OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.12.2011 - 5 A 1045/09
Fundstelle
openJur 2012, 83732
  • Rkr:
Tenor

Das angefochtene Urteil wird teilweise geändert.

Es wird festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme der Klägerin am 17. Januar 2008 von Beginn an (1:15 Uhr) rechtswidrig war.

Unter Einbeziehung der teilweise rechtskräftig gewordenen Kostenentscheidung erster Instanz trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin, eine Anti-Atomkraft-Aktivistin, begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit ihrer polizeilichen Ingewahrsamnahme anlässlich einer Protestaktion.

Am 16. Januar 2008 führte die Deutsche Bahn AG für die Firma V. in H. einen Urantransport durch. Die Transportstrecke verlief von H. aus über P. nach N. , von dort über S. und C. C1. bis S1. (NL). Ziel des Transports war S2. . Der Zug bestand aus einem Triebfahrzeug und 19 Waggons. Er verließ um 19:08 Uhr das Firmengelände von V. . Sodann befuhr er die Hauptstrecke H. - N. . Gegen 19:25 Uhr meldete die Besatzung des zur Streckenüberwachung eingesetzten Polizeihubschraubers, dass sich im Bereich der Ortslage N1. drei Personen unmittelbar an der Bahnstrecke befänden. Bei Bahnkilometer 36,2 in der N2. I. nordwestlich von N. war in einer Höhe von etwa 7 m zwischen zwei Bäumen eine Seilkonstruktion gespannt. Hierin hatte sich die Klägerin mit einer Kletterausrüstung eingehakt, so dass sie an einem beweglichen Seil über dem Gleisbereich hing.

Nachdem die eingesetzten Polizeibeamten am Bahnübergang in Höhe Bahnkilometer 35,9 in Fahrtrichtung P. ca. 300 m entfernt direkt über dem Gleisbereich ein helles rotes Licht festgestellt hatten, veranlassten sie die Sperrung des betroffenen Streckenabschnitts sowie den sofortigen Halt des Urantransports. Der Transportzug kam bei Bahnkilometer 40,8 zum Stehen und setzte seine Fahrt am 17. Januar 2008 um 2:06 Uhr fort.

Beamte der Beklagten forderten die Klägerin um 19:45 Uhr und um 20:50 Uhr erfolglos auf, das Seil zu verlassen. Bei der dritten entsprechenden Aufforderung am 17. Januar 2008 um 0:15 Uhr wurde der Klägerin angedroht, unmittelbaren Zwang durch Spezialkräfte der Beklagten anzuwenden. Da die Klägerin in ihrer Seilkonstruktion verharrte, wurde sie ab 0:37 Uhr mit Hilfe eines Sicherungsseils geborgen. Im Einsatzbericht vom 21. Januar 2008 ist im Zusammenhang mit der Abwicklung der Bergungsmaßnahme ausgeführt: "Des Weiteren wurden zwischenzeitlich die v. g. Personalien der Aktivistin bekannt." Ausweislich des Systemausdrucks des Bundespolizeiamts L. leistete die Klägerin bei der Abseilaktion keinerlei Widerstand.

Direkt nach Abschluss der Bergungsmaßnahmen um 1:15 Uhr am 17. Januar 2008 wurde die Klägerin bis 5:20 Uhr in polizeilichen Gewahrsam genommen. Zunächst wurde sie wegen einer Blutdruckabsackung am Einsatzort durch einen Rettungssanitäter medizinisch versorgt. Danach wurde sie in Räumlichkeiten der Bundespolizeiinspektion N. verbracht. Eine dort durchgeführte körperliche Durchsuchung führte zur Sicherstellung eines Handzettels, auf dem handschriftlich Fahrzeiten des Zuges bis 20:45 Uhr sowie Entfernungen zwischen P. und N1. festgehalten sind. Des Weiteren wurden ein Mobiltelefon, eine Kopflampe, ein Haltegurt sowie diverses Klettermaterial (u. a.: Zurrgurt, Karabiner, verschiedene Seile) sichergestellt und nachfolgend beschlagnahmt. Die Kreispolizeibehörde T. teilte um 1:35 Uhr mit, im Rahmen der Aufklärung seien im Bereich der Bahnhöfe sowie der Bahnstrecke keine Störer festgestellt worden. Daraufhin wurden die Spätdienstkräfte entlassen.

Die Klägerin machte bei ihrer in den Räumen der Bundespolizeiinspektion N. am 17. Januar 2008 ab 4:00 Uhr durchgeführten Beschuldigtenvernehmung wegen versuchten gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr sowie Nötigung keine Angaben zur Sache.

Ein Lokführer der DB Regio gab bei seiner Zeugenvernehmung am frühen Nachmittag des 17. Januar 2008 an, er habe bei seiner Fahrt mit dem Reisezug von F. nach N. am 16. Januar 2008 gegen 11:03 Uhr im Streckenabschnitt zwischen Haltepunkt N1. -Land und Bahnhof C2. festgestellt, dass in einem Baum in ca. 6 bis 8 m Höhe ein blauer Gegenstand abgelegt worden war. Dieser habe sich dort (im Bereich von Bahnkilometer 36) auch noch bei der Rückfahrt am gleichen Tag befunden.

Die Klägerin hat am 28. Juni 2008 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Die Voraussetzungen für eine Ingewahrsamnahme nach § 39 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz (BPolG) hätten nicht vorgelegen. Sie habe weder Straftaten (insbesondere nach §§ 240, 315 Abs. 1, 316 b StGB) noch eine Ordnungswidrigkeit im Sinne von § 64 b der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) begangen. Darüber hinaus habe es an einer konkreten Gefahrenprognose hinsichtlich der unmittelbaren Begehung von Straftaten im Sinne von § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG gefehlt. Zudem sei die Ingewahrsamnahme zur Gefahrenabwehr auch nicht unerlässlich gewesen. Als milderes Mittel habe es ausgereicht, ihre Kletterausrüstung zu beschlagnahmen oder einen Platzverweis zu erteilen. Es sei durch nichts belegt, dass sie in unmittelbarer zeitlicher oder örtlicher Nähe eine weitere Möglichkeit gehabt hätte, den Zuglauf erneut zu stören. Sie habe keine Mittäter gehabt. Im Übrigen habe ihr nach der etwa sechsstündigen Seilaktion die Kraft für weitere mögliche Protestaktionen gefehlt.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass die Ingewahrsamnahme am 17. Januar 2008 seitens der Beklagten rechtwidrig war.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG seien seinerzeit erfüllt gewesen. Die Ingewahrsamnahme sei unerlässlich gewesen, um unmittelbar bevorstehende, mit Strafe bedrohte Handlungen zu unterbinden. Seinerzeit habe der Verdacht bestanden, dass sich die Klägerin nach §§ 240, 315 Abs. 1 StGB strafbar gemacht habe. Bei der gebotenen exante-Betrachtung sei zu befürchten gewesen, dass die Klägerin weitere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begehe, um den Transport zu verhindern. Die Klägerin habe schon zuvor an verschiedenen Aktionen der Anti-Atomkraft-Szene teilgenommen, es seien mehrere Atomkraftgegner seinerzeit vor Ort gewesen, und es seien Lichtsignale gegeben worden. Des Weiteren habe die Klägerin fortlaufend mit ihrem Mobiltelefon telefoniert. Da die Bahnstrecke sehr lang und teilweise schwer einsehbar sei (H. - N. - C. C1. ), seien vergleichbare Störaktionen nicht mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen gewesen. Nach dem Einsatzbericht habe die Aktion nur mit Hilfe Dritter erfolgen können. Da die Klägerin vergleichbare Seilaktionen offenbar häufiger durchführe, habe nicht ausgeschlossen werden können, dass ihre körperliche Belastungsfähigkeit die Durchführung weiterer Aktionen zulasse.

Durch Urteil vom 26. März 2009 hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die Fortdauer der Ingewahrsamnahme der Klägerin am 17. Januar 2008 ab dem Zeitpunkt der Ankunft des Transportzuges in N. -A. -O. (3:00 Uhr) rechtswidrig war. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG hätten dem Grunde nach vorgelegen. Bei der gebotenen exante-Betrachtung spreche einiges dafür, die Einschätzung der Beklagten sei tragfähig gewesen, die Klägerin könne Straftatbestände verwirklicht haben oder jedenfalls im Falle eines Abseilens verwirklichen. Die Ingewahrsamnahme sei (bis 3:00 Uhr) unerlässlich gewesen, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit nach § 64 b Abs. 2 Nr. 5 EBO zu verhindern. Angesichts der erheblichen Auswirkungen auf den Bahnbetrieb handele es sich um eine Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit. Die nach Abschluss der Bergung um 1:15 Uhr verfügte Ingewahrsamnahme sei unerlässlich gewesen, um die Klägerin von der unmittelbar bevorstehenden Begehung von Straftaten oder zumindest von weiteren Ordnungswidrigkeiten von erheblichem Gewicht für die Allgemeinheit abzuhalten. Die Beklagte habe davon ausgehen dürfen, dass die Klägerin als bekannte Aktivistin jede weitere Gelegenheit nutzen würde, um den Transport zu blockieren. Wegen der verschiedenen Telefonate während ihrer Aktion habe sich die Klägerin von Unterstützern mit einem Kraftfahrzeug abholen und an einen weiteren Streckenabschnitt mit vorbereitetem Material fahren lassen können. Die Klägerin habe das Seil nicht wegen Erschöpfung verlassen. Die Möglichkeit einer Beschlagnahme ihrer Kletterausrüstung oder eines Platzverweises stünden der Unerlässlichkeit der Ingewahrsamnahme nicht entgegen. Es sei keineswegs absehbar gewesen, ob nicht andernorts eine weitere Kletteraktion vorbereitet gewesen sei. Hinsichtlich eines Platzverweises habe es aus polizeilicher Sicht als fraglich angesehen werden dürfen, ob die Klägerin einer derartigen Maßnahme Folge leisten würde. Nach Ankunft des Transportzuges in N. -A. -O. (3:00 Uhr) sei eine weitere Ingewahrsamnahme zur Gefahrenabwehr nicht erforderlich gewesen.

Durch Beschluss vom 30. September 2010 hat der Senat auf Antrag der Klägerin die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zugelassen.

Zur Begründung der Berufung wiederholt und vertieft die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen. Darüber hinaus rügt sie die fehlende richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung. Ordnungswidrigkeiten nach § 64 b EBO hätten in der Ermessenserwägung der Beklagten keine Rolle gespielt. Die Ingewahrsamnahme sei nicht erforderlich gewesen. Es habe seinerzeit keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Wiederholung oder die Vorbereitung weiterer Kletteraktionen gegeben. Zwischen dem Ende der Bergung und der Weiterfahrt des Zuges liege ein derart kurzer Zeitraum, dass die Möglichkeit, an anderer Stelle ein entsprechendes Seil anzubringen und die Aktion zu wiederholen, nicht erkennbar gewesen sei. Im Übrigen seien an die Wahrscheinlichkeitsprognose besonders hohe Anforderungen zu stellen. Ein Platzverweis hinsichtlich der gesamten in Rede stehenden Bahnstrecke hätte als milderes Mittel ausgereicht. Sie sei unstrittig im zugehörigen Strafverfahren freigesprochen worden. Aus den von der Beklagten angeführten Gesichtspunkten wie Telefonaten während der Seilaktion oder dem Vorhandensein von Autos ergebe sich keine Wiederholungsgefahr.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 26. März 2009 teilweise zu ändern und festzustellen, dass die Ingewahrsamnahme der Klägerin am 17. Januar 2008 von Anfang an rechtswidrig war.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückweisen.

Sie wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen und weist darauf hin, die Lichtsignale während der Seilaktion wären sinnlos gewesen, wenn nicht davon auszugehen wäre, dass sich andere Aktivisten im Umfeld bewegten und die erhaltenen Informationen für weitere vorbereitete Aktionen umsetzten. Auch wegen des im Streckenabschnitt deponierten, am Vortag bemerkten Rucksacks habe angenommen werden können, dass weitere Aktionen mit der Klägerin geplant gewesen seien. Aus der Sicherstellung der klägerischen Ausrüstung habe nicht auf das Unterbleiben vergleichbarer Aktionen geschlossen werden können. Die Gesamtschau der objektiv nachvollziehbaren Tatsachen habe zu dem Schluss geführt, dass zumindest weitere Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung durch die Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit drohten. Diese habe das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil angeführt. Die bestehende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sei wegen der drohenden Schwere des Schadens ausreichend gewesen. Bei weiteren Aktionen hätte der Bahnbetrieb erneut gravierende Störungen erfahren. Das klägerische Verhalten nach Ende der Seilaktion sei nicht durch einen Erschöpfungszustand geprägt gewesen. Ein Platzverweis sei nicht in Frage gekommen, weil davon auszugehen gewesen sei, dass weitere Vorbereitungen für vergleichbare Aktionen bereits getroffen gewesen seien. Die Klägerin habe bei ihrer Aktion mehrfach gegenüber polizeilichen Maßnahmen uneinsichtig reagiert und ihnen keine Folge geleistet. Gerade vom Tatort sei es zeitnah möglich gewesen, an die Bahnstrecke N. - S. - C. C1. zu gelangen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten und der auszugsweise in Kopie vorliegenden zwei Hefte Strafakten des Amtsgerichts T. - - Bezug genommen.

II.

Der Senat entscheidet durch Beschluss nach § 130 a VwGO, weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gemäß §§ 130 a Satz 2, 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO gehört worden.

Die Berufung hat Erfolg.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, dass ihre Ingewahrsamnahme durch Beamte der Beklagten am 17. Januar 2008 von Beginn an (1:15 Uhr) rechtswidrig war.

Die Klage ist zulässig.

Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs ist nach § 17 a Abs. 5 GVG vom Senat nicht mehr zu prüfen. Nach dieser Vorschrift prüft das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Dessen ungeachtet hat das Verwaltungsgericht den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 Abs. 1 VwGO zu Recht als gegeben angesehen. Die Ingewahrsamnahme der Klägerin erfolgte nach übereinstimmendem Beteiligtenvorbringen in erster Linie zum Zweck der Gefahrenabwehr. Da es im jetzigen nachträglichen Rechtsschutzverfahren auch nicht um die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung im Sinne von § 40 Abs. 1 BPolG geht, ist mangels Sonderregelung im Bundespolizeigesetz der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben.

Vgl. OLG München, Beschluss vom 9. August 2007 - 34 Wx 31/07 u. a. -, juris Rdnr. 7; Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, F 601 (S. 599).

Die Klage ist, soweit sie noch Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist ausschließlich die Frage, ob die Ingewahrsamnahme der Klägerin am 17. Januar 2008 bereits in der Zeit zwischen 1:15 Uhr und 3:00 Uhr rechtswidrig war; über die Zeit danach hat das Verwaltungsgericht bereits rechtskräftig entschieden.

Die Klägerin ist durch die mit ihrer Entlassung am 17. Januar 2008 um 5:20 Uhr erledigte Anordnung durch Beamte der Beklagten in polizeilichen Gewahrsam genommen worden. Mit Blick auf die Erledigung der Ingewahrsamnahme kann die Klägerin ihr Begehren im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage weiter verfolgen. Sie hat entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit. Bei beendeten Freiheitsentziehungen besteht nach ständiger Rechtsprechung mit Blick auf den hohen Wert des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG regelmäßig - so auch hier - ein fortwährendes Rechtsschutzinteresse an einer Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs.

Vgl. OLG München, Beschluss vom 9. August 2007 - 34 Wx 31/07 u. a. -, juris Rdnr. 9 m. w. N.

Die Klage ist auch in dem noch streitgegenständlichen Umfang und damit insgesamt begründet. Die Klägerin ist zu Unrecht am 17. Januar 2008 um 1:15 Uhr durch Beamte der Beklagten in Gewahrsam genommen worden. Die Voraussetzungen des hierfür als Ermächtigungsgrundlage ausschließlich in Betracht kommenden § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG haben im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung der Ingewahrsamnahme,

vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1974 - 1 C 31.72 -, BVerwGE 45, 51; Sächs. OVG, Beschluss vom 5. Februar 2010 - 3 D 86/09 -, juris Rdnr. 4; Saarl. OVG, Urteil vom 2. Juli 2009 - 3 A 217/08 -, juris Rdnr. 90,

nicht vorgelegen. Nach dieser Vorschrift kann die Bundespolizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.

Diese Voraussetzungen waren am 17. Januar 2008 (bereits) um 1:15 Uhr nicht erfüllt.

Die Wendung "unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit" ist vor dem Hintergrund des hohen Rangs der Freiheit der Person zu verstehen. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen die Freiheit des Einzelnen unter Umständen zurücktreten muss, gehört der Schutz der Allgemeinheit und Einzelner vor mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Straftaten. Der Begriff "unmittelbar bevorstehend" ist gleichzusetzen mit "unmittelbar bevorstehende Gefahr" oder "gegenwärtige Gefahr". Hieraus ergeben sich besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts. Darüber hinaus stellt der Begriff im Regelfall strengere Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad. Demgemäß müssen nachvollziehbare, bestimmte Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass der Schaden sofort oder in allernächster Zeit und zudem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Bloße Vermutungen, vage Verdachtsgründe und ähnliches reichen hierfür nicht.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1974

- 1 C 31.72 -, BVerwGE 45, 51; OLG München, Beschluss vom 9. August 2007 - 34 Wx 31/07 u. a. -, juris Rdnr. 20 ff., insbesondere Rdnr. 24; OLG Rostock, Beschluss vom 21. August 2007 - 3 W 102/07 -, juris Rdnr. 16 ff.; Drewes/Malmberg/Walter, Bundespolizeigesetz, 4. Aufl. 2010, § 39 Rdnr. 14; Saarl. OVG, Urteil vom 2. Juli 2009 - 3 A 217/08 -, juris Rdnr. 80.

Als Orientierungshilfe kommt insoweit etwa in Betracht, ob der Betreffende angekündigt oder aufgefordert hat, rechtswidrige Taten zu begehen, ob er Waffen oder sonstige verbotene Gegenstände mitführt oder als Person anzusehen ist, die bereits aus vergleichbaren Anlässen als Störer angetroffen worden ist, soweit nach den Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweise unmittelbar zu erwarten ist.

Vgl. Drewes/Malmberg/Walter, a. a. O. § 39 Rdnr. 14; Lisken/Denninger, a. a. O., F 573 (S. 590).

Dies zu Grunde gelegt sind die besonderen Anforderungen, die an eine Ingewahrsamnahme nach § 39 Abs. 1 Satz 3 BPolG zu stellen sind, nicht erfüllt gewesen. Dabei kann auf sich beruhen, ob und ggf. welche Straftat- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände konkret in Betracht gekommen seien mögen (vgl. etwa §§ 240, 22 StGB, § 64 Abs. 2 Nr. 2, 5 EBO). Denn die am 16. Januar 2008 begonnene Seilaktion der Klägerin über dem Gleisbett der Hauptstrecke H. - N. bei Bahnkilometer 36,2 war durch die Beamten der Beklagten beendet worden. Schon mit Blick auf den für eine vergleichbare Aktivität zu leistenden Vorbereitungsaufwand bestand kein konkreter Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Begehung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit in allernächster Zeit erneut bevorgestanden haben könnte. Nach Beendigung der Seilaktion konnten im Rahmen der Aufklärung weder im Bereich der Bahnhöfe noch im Verlauf der Bahnstrecke Störer festgestellt werden (vgl. den Systemausdruck des Bundespolizeiamts L. vom 17. Januar 2008). Selbst wenn man zu Gunsten der Beklagten unterstellt, die klägerische Ausrüstung sei nicht schon mit Abschluss der Bergung sichergestellt worden, so fehlte jedenfalls jegliches Material, um etwaige Seile an weiteren Bäumen zu befestigen (Anbringvorrichtung). Bei dieser Würdigung kommt es nicht mehr darauf an, ob die Klägerin seinerzeit zu erschöpft war, weitere vergleichbare Aktionen zu begehen, oder zumindest diesen Eindruck erweckte. Selbst die Beklagte behauptet nicht, die Klägerin habe in der Vergangenheit jemals Kletteraktionen der in Rede stehenden Art in zeitlich engem Abstand durchgeführt. Nicht zuletzt mit Blick auf zu überwindende Entfernungen zu möglichen Alternativorten kann keine Rede davon sein, dass ein wie auch immer gearteter Schadenseintritt am 17. Januar 2008 um 1:15 Uhr in allernächster Zeit geschweige denn sofort bevorgestanden habe.

Die von der Beklagten hiergegen geführten Einwendungen greifen nicht durch. Telefongespräche und Lichtsignale während der Seilaktion vom 16. auf den 17. Januar 2008 lassen für sich genommen nicht auf eine - zudem zeitnahe - Wiederholung einer Seilaktion schließen. Soweit die Beklagte ausführt, weitere Aktionen hätten etwa mit Blick auf verschiedene Telefonate während der Seilaktion nicht ausgeschlossen werden können, liegt dem nicht der für § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG erforderliche Prognosemaßstab zu Grunde. Selbst wenn man nach den Feststellungen der Beklagten zu Grunde legt, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme keine Hilfsmittel zum Spannen der verwendeten Seile bei sich führte, fehlte es an tatsächlichen Anhaltspunkten, dass sich ein solches Hilfsmittel in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe des Einsatzortes für die Klägerin verfügbar befand. Auch etwaige Unterstützer der Klägerin, die mit einem Kraftfahrzeug unterwegs gewesen sein mögen, geben mit Blick auf zu überwindende Entfernungen und den Vorbereitungsaufwand für eine vergleichbare Anseilaktion nichts für eine unmittelbar bevorstehende Begehung einer Straftat oder schwerwiegenden Ordnungswidrigkeit her. Warum der vor der Seilaktion der Klägerin am Einsatzort deponierte Rucksack die Annahme stützen soll, es seien weitere Aktionen geplant gewesen, erschließt sich nicht. Derartige Überlegungen beinhalten allenfalls einen vagen Verdachtsgrund, der für die Annahme einer Gefahr nicht ausreicht. Bei dieser Sachlage kann auf sich beruhen, ob - wogegen allerdings mit Blick auf die (erst) spätere Zeugenaussage des DB-Lokführers am 18. Januar 2008 einiges spricht -, den Einsatzkräften der Beklagten die Tatsache bekannt war, dass ein Rucksack im Bereich des Einsatzortes deponiert gewesen war.

Aus den später sichergestellten handschriftlichen Aufzeichnungen der Klägerin ergibt sich selbst dann keine abweichende Beurteilung, wenn diese den Einsatzbeamten im Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme der Klägerin bekannt gewesen sein sollten. Denn sie beschränken sich auf die Zeit zwischen 17:02 Uhr und 20:45 Uhr sowie den Streckenabschnitt P. - N1. . Es ist weder etwas dafür ersichtlich noch vorgetragen, dass die Klägerin weitere Aufzeichnungen bei sich führte, die den nachfolgenden Zuglauf betrafen. Die Tatsache, dass die Klägerin den vorausgehenden Aufforderungen der Einsatzbeamten, die Seilaktion zu beenden, nicht Folge geleistet hatte, rechtfertigt ebenfalls keine andere Bewertung. Hieraus ergibt sich nichts dafür, dass nach Ende der Seilaktion mit erfolgter Bergung der Klägerin eine vergleichbare Aktion unmittelbar bevor gestanden haben könnte.

Eine Gesamtschau aller vorstehend geschilderten Tatsachen begründet ebenfalls nicht die Annahme, eine den Tatbestand einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung verwirklichende Handlung der Klägerin sei in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen. Selbst wenn wegen des hier in Rede stehenden Schadensumfangs ein geringerer Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzunehmen sein sollte, rechtfertigt dies keine abweichende Beurteilung. Die gegenteilige Einschätzung der Beklagten lässt bloße Vermutungen ausreichen, die an vereinzelte Tatsachen anknüpfen. Derartiges reicht - wie dargelegt - zur Begründung der zu stellenden Gefahrenprognose nicht aus.

Unabhängig von vorstehenden Ausführungen war die Ingewahrsamnahme der Klägerin auch nicht "unerlässlich" im Sinne von § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG. Unerlässlich ist eine Ingewahrsamnahme, wenn sie zur Verhütung der befürchteten Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit geeignet und erforderlich ist. Wenn die im Raum stehende Handlung durch eine polizeiliche Maßnahme verhindert werden kann, die den Einzelnen und die Allgemeinheit weniger beeinträchtigt, ist sie nicht unerlässlich.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1974 - 1 C 31.72 -, BVerwGE 45, 51; Drewes/Malmberg/Walter, a. a. O., § 39 Rdnr. 16.

Der Gewahrsam ist mit anderen Worten das äußerste polizeiliche Mittel, um Schäden zu verhindern.

Vgl. Lisken/Denninger, a. a. O., F 578 (S. 592).

Mangels jeglichen konkreten Anhaltspunkts für vergleichbares Tatmaterial im weiteren Verlauf der Strecke waren zum Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme der Klägerin am 17. Januar 2008 um 1:15 Uhr die Sicherstellung ihrer Kletterausrüstung in Verbindung mit einem Platzverweis, bezogen auf die Bahnstrecke bis N. , A. -O. (vgl. § 38 BPolG), die die Klägerin und die Allgemeinheit weniger beeinträchtigenden Maßnahmen, die möglicherweise bevorstehende Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit verhindert hätten. Da tatsächliche Anhaltspunkte für unmittelbar bevorstehende, vergleichbare Seilaktionen fehlten, war seinerzeit nicht erkennbar, dass diese Maßnahmen von vornherein zur Gefahrenabwehr ungeeignet gewesen wären. Insbesondere gab die Klägerin, die sich beim Abseilen durch Beamte der Beklagten friedlich verhalten hatte, keinen Anlass für die Annahme, dass sie einen derartigen Platzverweis missachtet hätte.

Ob die Ingewahrsamnahme auch wegen Fehlens einer richterlichen Entscheidung nach § 40 Abs. 1 BPolG rechtswidrig ist - was mit Blick auf den Anordnungszeitpunkt um 1:15 Uhr am 17. Januar 2008 und die Dauer der Ingewahrsamnahme bis 5:20 Uhr nicht naheliegt -,

vgl. auch Sächs. OVG, Beschluss vom 5. Februar 2010 - 3 D 86/09 -, juris Rdnr. 6,

kann auf sich beruhen.

Dass die Ingewahrsamnahme der Klägerin am 17. Januar 2008 um 1:15 Uhr auf Grund anderer Rechtsvorschriften rechtmäßig sein könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere scheidet § 163 b Abs. 1 Satz 2 StPO unabhängig von weiteren Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung der in Rede stehenden Art schon wegen der mit ihr einhergehenden Dauer aus.

Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, Beschlüsse vom 8. März 2011 - 1 BvR 47/05 u. a. -, DVBl. 2011, 623, 624.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 Sätze 1 und 2 ZPO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2 GKG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).