OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.01.2012 - 12 B 1582/11
Fundstelle
openJur 2012, 84086
  • Rkr:
Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Die dem Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Form der Betreuung in einer heilpädagogischen Tagesgruppe oder in einer anderen geeigneten Tageseinrichtung zu gewähren, stattgebende Entscheidung des Verwaltungsgerichts wird durch das Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin, das der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, nicht in Frage gestellt.

Die Antragsgegnerin geht zunächst fehl in der aus der Beschwerde zu Tage tretenden allgemeinen Ansicht, das Verwaltungsgericht sei nicht ermächtigt, ohne die vorherige jugendamtliche Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung im Sinne des § 35a Abs. Satz 1 Nr. 2 SGB VIII, und - wegen § 36a SGB VIII - ohne eine entsprechende, in Mitwirkung mit den Eltern erarbeitete Hilfeplanung des Jugendamts in eigener Entscheidung das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung anzunehmen. Es ist gesetzlich festgelegt, welche Gerichtsbarkeit die Aufgabe hat, die öffentliche Jugendhilfe als Zweig der öffentlichen Verwaltung zu kontrollieren. Nach der Verwaltungsprozessordnung sind die Verwaltungsgerichte zu dieser Kontrolle berufen. Ihnen kommt dabei auch die Befugnis zu, die Behörden (vorläufig) zu einem bestimmen Verhalten zu verpflichten, vgl. §§ 113 Abs. 5, 123 Abs. 1 VwGO.

Vgl. z.B. Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 4. Auflage 2011, § 36a, Rn.9.

Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Verwaltungsgericht dabei nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es erforscht nach § 86 Abs. 1 VwGO den Sachverhalt von Amts wegen und ist

nicht an das Vorbringen der Beteiligten gebunden. Das Tatbestandsmerkmal der Teilhabebeeinträchtigung unterliegt als sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff auch der vollen gerichtlichen Überprüfung. Das Verwaltungsgericht war, dies zugrunde gelegt, im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes weder gehindert, sich bei seiner Entscheidung den Inhalt der fachärztlichen Stellungnahmen vom 14. September 2010 und vom 7. Dezember 2010 zu eigen zu machen, noch war es gehindert, den Inhalt des Gutachtens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs gemäß § 12 AO-SF vom 31. Mai 2011 zu verwerten. Die Feststellung der Beeinträchtigung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist zwar nicht das Ziel der Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII. Selbst dem insoweit auf Verwaltungsebene entscheidungsbefugten zuständigen Jugendamt ist es jedoch unbenommen, vor der abschließenden Beurteilung des Vorliegens der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen und der Entscheidung über die Rechtsfolge ärztliche/ psychotherapeutische oder andere fachliche Stellungnahmen einzuholen und auf diese Weise zu einer Entscheidung in fachlichem Zusammenwirken von ärztlichen/ psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Fachkräften unter der Federführung des Jugendamtes zu kommen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Februar 2010

- 12 A 2745/09 -, m.w.N.

Nichts anderes gilt auf Gerichtsebene für das Verwaltungsgericht bei der Ausübung seiner Kontrollfunktion. Dass der Antragsgegnerin das Gutachten zur Feststellung des sozialpädagogischen Förderbedarfs vom 31. Mai 2011 zuvor nicht bekannt war, ändert hieran nichts; das Verwaltungsgericht hat der Antragsgegnerin sowohl die Anforderung der Verwaltungsvorgänge des Schulamts als auch deren Erhalt zur Kenntnis gegeben. Es war der Antragsgegnerin unbenommen, Akteneinsicht zu beantragen und zu nehmen.

Das Verwaltungsgericht ist auch von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen. Es hat das Vorliegen einer seelischen bzw. psychischen Störung des Klägers im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII beanstandungsfrei den fachärztlichen Stellungnahmen aus September und Dezember 2010 entnommen und dabei - wie sich aus der Auflistung der Diagnosen zwanglos ergibt - auf die jüngere der beiden Stellungnahmen abgestellt. Es hat in der Entscheidung auch berücksichtigt, dass allein das Vorliegen einer solchen psychischen Störung noch keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe begründet, sondern zusätzlich, wegen der Zweigliedrigkeit des Begriffes der seelischen Behinderung,

vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Januar 2010 - 12 B 1655/09 -, juris; Meysen, in: Münder/Meysen/Trenczek, FK-SGB VIII, 6. Auflage 2009, § 35a, Rn. 16; Vondung, in: Kunkel, LPK-SGB VIII, 4. Auflage 2011, § 35a, Rn. 10, m.w.N.,

auch das weitere Tatbestandsmerkmal des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII erfüllt sein muss. Es ist schließlich aus den angeführten Gründen - und hier insbesondere bei der Darlegung der vornehmlich aus dem Gutachten über die Feststellung eines sonderpädagogischen Bedarfs entnommen Verhaltensauffälligkeiten des Antragstellers - nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung nicht in den Blick genommen hätte, dass die Teilhabebeeinträchtigung des Betroffenen am Leben in der Gesellschaft im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGB voraussetzt, dass die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt und damit voraussetzt, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Betreffenden vorliegt oder eine solche droht.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 11. August 2005 - 5 C 18.04 -, BVerwGE 124, 83, juris; vom 28. September 2000 - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98, juris; vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487, juris; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26. März 2007 - 7 E 10212/07 -, FEVS 58, 477, juris; HessVGH, Urteil vom 20. August 2009 - 10 A 1799/08 -, NVwZ-RR 2010, 59, juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. November 2007 - 12 A 457/06 -, vom 19. Dezember 2007 - 12 A 2966/07 -, vom 12. November 2008 - 12 A 2551/08 -, vom 29. Mai 2008 - 12 A 3841/06 -, juris, vom 20. Januar 2010 - 12 B 1655/09 -, juris, vom 19. Februar 2010 - 12 A 2745/09 - und vom 13. August 2010 - 12 A 1237/09 -.

Auch im Lichte des Beschwerdevorbringens ist die Annahme, das Verwaltungsgericht habe die inneren Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, nicht gerechtfertigt. Es ist nicht ersichtlich, dass die verwaltungsgerichtliche Bewertung des Sachverhalts willkürlich wäre oder gedankliche Brüche und Widersprüche oder Verstöße gegen Denkgesetze (Logik), Naturgesetze oder zwingende Erfahrungssätze aufwiese,

vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Mai 2007 - 2 C 30.05 -, NVwZ 2007, 197, juris, und Beschlüsse vom 14. Januar 2010 - 6 B 74.09 -, Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 87, juris, sowie vom 15. Februar 2010 - 2 B 126.09 -, Buchholz 232.0 § 96 BBG 2009 Nr. 1, juris; OVG NRW, Beschluss vom 11. Januar 2011 - 12 A 1765/09 -; Höfling, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Auflage 2010, § 108, Rn. 77ff. und 79ff.; Bamberger, in: Wysk, VwGO, 2011, § 108, Rn. 4; zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 15. Februar 2010

- 2 B 126/09 -, Buchholz 232.0 § 96 BBG 2009, juris, m.w.N.; Bamberger, in: Wysk, VwGO, 2011, § 108, Rn. 9.,

und damit nicht mehr vertretbar wäre. Dass die Antragsgegnerin ihrerseits den Sachverhalt, aus ihrer Sicht möglicherweise ebenso gut vertretbar, abweichend bewertet, vermag die gerichtliche Beweiswürdigung allein nicht in Frage zu stellen.

Die Antragsgegnerin hat nicht behauptet, dass sich die von dem Verwaltungsgericht aufgeführten und seiner Entscheidung zugrunde gelegten Verhaltensauffälligkeiten des Antragstellers nicht oder nicht so aus den fachärztlichen Stellungnahmen und dem Gutachten vom 31. Mai 2011ergeben würden. Dies drängt sich dem Senat auch sonst nicht auf. Ebenso wenig drängt sich dem Senat auf, dass die verwaltungsgerichtliche Einschätzung, die geschilderten Auffälligkeiten begründeten ihrer Art nach schon eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Antragstellers, willkürlich oder sonst unlogisch oder irrational wäre.

Ist nach alledem das - hier allein streitgegenständliche - Vorliegen der Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII vom Antragsteller glaubhaft gemacht, steht ihm

- bei Vorliegen eines Anordnungsgrundes - auch ein im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durchsetzbarer Anspruch auf vorläufige Leistungen der Eingliederungshilfe zu. Dieser entfällt nicht deshalb, weil möglicherweise neben dem Eingliederungshilfebedarf des Antragstellers ein gegebenenfalls gleichgelagerter Bedarf an Hilfe zur Erziehung besteht, weil die psychischen Störungen des Antragstellers auch auf Erziehungsdefiziten beruhen oder weil infolge seiner psychischen Störungen Erziehungsprobleme auftreten. Dass die Eltern des Antragstellers an der Aufklärung der häuslichen Erziehungssituation nicht mitwirken, kann nicht zu Lasten eines sich im schulischen Bereich manifestierenden Bedarfs des Antragstellers an Eingliederungshilfe gehen. Ihrem Verdacht, es bestehe auch ein erzieherischer Bedarf, muss die Antragsgegnerin vielmehr - neben weiteren Ermittlungsbemühungen - insbesondere dadurch Rechnung tragen, dass in Anlehnung an § 35a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII hier eine Einrichtung in Anspruch genommen wird, die geeignet ist, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch einen mutmaßlichen erzieherischen Bedarf beim Antragsteller zu decken.

Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Eingliederungshilfebedarf des Antragstellers am besten durch seine heilpädagogische Betreuung in einer geeigneten Tagesgruppe entsprochen werden kann, hat die Antragsgegnerin mit der Beschwerde nicht in Frage gestellt. Dasselbe gilt für die Annahme, der Antragsteller habe einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht; der Hinweis, bei Fehlen eines Anordnungsanspruchs fehle auch der Anordnungsgrund geht nach den vorstehenden Ausführungen ins Leere.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

Dieser Beschluss ist gem. § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.