem Deutschen Reich verbündet gewesen. Dieser Bescheid wurde dem Kläger am 22.01.2003 bekannt gegeben.

Der Kläger widersprach am 08.01.2005 und die Beklagte wies ihn darauf hin, dass der Widerspruch außerhalb der 3-monatigen Frist eingegangen und deswegen unzulässig sei. Sie sei aber bereit, den Widerspruch als Überprüfungsantrag zu werten und werde das Verfahren von Amts wegen wieder aufnehmen, wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung die Anwendbarkeit des ZRBG für Transnistrien bejahe.

Zwischenzeitlich beantragte der Kläger unter dem 14.11.2007 beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen die Gewährung einer sogenannten Anerkennungsleistung. Er gab an, er habe sich in der Zeit von 1941 bis 1944 im Ghetto Bershad aufgehalten. Sein Verfolgungsschicksal schilderte er wie folgt: "Die Familie lebte in sehr schweren Verhältnisse im Ghetto. Mutter und Bruder arbeiteten hart, der Vater war Partisan und wurde 1944 von deutschen Soldaten durch Erschießung umgebracht." Die Frage, ob er während seines Aufenthaltes im Ghetto gearbeitet habe, beantwortete er mit "Ja" und schilderte dies wie folgt: "Die Mutter arbeitete die ganze Zeit ihres Aufenthaltes im Ghetto." Mit Bescheid vom 22.06.2009 lehnte das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen den Antrag des Klägers ab. Die Gewährung einer Anerkennungsleistung setzte voraus, dass der Antragsteller mit einer gewissen Regelmäßigkeit einer Arbeit nachgegangen sei. Das sei im Falle des Klägers auf Grund seines geringen Lebensalters nicht zutreffend, er sei zum Ende des Ghettoaufenthaltes 3 Jahre und 8 Monate alt gewesen.

Am 02.02.2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut die Überprüfung seines Rentenantrages unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum ZRBG. Er gab an, von November 1941 bis zum 18.03.1944 im Ghetto gearbeitet zu haben. Der Judenrat sei der Arbeitgeber gewesen, zur Art der Arbeit gab er an: "mit meiner Mutter und Bruder Raumreinigung in Kommandatur, Krankenhaus, Gemüsesortieren." In einem weiteren Fragebogen gab er an, von November 1941 bis zum 20.03.1944 folgende Tätigkeiten verrichtet zu haben: "Fußböden waschen/deutsche Kommandatur, Toiletten reinigen, Wasser tragen, Abfall wegtragen, Gemüse sortieren". Er habe hierfür Lebensmittel von der deutschen Armee erhalten. Mit Bescheid vom 01.03.2011 lehnte die Beklagte die Rücknahme ihres Bescheides vom 08.01.2003 ab. Auch unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des BSG zum ZRBG habe der Kläger keinen Rentenanspruch. Ghetto-Beitragszeiten seien nur anzuerkennen, wenn der Verfolgte mit einer gewissen Regelmäßigkeit einer Arbeit nachgegangen sei. Das sei für Verfolgte wie den Kläger, die am Ende der Ghettozeit das vierte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, zu verneinen. Sie wiesen nicht die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für eine derartige Tätigkeit auf.

Der Kläger widersprach, was die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2011 zurückwies.

Mit seiner am 20.06.2011 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt.

Auf die Nachfrage des Gerichts, ob er eine eigene Beschäftigung verrichtet habe und wie er sie ggf. gefunden habe, hat er mitgeteilt, er habe zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder, Jahrgang 1937, in der deutschen Kommandatur den Fußboden gefegt und den Staub entfernt. Diese Arbeit habe auch die Raumreinigung in der Kantine umfasst. Die Arbeit sei ihnen vom Judenrat zugewiesen worden.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 01.03.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2011 zu verpflichten, den Bescheid vom 08.01.2003 zurück zu nehmen und ihm Altersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten von November 1941 bis März 1944 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die getroffene Entscheidung weiterhin für zutreffend. Der Kläger habe erstmals im jetzigen Rentenverfahren eine eigene Beschäftigung behauptet, früher aber immer nur eine Beschäftigung der Mutter und des Bruders geschildert.

Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichts- und von der Beklagten beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Gründe

Das Gericht konnte eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt hatten, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 01.03.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2011 beschwert den Kläger nicht nach § 54 Abs. 2 SGG. Diese Bescheide sind rechtmäßig, weil die Beklagte es zu Recht abgelehnt hat, dem Kläger unter Rücknahme des Bescheides vom 08.01.2003 Altersrente zu gewähren. Dies folgt aus § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist ein bindend gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Für die Beantwortung der unrichtigen Rechtsanwendung, also der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, ist auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides abzustellen, jedoch aus heutiger Sicht (sog. "geläuterte Rechtsauffassung", Kasseler Kommentar-Steinwedel, § 44 SGB X Rn. 38 m.w.N.). Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 08.01.2003 nicht erfüllt. Die Beklagte hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, dem Kläger (Regel-)Altersrente aus der deutschen Rentenversicherung zu gewähren. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Regelaltersrente sind nicht erfüllt. Nach § 35 Satz 1 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Regelaltersrente, wenn sie die Regelaltersgrenze erreicht und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die allgemeine Wartezeit beträgt nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI 5 Jahre; hierauf sind nach § 55 SGB VI u.a. Beitragszeiten anrechenbar, auch solche nach dem ZRBG, die hier einzig in Betracht kommen. Der Kläger verfügt indes über keine Beitragszeiten nach dem ZRBG. Nach dessen § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 gilt das Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist und gegen Entgelt ausgeübt wurde. Dies muss nach § 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) glaubhaft sein, was dann zutrifft, wenn das Vorliegen einer Tatsache nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Das ZRBG erfasst insoweit zunächst jegliche Beschäftigung, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, die Erreichung eines Mindestalters ist hierfür nicht erforderlich. Die Beschäftigung muss aber freiwillig ausgeübt worden sein, was zutrifft, wenn der Betroffene nicht zu einer spezifischen Arbeit gezwungen worden ist, sondern – z.B. bei einer Vermittlung durch den Judenrat – das "Ob" oder "Wie" der Arbeit beeinflussen konnte. "Entgelt" ist jegliche Entlohnung für die geleistete Arbeit, ob in Geld oder Naturalien (BSG, Urteile vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R, B 13 R 85/08 R, B 13 R 139/08 R und Urteile vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R und B 5 R 66/08 R).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält es die Kammer nicht für glaubhaft, dass der Kläger im Ghetto Bershad in der Zeit von November 1941 bis März 1944 einer Ghetto-Beschäftigung nachgegangen ist. Wie die Beklagte zu Recht entschieden hat, spricht dagegen das geringe Lebensalter des Klägers, insbesondere zu Beginn der behaupteten Beschäftigung. Zu diesem Zeitpunkt (November 1941) war der Kläger gerade einmal 16 Monate alt. Er wies insoweit ein Alter auf, in dem Kleinkinder üblicherweise gerade das Laufen erlernt haben. Die Kammer hält es für unrealistisch, mit derart gering entwickelten Fähigkeiten eine freiwillige und entgeltliche Beschäftigung verrichten zu können. Das gilt gleichermaßen auch für das Ende der vom Kläger behaupteten Beschäftigung. Im März 1944 war der Kläger 3 ¾ Jahre alt und auch in diesem Alter sind weder die motorischen noch die kognitiven Fähigkeiten so entwickelt, dass die Ausübung einer freiwilligen und entgeltlichen Tätigkeit möglich ist. Die Kammer sieht die jetzige Behauptung des Klägers zur Verrichtung einer eigenen Beschäftigung ferner durch seine vorherige Einlassung gegenüber dem Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen widerlegt. Die dortigen Schilderung, nur seine Mutter und sein drei Jahre älterer Bruder hätten gearbeitet, überzeugt die Kammer unter Berücksichtigung des Vorgenannten mehr.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

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