VG Köln, Urteil vom 24.01.2012 - 14 K 4279/10.A
Fundstelle
openJur 2012, 84132
  • Rkr:
Tenor

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin ihre Klage auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zurückgenommen hat.

Im Óbrigen wird die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 3 ihres Bescheides vom 22. Juni 2010 verpflichtet, festzustellen, dass bezüglich der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.

Die Klägerin trägt 2/3 und die Beklagte 1/3 der Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige, gehört zur Volksgruppe der Paschtunen und ist islamischen Glaubens. Sie reiste nach eigenen Angaben am 01. Februar 2010 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 11. März 2010 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Hierzu gab sie bei ihrer persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 24. März 2010 im Wesentlichen an: Sie stamme aus dem Dorf Shinigam im Distrikt Wata Pur in der afghanischen Provinz Kunar und habe dort bis zu ihrer Ausreise gelebt. Im Alter von 16 Jahren habe sie einen Mann aus ihrem Heimatdorf geheiratet. Dieser habe Lebensmittel an die Amerikaner verkauft, die auf einer nahegelegenen Militärbasis stationiert gewesen seien. Aus diesem Grund sei ihr Ehemann von den Taliban verdächtigt worden, für die Amerikaner als Spitzel oder Spion tätig zu sein. Eines nachts seien Taliban zu ihrem Haus gekommen und hätten ihren Ehemann erschossen. Sie sei zu Nachbarn geflohen. Nachdem auch sie von den Taliban der Spitzeltätigkeit verdächtigt und deswegen bedroht worden sei, sei sie zum einem Geschäftspartner ihres Mannes nach Jalalabad gegangen. Dieser habe mit Hilfe eines Schleppers ihre Flucht über den Flughafen von Peshawar in Pakistan organisiert. Sie sei vier Tage nach der Ermordung ihres Ehemannes ausgereist. Ihre damals 6 monatige Tochter habe sie wegen der gebotenen Eile bei Verwandten im Heimatdorf zurücklassen müssen.

Mit Bescheid vom 22. Juni 2010 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Asyl- und Flüchtlingsanerkennung ab (Ziffer 1 und 2) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 AufenthG sowie nach § 60 Abs. 4 und 5 AufenthG (Ziffer 3 Satz 1 und Satz 2 2. Halbsatz). Zugleich stellte es aber fest, dass zugunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan besteht. Zur Begründung führte es aus, auf das Asylgrundrecht könne sich die Klägerin nicht berufen, weil sie keine nachprüfbaren Unterlagen dafür vorgelegt habe, dass sie ohne Aufenthalt in einem sicheren Drittstaat auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist sei. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor, da die Klägerin eine Vorverfolgung, die an asylrelevante Merkmale anknüpfe, nicht glaubhaft gemacht habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG lägen gleichfalls nicht vor. Zwar könne aufgrund der hohen Zahl der Vorfälle mit Todesopfern in der Herkunftsregion der Klägerin das Vorliegen eines innerstattlichen Konflikts in der Provinz Kunar nicht ausgeschlossen werden. Der dort herrschende Konflikt erreiche aber kein so hohes Niveau, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in die Provinz Kunar erheblichen individuellen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sei. Allerdings liege ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, weil die Klägerin als alleinstehende junge Frau ohne soziales und familiäres Netzwerk im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere auch in dem Großraum Kabul, einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt sei.

Gegen den am 05. Juli 2010 als Einschreiben zur Post gegebenen Bescheid hat die Klägerin am 09. Juli 2010 Klage auf Asyl- und Flüchtlingsanerkennung sowie auf Feststellung von anderweitigen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 Satz 2 AufenthG erhoben. Zur Begründung vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und führt ergänzend aus: Entgegen den anderslautenden Feststellungen des Bundesamtes habe sie ihr Verfolgungsschicksal hinreichend konkret und ausreichend ausführlich vorgetragen. Die Entscheidung des Bundesamtes leide an einem erheblichen Verfahrensfehler, weil Anhörer und Entscheider des Bundesamtes personenverschieden gewesen seien. Abgesehen davon wäre sie als alleinstehende Frau im Falle einer Rückkehr geschlechtsspezifischer Verfolgung seitens der in der Provinz Kunar herrschenden Taliban und Warlords ausgesetzt. Hiergegen stehe ihr eine interne Schutzalternative in Afghanistan, insbesondere auch im Großraum Kabul nicht zur Verfügung. Des Weiteren liege ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor, da nach den vorliegenden Erkenntnissen in ihrer Heimatprovinz Kunar ein innerstattlicher bewaffneter Konflikt zwischen den regierungsfeindlichen Gruppierungen und den afghanischen und ausländischen Sicherheitskräften bestehe, bei dem angesichts der hohen Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung eine erhebliche individuelle und ernsthafte Bedrohung von Zivilpersonen vorliege.

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin nach der persönlichen Anhörung zu ihren Fluchtgründen die auf die Anerkennung als Asylberechtigte und auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage zurückgenommen.

Die Klägerin beantragt nunmehr noch,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 22. Juni 2010 zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt zur Begründung Bezug auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung über die Klage verhandeln und entscheiden, weil in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung ihre Klage auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16 a Abs. 1 GG und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG vor der Stellung des Klageantrags zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Das im Óbrigen aufrechterhaltene Verpflichtungsbegehren auf Feststellung des unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist zulässig und begründet.

Der Zulässigkeit dieses Verpflichtungsbegehrens steht nicht entgegen, dass die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid zugunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach nationalem Recht gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festgestellt hat. Da der unionsrechtliche Abschiebungsschutz weiter gehenden Schutz bietet, kann die Klägerin verlangen, dass über den vorrangigen Anspruch auf Vorliegen eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Abs. 2 AufenthG entschieden wird, ohne sich darauf verweisen zu lassen, dass ihr bereits ein nachrangiges Abschiebungsverbot nach nationalem Recht zusteht.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360.

Das danach zulässige Verpflichtungsbegehren ist auch begründet. Der Klägerin steht nach der im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) entgegen dem Bescheid des Bundesamtes ein Anspruch Gewährung von unionsrechtlichen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in Bezug auf Afghanistan zu. Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes vom 22. Juni 2010 ist hinsichtlich der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG sowie nach § 60 Abs. 4 und 5 AufenthG rechtswidrig und demzufolge insoweit aufzuheben (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Das durch Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007, BGBl. I S. 1970 neu in das Aufenthaltsgesetz eingefügte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dient der Umsetzung der Regelung über den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Schutzgewährung greift auch dann ein, wenn sich der innerstaatliche bewaffnete Konflikt nur auf ein Teil des Staatsgebietes erstreckt.

BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198.

Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieses Begriffs im humanitären Völkerrecht auszulegen. Dabei sind insbesondere die vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht vom 12. August 1949 und das Zusatzprotokoll II vom 08. Juni 1977 (ZP II) heranzuziehen. Danach liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt jedenfalls dann vor, wenn der Konflikt die Kriterien des Art. 1 Nr. 1 ZP II erfüllt. Er liegt hingegen nicht vor, wenn die Ausschlusstatbestände des Art. 1 Nr. 2 ZP II erfüllt sind , es sich also nur um innere Unruhen und Spannungen handelt wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten. Für zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegende Konflikte ist die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie nicht von vornherein ausgeschlossen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen und eine bestimmte Größenordnung erreichen.

So zum Ganzen BVerwG, Urteile vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, a. a. O. und vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, a.a.O..

Nach der vorzitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - findet die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts jedenfalls dort ihre Grenze, wo ihr Zweck der Schutzgewährung von Zivilpersonen, die in ihrem Herkunftsstaat von willkürlicher Gewalt in bewaffneten Konflikten bedroht sind, entgegensteht. Mit Blick auf diesen Zweck setzt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie nicht zwingend voraus, dass die Konfliktparteien einen so hohen Organisationsgrad erreicht haben müssen, wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 und für den Einsatz des Internationalen Kreuzes erforderlich ist (vgl. Art 1 Abs. 1 ZP II). Vielmehr kann es bei einer Gesamtwürdigung der Umstände auch genügen, dass die Konfliktparteien in der Lage sind, anhaltende und koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität und Dauerhaftigkeit durchzuführen, dass die Zivilbevölkerung davon typischerweise erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird. Entsprechendes dürfte auch für das Erfordernis gelten, dass die den staatlichen Streitkräften gegenüberstehende Konfliktpartei eine effektive Kontrolle über einen Teil des Staatsgebietes ausüben muss.

Bei der Prüfung, ob eine "erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben" i. S. d.

§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. eine entsprechende "ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt" i. S. v.

Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie vorliegt, ist zu berücksichtigen, dass sich auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Personen ausgeht, die nach dem Erwägungsgrund Nr. 26 der Qualifikationsrichtlinie allein nicht ausreichend ist, individuell so verdichten kann, dass sie die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie erfüllt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, a. a. O.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Bundesverwaltungsgerichts, kann eine solche individuelle Verdichtung ausnahmsweise dann angenommen werde, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ausgesetzt zu sein. Eine derartige Verdichtung bzw. Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann aber unabhängig davon ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Ausländers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehrt. Bei der Ermittlung des erforderlichen Niveaus willkürlicher Gewalt i.S.v. Art 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie in einem bestimmten Gebiet sind nicht nur solche Gewaltakte der Konfliktparteien zu berücksichtigen, die gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts verstoßen, sondern auch andere Gewaltakte der Konfliktparteien, durch die Leib oder Leben von Zivilpersonen wahllos und unbeachtet ihrer persönlichen Situation verletzt werden.

Vgl. EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C - 465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705; BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188; Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, a. a. O.

Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht für die Klägerin bezogen auf ihre Herkunftsregion in Afghanistan eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Vor dieser Gefahr kann die Klägerin auch in anderen Teilen von Afghanistan keinen internen Schutz gemäß Art. 8 Qualifikationsrichtlinie finden.

Die Klägerin stammt nach ihren Angaben aus einem Ort im Distrikt Wata Pur in der im östlichen Teil von Afghanistan gelegenen Provinz Kunar. Dort hat sie bis zu ihrer Ausreise gelebt. Hinsichtlich der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist somit auf diese Region abzustellen, weil die Klägerin in erster Linie dorthin zurückkehren wird.

Die ostafghanische Provinz Kunar, die etwa zu 95 % von Paschtunen besiedelt ist, grenzt unmittelbar auf einer Länge von über 175 km an Pakistan. Sie hat eine Fläche von rund 4.942 km2 und rund 413.008 Einwohner. Die Bevölkerungsdichte liegt etwa bei 84,4 Einwohnern pro km2. Im Distrikt Wata Pur, der Teil der Sektion um die Provinzhauptstadt Asadabad ist, leben rund 28.778 Einwohner.

Vgl. de.wikipedia.org und en.wikipedia.org zu Kunar

Nach den der Kammer vorliegenden Auskünften und allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass in der Herkunftsregion der Klägerin in der Provinz Kunar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im vorgenannten Sinn stattfindet. Die ausgewerteten Quellen berichten übereinstimmend, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan nach dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 und einer anfänglichen Stabilisierung in den Jahren 2001-2005 seit 2006 stetig verschlechtert hat. Sie ist jedoch durch große regionale wie saisonale Unterschiede geprägt. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 09. Februar 2011, Stand: Februar 2011 (Lagebericht) ist seit 2006 unter anderem aufgrund verstärkter militärischer Aktionen der afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte eine stete Zunahme sicherheitsrelevanter Vorfälle zu beobachten. United Nations Mission in Afghanistan (UNAMA) verzeichnet, dass im ersten Halbjahr 2010 die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 31 % angestiegen ist. Für den Anstieg verantwortlich sind insbesondere regierungsfeindliche Kräfte (+53 %), während bei Pro-Regierungskräften ein Rückgang von 30 % zu verzeichnen ist. Während im Südwesten, Süden und Südosten des Landes die Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte gegen die Zentralregierung und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen, sind dies im Norden und Westen häufig Rivalitäten lokaler Machthaber, die in Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften verstrickt sind.

Zu einer entsprechenden Bewertung gelangt der Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung von Dezember 2010. Danach ist die Bedrohung in Afghanistan weiterhin erheblich. Die Zahl der Zwischenfälle nahm in den ersten drei Quartalen 2010 im Verhältnis zum Vorjahr landesweit um 95% zu. Die seit Jahren erkennbare Zweiteilung der Sicherheitslage in einen verhältnismäßig ruhigeren Norden und Westen und einen deutlich unruhigeren Süden, Südwesten und Osten des Landes (etwa 90% der Zwischenfälle) gilt weiterhin.

Ebenso berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) in ihrem "Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage" vom 23. August 2011, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan 2010 sowie im ersten Halbjahr 2011 erneut dramatisch verschlechtert hat. Die Anschläge haben 2010 im Vergleich zum Vorjahr um 64 Prozent zugenommen. Allein im Süden des Landes wurden 2010 dreimal so viele Menschen umgebracht oder hingerichtet wie 2009. Entführungen sind 2010 um 83 Prozent gestiegen (251 Personen). Die Anzahl der 2010 getöteten Zivilisten erreichte mit 2777 einen neuen Höchststand. Im Vergleich zum Vorjahr stellt dies ein Anstieg um 15 % dar. Gemäß UNAMA stieg die Zahl der zivilen Opfer in den ersten Monaten 2011 erneut um 15 % an. Rund drei Viertel der zivilen Opfer sollen inzwischen von regierungsfeindlichen Gruppierungen getötet worden sein. Diese Gewaltakte gehen weiterhin von vier Quellen aus: von den regierungsfeindlich eingestellten, bewaffneten Gruppierungen wie Taliban, Hezbe-Islami von Gulbuddin Hekamatyar, Haqqani-Netzwerk und anderen, von regionalen Kriegsherren und Kommandierenden der Milizen, von kriminellen Gruppierungen und von Reaktionen der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen regierungsfeindliche Gruppierungen (insbesondere Bombardierungen). Entgegen den seit 2010 gehäuften Aussagen von Vertretern der Nato-Staaten, man habe in Afghanistan Fortschritte erzielt und die Taliban in die Defensive gedrängt, ist eher von einem ungebrochenen Kampfwillen der Taliban und einem bewussten Strategiewechsel auszugehen. Nach Angaben des Taliban Experten Ahmed Rashid haben die Taliban inzwischen in 33 der 34 Provinzen Untergrundstrukturen aufgebaut. Neben den gezielten Ermordungen, welche im Frühjahr 2011 die afghanische Polizei und Regierungsbeamte besonders hart trafen, steht für die Taliban der Einsatz von Sprengsätzen im Vordergrund, welcher vor allem die Zivilbevölkerung trifft. Gemäß Angaben von UNAMA und Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) setzen die Taliban im Süden, Norden und Osten des Landes immer häufiger Kinder und Teenager als Selbstmordattentäter ein und verwenden in dicht bevölkerten Gegenden menschliche Schutzschilder. Die Taliban und weitere regierungsfeindliche Gruppierungen verfügen über eigene Gefängnisse und sollen bei Verhören Folter angewandt haben. Außer in den östlichen Regionen nahm die Anzahl getöteter Zivilisten in allen Regionen des Landes massiv zu. Den internationalen Sicherheitskräften ist es zwar gelungen, im Süden gewisse Erfolge zu verbuchen, die Sicherheitslage verschlechterte sich dennoch massiv. Allein zwischen Juni und Mitte September 2010 wurden wöchentlich 21 Ermordungen registriert.

Nach des Stellungnahme Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) - Vertretung für Deutschland und Österreich - an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz vom 11. November 2011 (Az.: 6 A 11048/10.OVG) hatte die Intensivierung und Ausbreitung des bewaffneten Konflikts in Afghanistan in den Jahren 2009 und 2010 schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und hat auch 2011 zu weiteren Verschlechterungen geführt. Im Vergleich zu früheren Jahren und entgegen saisonaler Trends wurde während der ersten Hälfte des Jahres 2010 ein erheblicher Anstieg von sicherheitsrelevanten Zwischenfällen beobachtet. Zum Teil war dieser Anstieg auf eine Zunahme von Militäroperationen in der südlichen Region seit Februar 2010 und auf erhebliche Aktivitäten von bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen in den südöstlichen und östlichen Gebieten Afghanistans zurückzuführen. Wie berichtet wird, bleiben für den größten Anteil ziviler Todesopfer bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen verantwortlich, sowohl durch gezielte als auch durch willkürliche Angriffe. Konfliktbedingte Menschenrechtsverletzungen nehmen insgesamt zu. Die Ausweitung des Konflikts zwischen afghanischen und internationalen Sicherheitskräften einerseits und den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen andererseits hat zudem zu einer Einschränkung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung und Bildung, insbesondere in den südlichen und südöstlichen Gebieten des Landes beigetragen.

Auch nach dem Bericht der D-A-CH Kooperation Asylwesen vom März 2011 über die Sicherheitslage in Afghanistan unter speziellem Vergleich zweier afghanischer Provinzen (Ghazni und Nangarhar) und den pakistanischen Stammesgebieten gibt die sich in den letzten Jahren verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan Anlass zur Sorge. Bis Ende Juni 2010 betrug die Steigerung an zivilen Opfern (getötete und verwundete Zivilisten) 3120 % im Vergleich zum ersten Halbjahr 2009. Generell nahm die Gewalt in Afghanistan im Jahresvergleich um 64 % weiter zu (Seite 3). Der Schwerpunkt der Kampfhandlungen liegt dabei im Süden und Osten des Landes, wobei sich auch im Norden die Berichte über Angriffe und Anschläge der Taliban mehren.

Zu einer entsprechenden Beurteilung der Sicherheitslage gelangt ebenfalls die UK Border Agency in ihrem Country of Origin Information (COI) Report über Afghanistan vom 11. November 2011. Danach hat es nach einem in Bezug genommenen Bericht des Generalsekretärs der vereinten Nationen vom 21. September 2011 in den ersten 8 Monaten des Jahres 2011 im Schnitt 2.108 sicherheitsrelevante Vorfälle gegeben. Gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr stellt dies einen Anstieg von 39 % dar. UNAMA dokumentiert 1.462 getötete Zivilisten in den ersten 6 Monaten des Jahres 2011, einen Anstieg von 15 % im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2010. Dabei waren 80 % der zivilen Todesfälle in der ersten Hälfte des Jahres 2011 auf regierungsfeindliche Gruppen zurückzuführen; eine Steigerung von 28 % gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum (Ziffer 8.12). In diesem Zeitraum wurden ebenfalls 2144 Zivilisten verletzt.

Nach den vorzitierten Quellen liegt ein Schwerpunkt der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle in den ostafghanischen Provinzen. Kunar, die Herkunftsprovinz der Klägerin, ist aufgrund seines schwer zugänglichen Berglandes und seiner Grenze mit den halbautonomen Nord-West Provinzen Pakistans seit jeher Hochburg der aufständischen Gruppierungen. Neben den in der hauptsächlich paschtunischen Bevölkerung verwurzelten radikalislamischen Taliban sind hier ebenfalls die Hezbe-Islami des Gulbuddin Kekmatyar und die Hezbi Islami faction des Mulavi Younas Khalis äußerst aktiv. Die Provinz gilt auch als Rückzugsgebiet der mit den Taliban verbündeten Kämpfern des Terrornetzwerkes El Kaida (vgl. stern.de vom 21. April 2011). Bei Amerikanern und westlichen Sicherheitskräften, die in Afgahnistan eingesetzt sind, ist die Provinz Kunar informell bekannt als "Enemy Central" und "Indian Country". Zwischen Januar 2006 und März 2010 ereigneten sich mehr als 65 % aller Zwischenfälle mit Aufständischen im Land in Kunar. Die im Vergleich zu anderen Provinzen flächenmäßig recht kleine Provinz Kunar hat mit die höchste Konzentration an amerikanischen und afghanischen Sicherheitskräften. Militärische Spezialkräfte operieren verstärkt in der gesamten Region.

Vgl. en.wikipedia.org unter Kunar, Military activity

The Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) stellt im Bericht vom 02. November 2010 fest: " Kunar bleibt die unbeständigste Provinz in der Region, mit anhaltenden Kämpfen zwischen AOG und IMF/ANSF".

UNHCR (vgl. die vorzitierte Stellungnahme an das OVG Rheinland Pfalz vom 11. November 2011 sowie die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationales Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 24. März 2011) schätzt die Situation in Helmand, Kandahar, Kunar und in Teilen der Provinzen Ghaznis und Khost auf Grund der so hohen (i) Zahl von zivilen Todesopfern, (ii) Häufigkeit sicherheitsrelevanter Zwischenfälle und (iii) Anzahl von Personen, die auf Grund des bewaffneten Konflikts vertrieben wurden, nach Informationen, die UNHCR zum jetzigen Zeitpunkt bekannt sind und zur Verfügung stehen, als eine Situation allgemeiner Gewalt ("generalized violence") ein.

Angesichts dieser übereinstimmenden Beurteilungen weist der in der Provinz Kunar stattfindende innerstaatliche Konflikt unter Zugrundelegung der vorgenannten Kriterien zur Óberzeugung des Gerichts ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt mit einer so hohen Gefahrendichte für die dortige Zivilbevölkerung auf, dass die Klägerin auch ohne gefahrerhöhende Umstände in ihrer Person im Falle einer Rückkehr tatsächlich Gefahr liefe, dort allein als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung an Leib oder Leben ausgesetzt zu sein.

Diese Einschätzung belegen auch die vorliegenden Zahlen über die Häufigkeit sicherheitsrelevanter Zwischenfälle und die Anzahl der zivilen Opfer in Bezug auf die Provinz Kunar. Nach dem Bericht der D-A-CH Kooperation vom März 2011 ereigneten sich in der Provinz Kunar 1.457 Angriffe, die von Regierungsgegnern ausgeführt wurden (AOG - Armed Opposition Groups - Initiated Attacks). Kunar war damit neben den Provinzen Ghazni (1.540 Angriffe), Helmand (1.387 Angriffe) und Kandahar (1.162 Angriffe) eine der Provinzen, in der sich die meisten Angriffe der regierungsfeindlichen Gruppen ereigneten. Im Einzelnen handele es sich dabei um direkten und indirekten Beschuss, Hinterhalte, Óberfälle, Entführungen, gezielte Tötungen, Selbstmordanschläge oder Sprengfallen an Straßen. Für das erste Halbjahr 2011 werden bei ANSO (Quaterly Data Report Q.2 2011) 677 AOG Attacks für die Provinz Kunar vermerkt. Dies ist landesweit hinter Helmand (1430), Ghazni (743), Kandahar (724) wiederum eine der höchsten Zahlen von derartigen Angriffen. Gegenüber dem 1. Halbjahr 2009 bedeutet dies eine Steigerung um 12 %. Die Angriffe finden in nahezu allen Distrikten der Provinz Kunar statt, vor allem in Manogai, Sar Kani, Wata Pur (der Herkunftsregion der Klägerin), Asadabad, Narang Sarwai, Bar Kunar, Ghaziabad und Khas Kunar. Bezogen auf eine Gesamteinwohnerzahl von Kunar mit etwa 400.000 Einwohnern bedeutet das für 2010 eine Anschlagsdichte von ca. 364 Anschlägen pro 100.000 Einwohner, also von rund 0,4 %. Hinzu kommen laut der Dokumentation von D - A - CH die Aktionen der afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte, deren Zahl aufgrund der starken Präsenz dieser Kräfte in der Unruheprovinz Kunar erheblich ist. Angesichts dessen ist die Wahrscheinlichkeit, als Zivilist in Kunar einer dieser Angriffe der regierungsfeindlichen Gruppierungen oder militärischen Aktionen zu werden, nicht mehr als unbedeutend anzusehen. Wegen der Häufigkeit der täglichen Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen stuft ANSO die Provinz Kunar als "extremely insecure" (äußerst unsicher) ein.

Für die Provinz Kunar selbst sind konkrete Opferzahlen den Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. UNAMA hat für die Ostregion, zu der neben Kunar auch die Provinzen Laghman, Nangahar und Nuristan gerechnet werden, im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt für das Jahr 2009 252 zivile Tote und für das Jahr 2010 243 zivile Tote ermittelt. Eine Angabe hinsichtlich der Zahl der Verletzten ist nicht verfügbar. Ausgehend von den von UNAMA ermittelten Zahlen für Gesamtafghanistan dürfte das Verhältnis von Toten und Verletzten annäherungsweise bei 1:2,6 liegen (vgl. BayVGH, Urteil vom 08. Dezember 2011 - 13a B 11.30276 -, Juris). Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass ausweislich des ANSO Reports Q.2 2011 von den insgesamt 1115 AOG Attacks für das erste Halbjahr 2011 in den genannten Provinzen der Ostregion allein mehr als 60 % auf die Provinz Kunar entfallen, so dass dort auch eine entsprechend hoher Anteil an Opfern (Tote und Verletzte) zu beklagen sein dürfte. Nimmt man das Verhältnis von 60 zu 40 als groben Anhaltspunkt, dürften für Kunar annährungsweise für das Jahr 2010 mehr als 150 zivile Tote und mehr als 380 zivile Verletzte aufgrund des bewaffneten Konflikt zu verzeichnen sein. Bezogen auf die Zahl der Gesamtbevölkerung von Kunar ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines willkürlichen Anschlags zu werden, mithin nicht mehr in einem zu vernachlässigendem Bereich anzusiedeln.

Hiervon ausgehend steht für das Gericht unter Berücksichtigung der Größe und Einwohnerzahl der Provinz Kunar einerseits und der extrem hohen Anschlagsdichte und der Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten {deren Dunkelziffer nach der Schilderung des Gutachters Dr. Danesch im Verfahren des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 25. August 2011 - 8 A 1659/10.A -) deutlich höher ist als die von den von unabhängigen Organisationen abgegebenen Zahlen} bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Gesichtspunkte der dortigen Sicherheitslage fest, dass der Konflikt in der Provinz Kunar eine so hohe Gefahrendichte willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung erreicht, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region jederzeit mit einer nicht mehr zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.

Vgl. ebenso in der Rechtsprechung für die Provinz Kunar: VG Ansbach, zuletzt Urteil vom 25. November 2011 - AN 11 K 11.30442 -, Juris betreffend Distrikt Wata Pur.

Der Klägerin kann schließlich nicht gemäß § 60 Abs. 11 i.V.m. Art. 8 Qualitätsrichtlinie auf einen internen Schutz in einem anderen Teil ihres Herkunftslandes Afghanistan verwiesen werden. Nach Art. 8 Abs. 1 QRL benötigt ein Antragsteller keinen internationalen Schutz, sofern in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Landesteil diese Voraussetzungen erfüllt, sind nach Absatz 2 die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zu berücksichtigen. Von dem Betroffenen kann nur dann vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil aufhalte, wenn er am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d. h. es muss jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht dort das Existenzminimum gewährleistet sein, was er unter persönlich zumutbaren Bemühungen sichern können muss. Das gilt auch wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -, NVwZ 2008, 1246 und vom 24 Juni 2008 a. a. O..

Für die Klägerin steht eine solche zumutbare interne Fluchtalternative landesweit und insbesondere auch im Großraum der Hauptstadt Kabul nicht zur Verfügung. Sie ist nach eigenen Angaben alleinstehend und würde außerhalb des Familienverbandes zurückkehren. Es ist aufgrund der bestehenden Verhältnisse in Afghanistan davon auszugehen, dass es der Klägerin angesichts der dortigen gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierung von alleinstehenden Frauen nicht möglich ist, in Afghanistan eine hinreichende Existenzgrundlage zu finden.

Vgl. hierzu: AA, Lagebericht vom 9. Februar 2011, S. 23 ff.; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 8. Juli 2004; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 24. Januar 2004; UNHCR, Update on the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, Juni 2005, S. 61; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (zusammenfassende Óbersetzung), 24. März 2011, S. 7 ff; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Alleinstehende Frau mit Kindern, 15. Dezember 2011, S. 3; Hessischer VGH, Urteil vom 1. März 2006 - 8 UE 3766/04.A -; VG München, Urteile vom 24. November 2009 - M 23 K 09.50113 - und vom 23. Dezember 2009 - M 23 K 09.50039 -, beide Juris. Vgl. zu alledem VG Köln, Urteile vom 9.4.2008 - 14 K 4466/05.A - und vom 25.11.2008 - 14 K 4274/06.A -, beide Juris sowie Urteil vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -.

Aufgrund der Gewährung des vorrangigen unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG sowie nach § 60 Abs. 4 und 5 AufenthG in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 2, 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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