LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.01.2012 - L 19 AS 1768/11 B
Fundstelle
openJur 2012, 84574
  • Rkr:
Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 29.08.2011 wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für ihren Rechtsstreit um die Gewährung höherer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 09.06. bis zum 30.11.2010 ohne Anrechnung der Einkünfte ihres Lebensgefährten Herrn A.

Die mit ihrem Partner in einer seit 1985 bestehenden eheähnlichen Lebensgemeinschaft in einer gemeinsamen Wohnung lebende Klägerin bezieht langjährig Leistungen nach dem SGB II zur Aufstockung nicht bedarfsdeckender Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit als Naturkosmetikerin und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen unter Anrechnung gleichfalls nach eigenen Angaben nicht bedarfsdeckender Einkünfte des Herrn A. aus einer Tätigkeit als freiberuflicher Fotograf.

Herr A. hat mehrfach, zuletzt vor dem hier streitigen Zeitraum am 22.03.2010, auf Leistungen nach dem SGB II verzichtet, weil er eine Beeinträchtigung seiner freiberuflichen Tätigkeit bei Einbeziehung in das Leistungssystem des SGB II mit den sich hieraus ergebenden Verpflichtungen befürchtet.

Mit Bescheid vom 03.08.2010 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II vorläufig für die Zeit vom 09.06. bis 30.11.2010 unter Anrechnung des hälftigen voraussichtlichen Einkommens von Herrn A.

Diese Anrechnung griff die Klägerin mit Widerspruch vom 30.08.2010 dem Grunde und der Höhe nach an. Mit Bescheid vom 17.12.2010 änderte der Beklagte den Bescheid vom 03.08.2010 ab und berücksichtigte nunmehr bei der Errechnung des Bedarfes der Klägerin für den vom Bewilligungszeitraum erfassten Teil des Juni 2010 92,50 EUR sowie für die Monate August bis November 2010 jeweils 172,01 EUR aus dem bereinigten Einkommen von Herrn A.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.12.2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin (im Übrigen) zurück.

Am 02.02.2011 hat die Klägerin die Klage erhoben, für die nun Bewilligung von Prozesskostenhilfe begehrt wird. Sie macht geltend, das Einkommen von Herrn A. könne nicht im Rahmen von § 9 Abs. 2 SGB II angerechnet werden, weil dieses Einkommen nicht einmal zur Deckung des Eigenbedarfes von Herrn A., der kraft eigener Willensentscheidung nicht zum Leistungssystem des SGB II gehöre, ausreiche.

Mit Beschluss vom 29.08.2011, auf dessen ausführliche Begründung Bezug genommen wird, hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht abgelehnt. Die Klägerin hat gegen den am 31.08.2011 zugestellten Beschluss am 30.09.2011 Beschwerde eingelegt.

Die Klägerin nimmt an, das Sozialgericht habe bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmales der hinreichenden Erfolgsaussicht nach § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) die Anforderungen überspannt. Für die Annahme hinreichender Erfolgsaussicht genüge es, wenn eine bislang ungeklärte und klärungsbedürftige Rechtsfrage vorliege. Eine Entscheidung über schwierige Rechtsfragen im auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gerichteten Verfahren sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unzulässig. Die als streitentscheidend anzusehende Frage, ob eine teleologische Reduktion von § 9 Abs. 2 SGB II geboten sei, wenn das Einkommen des nicht leistungsbeziehenden Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft unterhalb des sozialhilferechtlichen Bedarfs liege, sei eine die Annahme hinreichender Erfolgsaussicht begründende Rechtsfrage. Für die teleologische Reduktion von § 9 Abs. 2 SGB II spreche gerade der vorliegende Fall, in dem das Nettoeinkommen des Herrn A. seinen sozialhilferechtlichen Bedarf unterschreite. In diesem Fall sei es nicht gerechtfertigt, einen faktisch nicht zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehenden Betrag bei der Klägerin anspruchsmindernd zu berücksichtigen, wie dies für die Zeit ab dem 01.08.2010 geschehen sei. Auch in der Kommentierung (Hinweis auf Brühl/Schoch in LPK SGB II, 3. Aufl. 2009, § 9 Rn. 37) werde vertreten, dass eine Einkommensanrechnung ausscheide, wenn der einkommenserzielende Partner infolge der Anrechnung bedürftig werde. Die Fallkonstellation, dass nur ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft aufgrund eines Leistungsverzichts des anderen Mitglieds Leistungen beziehe und das Einkommen des nichtleistungsbeziehenden Mitglieds selbst den eigenen Bedarf nicht decke, habe der Gesetzgeber bei der Schaffung von § 9 Abs. 2 SGB II ersichtlich nicht im Blick gehabt. Eine teleologische Reduktion der Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB II in Fallkonstellationen der vorliegenden Art sei daher geboten und im Übrigen ja auch vom Bundessozialgericht im Urteil vom 15.04.2008 - B 14/7b AS 58/06 R mit exakt den gleichen rechtlichen Erwägungen vorgenommen worden, die auch vorliegend für eine teleologische Reduktion von § 9 Abs. 2 SGB II sprächen.

Der Beklagte sieht unter Beachtung des Wortlauts von § 9 Abs. 2 SGB II nach Sinn und Zweck der Vorschrift keinen Raum für eine einschränkende Anwendung und keine Vergleichbarkeit zu dem im Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.04.2008 - B 14/7b AS 58/06 R entschiedenen Fall. Zu weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht die hierfür nach §§ 73a SGG, 114 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht aufweist.

Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die nach eigener Prüfung für zutreffend befundene Begründung des angefochtenen Beschlusses, § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG.

Im Hinblick auf die Beschwerdebegründung ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen:

Entgegen der Beschwerdebegründung wirft die postulierte einschränkende Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB II unter den gegebenen Umständen keine ungeklärte und klärungsbedürftige Rechtsfrage auf, deren Beantwortung dem Hauptsacheverfahren überlassen bleiben müsste und schon unter diesem Gesichtspunkt die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht i.S.v. § 73a SGG, § 114 ZPO rechtfertigt.

Denn die postulierte einschränkende Anwendung der Regeln über die Anrechnung von Einkommen nach § 9 Abs. 2 SGB II kann schon unter Beachtung des Gesetzeszieles des SGB II im Rahmen der hier alleine möglichen summarischen Prüfung als ausgeschlossen angesehen werden, weil die Grenzen richterrechtlicher Rechtsfortbildung (klar) überschritten würden.

Die Bindung der Judikative an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes schließt es aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen. Das Verfassungsrecht verbietet es dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Anlass zur richterlichen Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden müssen oder besonderen Umständen eines Einzelfalles Rechnung getragen werden muss. Weder ist eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation von Verfassungs wegen vorgeschrieben noch stellt der Wortlaut des Gesetzes im Regelfall eine starre Auslegungsgrenze dar. Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört auch die teleologische Reduktion. Zulässig sind jedoch nur Auslegungen, die sich auf erkennbaren gesetzgeberischen Willen stützen können (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.09.2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07). Dieser Maßstab würde zur Überzeugung des Senats klar erkennbar verletzt, wollte man der von der Klägerin geforderten Auslegung folgen.

Methodisch stellt die vorgeschlagene Auslegung keine "teleologische Reduktion", d.h. eine Subsumtion unter vorhandene Tatbestandsmerkmale bei Eingrenzung des Anwendungsspektrums unter Voranstellung des Auslegungsgesichtspunkts von Sinn und Zweck einer Norm dar - auch die Klägerin benennt keinen Auslegungsgesichtspunkt insoweit -, vielmehr eine Rechtsfortbildung durch Einfügung eines bislang nicht vorhandenen subjektiven Tatbestandsmerkmales.

§ 9 Abs. 2 SGB II knüpft seine Rechtsfolgen an das Vorliegen der beiden objektiven Tatbestandselemente "Bedarfsgemeinschaft" und "Einkommen eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft". Ein subjektives Tatbestandsmerkmal enthält die Vorschrift nicht. Insbesondere das Erfordernis einer Willensbildung aller Bedarfsgemeinschaftsmitglieder, dem Leistungssystem des SGB II anzugehören und Leistungen hiernach beziehen zu wollen, findet sich weder innerhalb von § 9 Abs. 2 SGB II noch in der Legaldefinition der Bedarfsgemeinschaft selbst in § 7 Abs. 3 (mit Ausnahme des Einstandswillens der nichtehelichen Partner, der hier allerdings nicht in Frage gestellt wird).

Die postulierte Rechtsfortbildung läuft daher im methodischen Ansatz auf die Einfügung eines bislang nicht vorhandenen Tatbestandsmerkmales hinaus, eine Aufgabe, die nach Vorstehendem funktional und von Verfassungs wegen dem Gesetzgeber vorbehalten bleibt und als Methode richterrechtlicher Rechtsfortbildung zur Überzeugung des Senats regelmäßig und auch hier ausscheidet.

Darüber hinaus verbietet auch gerade der zur Begründung der Beschwerde verwendete Ansatz, d.h. die vorrangige Gewichtung des Gesetzeszweckes, die geforderte einschränkende Auslegung.

Die klar erkennbare Zielsetzung des SGB II, erwerbsfähige Menschen durch "Fördern und Fordern" zur Aufnahme von Tätigkeiten zu befähigen und zu bewegen, aus denen sich existenzsichernde Einkünfte erzielen lassen, soll nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes durch Einbeziehung aller Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft in das System des SGB II verfolgt werden. So heißt es in § 1 Abs. 2 Satz 1 SGB II: "Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können", sowie in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II: "Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen.".

Die Einbeziehung von Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft kraft Gesetzes zusätzlich vom Willensentschluss, dass sie sich auch "fördern und fordern" lassen wollen, abhängig zu machen, verstieße daher gegen das deutlich erkennbare Ziel des SGB II insgesamt.

Die unter mehreren Gesichtspunkten problematische Einbeziehung von Bedarfsgemeinschaftsmitgliedern kraft Gesetzes, die ihren eigenen Bedarf aus eigenen Einkünften decken können, spielt hier keine Rolle, weil Herr A. gerade kein bedarfsdeckendes Einkommen erzielt und die Einkommenssituation daher beider Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft i.S.d. SGB II verbesserungsbedürftig ist.

Bei Beachtung dieses Gesichtspunktes kann sich die Klägerin auch nicht auf eine übertragbare Grundaussage im Urteil des BSG vom 15.04.2008 - B 14/7b AS 58/06 R - stützen. Die dort vorgenommene einschränkende Auslegung des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II, nach der als Gesamtbedarf nur der Bedarf der hilfebedürftigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft anzusehen ist, betrifft die Verteilung des den eigenen Bedarf übersteigenden Einkommens eines aus dem System des SGB II ausgeschlossenen Mitgliedes der Bedarfsgemeinschaft, nicht die im vorliegenden Fall anstehende "Mangelverteilung" (vgl. auch die Anmerkung zum Urteil des BSG vom 15.04.2008 von Berlit in juris PR-SozR 6/2009, Anm. 1).

Der zur Beschwerdebegründung angegebenen Kommentierung (Brühl/Schoch, LPK SGB II, 3 ... Aufl. 2009,§ 9 Rn. 37) ist die nachfolgende Rechtsprechung nicht gefolgt.

Die a.a.O. vertretene Ansicht ist auch unter Hinweis auf die von der Grundaussage abweichende Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 07.11.2006 - B 7 AS 8/06 R - relativiert worden (vgl. nun Thie/Schoch in LPK-SGB II, 4. Aufl., § 9 Rn. 27 f.). Auch dem in der Vorauflage für den Fall sog. "funktionierender Bedarfsgemeinschaften", d.h. von Bedarfsgemeinschaften, in denen Einkünfte tatsächlich verteilt werden, vorgeschlagenen sog. "vertikalen Berechnungsansatz" (vgl. hierzu ausführlich nun Thie/Schoch, a.a.O., Rnrn. 43 f.), ist die Rechtsprechung nicht gefolgt. Sie verwendet vielmehr eine Mischmethode, um sicherzustellen, dass Einkommen minderjähriger Kinder nicht auf die Eltern angerechnet wird (Urteil des BSG vom 12.06.2008 - B 14 AS 55/07 -, Sonnhof in juris PK, 3. Aufl. 2011, § 9 Rn. 58 m.w.N.). Verfassungsrechtliche Bedenken der Vorinstanzen bezüglich der Regelung des § 9 Abs. 2 SBB II, insbesondere hinsichtlich § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II, sind in mehreren obergerichtlichen und höchstrichterlichen Entscheidungen aufgegriffen, letztlich aber nicht geteilt worden (vgl. z.B. Urteil des BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 51/09 R sowie Sonnhof, a.a.O., Rn. 63 m.w.N.).

Berechnungsfehler werden nicht gerügt und sind bei der hier alleine möglichen summarischen Prüfung auch nicht ersichtlich.

Kosten des Beschwerdeverfahrens nach Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind entsprechend § 127 Abs. 4 ZPO nicht zu erstatten.

Dieser Beschluss ist endgültig, § 177 SGG.

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