OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.10.2011 - 13 B 1215/11
Fundstelle
openJur 2012, 82378
  • Rkr:
Tenor

Die Vollziehung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 28. September 2011 wird bis zur Entscheidung über die Beschwerde ausgesetzt.

Gründe

Die Entscheidung über den von der Antragsgegnerin gestellten Antrag nach § 173 VwGO, § 570 Abs. 3 ZPO, der die Vollziehung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 28. September 2011 betrifft, ist in das Ermessen des Gerichts gestellt. Eine einstweilige Aussetzung der Vollziehung kommt nur in Betracht, wenn sich die angegriffene Entscheidung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als fehlerhaft erweist oder unter Berücksichtigung aller für und gegen die Aussetzung sprechenden Umstände zu erkennen ist, dass ihre Vollziehung den unterlegenen Beteiligten unzumutbar belastet.

Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 149 Rn. 4, Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Loseblattkommentar zur VwGO, Stand Mai 2010, § 149 Rn. 7.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Der Senat hält bei der in einem Zwischenverfahren nur möglichen und gebotenen Prüfungsdichte das Ergebnis der Wertung des Verwaltungsgerichts nicht für zutreffend, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Zulassung zum Studium der Tiermedizin hat. Es ist derzeit nicht ersichtlich, dass der Antragsteller endgültig keinen Studienplatz erhalten wird (1.); ferner sieht der Senat keinen grundsätzlichen Vorrang des möglicherweise überlang wartenden Studienbewerbers vor anderen Bewerbern als gegeben an (2.). Abgesehen hiervon obliegt den zuständigen Gesetzgebungsorganen im Hinblick auf die tatsächliche Entwicklung des hochschulzulassungsrechtlichen Vergabeverfahrens eine Beobachtungs- und gegebenenfalls eine Nachbesserungspflicht (3.).

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG ein Anspruch des Staatsbürgers auf Zulassung zum Studium seiner Wahl, wenn er die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllt. Gleichwohl steht ein solcher Anspruch unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat für die mit dem absoluten numerus clausus verbundenen besonders weitreichenden Beeinträchtigungen entschieden, dass eine Einschränkung auf formalgesetzlicher Grundlage erfolgen kann, wenn bei erschöpfender Nutzung der vorhandenen Kapazitäten eine Auswahl und Verteilung nach sachgerechten Kriterien mit einer Zulassungschance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber sichergestellt ist.

Vgl. BVerfG, Urteile vom 18. Juli 1972 - 1 BvL 32/70, 1 BvL 25/71 -, BVerfGE 33, 303, 333, und vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u.a. -, BVerfGE 43, 291, 313 f.

An den vom Bundesverfassungsgericht in den zitierten Urteilen näher beschriebenen formellen und materiellen Vorgaben ist die Hochschulzulassung auszurichten. Ein erkannter Verstoß gegen diese Voraussetzungen - anders als bei der nicht vergleichbaren Situation nicht ausgeschöpfter Kapazitäten führt nicht zu einem unbeschränkten Zulassungsanspruch aus Art. 12 Abs. 1 GG.

Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2010 13 B 1557/10 -, NVwZ-RR 2011, 408, 412 f.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt das verfassungsrechtlich geschützte Zulassungsrecht keine Zulassungsgarantie, sondern schließt in überfüllten Studiengängen das Risiko eines Fehlschlags ein.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. November 1981 - 1 BvR 632/80 u. a. -, BVerfGE 59, 1, 25 m. w. N.

Für die Beurteilung der Frage, welche Dauer der Wartezeit im Rahmen des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren bei Studiengängen mit einem absoluten numerus clausus noch als zumutbar angesehen werden kann und was ggf. bei einer Unzumutbarkeit verfassungsrechtlich zu gelten hat, gibt es nach Auffassung des Senats keine eindeutige Antwort.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Juni 2011 13 C 45/11 -, juris.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u. a. -, a. a. O. S. 319 - von unzumutbar langen Wartezeiten gesprochen, wenn der Bewerber "bis zu sieben Jahren auf eine Zulassung zum Studium seiner Wahl warten muss". Damit kann als Maßstab für eine zumutbar lange Wartezeit auf die normale Dauer eines Studiums abzustellen sein.

Vgl. Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage 2003, S. 125.

Im Sinne von § 10 Abs. 2 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) beträgt die Regelstudienzeit für das Studium der Tiermedizin nach § 1 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung zur Approbation von Tierärztinnen und Tierärzten (TAppV) fünf Jahre und sechs Monate. Ob die Auswahlgrenzen, die sich in der Wartezeitquote zum Wintersemester 2011/2012 für das Tiermedizinstudium ergeben haben, zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen Minimierung der Zulassungschancen führen, ist ungewiss. Ob angesichts einer Wartezeit von (wahrscheinlich) 14 Semestern ein Zuwarten für den Studierwilligen auf den Beginn des Tiermedizinstudiums den verfassungsrechtlichen Anspruch auf freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip) unzumutbar beeinträchtigt, ist gleichfalls unsicher. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem genannten Urteil, dem nach dessen Einschätzung auch unzumutbar lange Wartezeiten von bis zu sieben Jahren zugrunde lagen, jedenfalls weder einen unmittelbaren Zugangsanspruch des Bewerbers angenommen noch eine Nichtigkeit des staatsvertraglichen Auswahlsystems bejaht, sondern die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers angenommen, für die harten Numerusclausus-Fächer beschleunigt ein verbessertes Auswahlverfahren einzuführen (a. a. O. S. 321). Auch wenn der Antragsteller sich aufgrund seiner Wartezeit in der Situation befindet, bereits länger als die Dauer des Regelstudiums auf die Zulassung zum Studium der Tiermedizin zu warten, folgt hieraus nicht, gerade in dem in Rede stehenden Wintersemester 2011/2012 zugelassen zu werden. Dies dürfte sich aus den Grundrechten nicht herleiten lassen. Eine Benachteiligung wäre erst dann als Grundrechtsverletzung zu beurteilen, wenn sich diese Benachteiligung nicht mehr ausgleichen ließe und der Studienplatzbewerber endgültig keinen Studienplatz erhielte.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. November 1981 - 1 BvR 632/80 u. a. -, a. a. O. S. 35.

Vorliegend kann der Senat aber nicht erkennen, dass der Antragsteller hinsichtlich seines gewünschten Studiums nicht mehr zum Zuge kommen wird. Vielmehr ist, wie die Antragsgegnerin auf telefonische Nachfrage erklärt hat, derzeit davon auszugehen, dass eine Zulassung zum Wintersemester 2012/2013 hinreichend wahrscheinlich sei. Damit wäre die verfassungsrechtlich abgesicherte Chance auf eine (möglicherweise verspätete) Zulassung zum gewünschten Studium noch gegeben.

2. Bereits aus dem Vorstehenden folgt, dass der Antrag des Antragstellers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hinsichtlich der begehrten Zulassung zum Studium voraussichtlich ohne Erfolg bleiben dürfte. Die Vollziehung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung würde Bewerber im Auswahlverfahren der Hochschulen verdrängen. Dazu merkt der Senat an, dass ein grundsätzlicher Vorrang des möglicherweise überlang wartenden Studienbewerbers nicht ohne Weiteres bejaht werden kann. Ob und gegebenenfalls in welchem rechtlichen Umfang eine materiellrechtlich geschützte Rechtsposition des im Auswahlverfahren der Hochschulen sich befindenden und auf einer Rangliste geführten Konkurrenten besteht, wie die Antragsgegnerin meint, kann in der Kürze der Zeit nicht näher beurteilt werden und muss, falls es hierauf ankommen sollte, einer späteren Entscheidung vorbehalten bleiben. Hierzu gehört auch die Frage, ob das hochschulrechtliche Zulassungsverfahren einer Einzelfallabwägung kollidierender und im Grundsatz gleichrangiger Rechtsgüter der Bewerber überhaupt zugänglich ist. Denn das Zulassungsregime basiert auf einer von den Ländern und ihren Gesetzgebern getroffenen Bewertung und Gewichtung unterschiedlicher Umstände und Größen (etwa die Bestimmung von Quoten in der Vergabeverordnung) bis hin zur Berechnung der Hochschulkapazitäten.

3. Der Senat geht nach wie vor davon aus, dass auch bei einer unzumutbar langen Wartezeit des Studienbewerbers ein unmittelbarer Anspruch auf Zulassung zum gewünschten Studium nicht entsteht.

Vgl. auch Bay VGH, Beschluss vom 21. September 2011 - 7 CE 11.10660 -, abrufbar unter http://www.landesanwaltschaft.bayern.de/images/PDFs/2011/7a10660b.pdf.

Vielmehr obliegt die Entscheidung über Umfang und Prioritäten des Hochschulausbaus in erster Linie dem Gesetzgeber selbst.

Vgl. auch BVerfG, Urteil vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u.a. -, a. a. O. S. 321.

Hiervon ausgehend hat der Normgeber unter Beachtung der bekannten verfassungsrechtlichen Vorgaben

- vgl. BVerfG, Urteile vom 18. Juli 1972 - 1 BvL 32/70, 1 BvL 25/71 -, a. a. O., und vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u.a. -, a. a. O., sowie Beschluss vom 3. November 1981 - 1 BvR 632/80 u. a. -

selbst ein verfassungsgemäßes Auswahlverfahren zu schaffen und die tatsächliche Entwicklung des hochschulzulassungsrechtlichen Vergabeverfahrens zu beobachten und gegebenenfalls das Verfahren nachzubessern. Angesichts überlanger Wartezeiten kann freilich Anlass bestehen, entsprechenden Handlungsbedarf zu bejahen. Dies kann insbesondere die Frage betreffen, ob die tatsächlichen Verhältnisse, die Grundlage für die Schaffung und Ausgestaltung der Abiturbestenquote und Wartezeitquote waren, sich entscheidend verändert haben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.