VG Minden, Urteil vom 01.04.2011 - 9 K 2100/09
Fundstelle
openJur 2012, 79509
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Baugenehmigung vom 29.05.2001 hinsichtlich der Wohnung Nr. 1 verpflichtet, den Beigeladenen zu 1. und zu 2. die Nutzung der Wohnung Nr. 1 im Gebäude I.------straße 1, 1a in M. (Gemarkung M. , Flur 44, Flurstück 480) als Wohnung oder Wohnraum zu untersagen und der Beigeladenen zu 3. aufzugeben, die zwei Fenster an der Nordseite der Wohnung Nr. 1 dauerhaft zu verschließen und eine Gebäudeabschlusswand herzustellen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen zu 1. und zu 2. sowie der Beigeladenen zu 3. sind nicht erstattungsfähig.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt bauaufsichtliches Einschreiten der Beklagten hinsichtlich der Wohnung I.------straße 1a, die im Sondereigentum der Beigeladenen zu 1. und zu 2. steht. Die Beigeladene zu 3. ist die Wohnungseigentümergemeinschaft I.------straße 1, 1a in M. , die aus vier Wohnungen besteht.

Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks Gemarkung M. , Flur 44, Flurstück 55 (I.------straße 3), das mit einem Mehrfamilienhaus bebaut ist. Die Beigeladenen zu 1. und zu 2. haben das Sondereigentum an der in südlicher Richtung angrenzenden Wohnung im Wohnhaus I.------straße 1,1 a in M. (Gemarkung M. , Flur 44, Flurstück 480). Ihre Wohnung ist ein ehemals als Backstube und Lager genehmigter Anbau, der nach Norden zum Grundstück der Klägerin grenzständig errichtet wurde. Beide Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 01.05 "H. " der Stadt M. .

Das Gebäude I.------straße 1 wurde 1962 als Wohn- und Geschäftshaus (Bäckerei) mit grenzständiger Garage genehmigt. Am 06.06.1968 genehmigte die Beklagte den Anbau einer eingeschossigen Backstube mit Flachdach in einem Abstand von 3,00 m zum Grundstück der Klägerin. Am 13.11.1970 wurde die Erweiterung des Anbaus in Verlängerung der vorhandenen Garage, wobei ein nicht bebauter Bereich mit einer Breite von 2,70 m verblieb, für einen Lagerraum beantragt. Hierfür wurde am 30.03.1971 auf dem Grundstück der Klägerin eine Baulast mit folgendem Inhalt eingetragen:

"Der auf dem Flurstück 59 an der gemeinsamen Grenze zu den Flurstücken 55 und 58 fehlende Bauwich in Größe von 37,96 qm für den Anbau eines Lagerraumes wird - wie im Lageplan grün schraffiert angelegt - auf das Flurstück 55 übernommen, auf dort vorgeschriebene Bauwiche, Abstandsflächen und Abstände nicht angerechnet und nicht überbaut."

Der grenzständige Anbau, den die Beklagte mit Bescheid vom 31.03.1971 genehmigte, wies keine Fenster oder sonstige Öffnungen zum Grundstück der Klägerin auf.

Am 23.04.2001 stellte der Rechtsvorgänger der Beigeladenen zu 1. und zu 2. beim Beklagten den Bauantrag für den Umbau des Wohn- und Geschäftshauses in ein Mehrfamilienwohnhaus mit vier Garagen. Hierfür sollte u.a. der eingeschossige Anbau, der inzwischen bis zur grenzständigen Garage reichte, zur Wohnung Nr. 1 ausgebaut und die grenzständige Nordwand mit zwei neuen Fenstern geöffnet werden. Die Beigeladenen zu 1. und zu 2. kauften die Wohnung vom Voreigentümer mit Kaufvertrag vom 17.05.2001. Diesem erlaubte die Beklagte mit Bescheid vom 29.05.2001 den Umbau in ein Mehrfamilienhaus. Außerdem erteilte sie die Befreiung für das Wohnen außerhalb der im Bebauungsplan festgesetzten nicht überbaubaren Grundstücksfläche. Nach dem Baubeginn am 27.06.2001 beschwerte sich die Klägerin mit Schreiben vom 06.02.2002 bei der Beklagten über die Nutzungsänderung und widersprach dem Einbau von Fenstern an der Nordseite des grenzständigen Anbaus. Die Baugenehmigung vom 29.05.2001 war ihr nicht zugestellt worden.

Mit Schreiben vom 13.05.2002 legte die Beklagte den Widerspruch der Klägerin dem Kreis M1. als Widerspruchsbehörde zur Entscheidung vor und wies darauf hin, dass die Nutzungsänderung und der Einbau von zwei Fenstern in der grenzständigen Wand nach § 6 Abs. 15 BauO NRW zu genehmigen gewesen sei. Am 28.01.2003 erfolgte die Eintragung der Beigeladenen zu 1. und zu 2. in das Grundbuch. Der rechtlichen Einschätzung der Beklagten schloss sich die Widerspruchsbehörde nicht an und bat sie mit Schreiben vom 16.06.2006, in eigener Zuständigkeit zu entscheiden. Nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 26.01.2007 ihr Einverständnis mit einer Duldung der damaligen Grenzsituation verweigert und auch die Eintragung einer weitergehenden Baulast abgelehnt hatte, legte die Beklagte den Widerspruch mit Schreiben vom 08.02.2007 der Widerspruchsbehörde erneut zur Entscheidung vor.

Mit Schreiben vom 19.03.2007 wies die Widerspruchsbehörde die Beklagte an, die Baugenehmigung vom 29.05.2001 bezüglich der Wohnung Nr. 1 aufzuheben. Nach Anhörung des Voreigentümers der Beigeladenen zu 1. und zu 2. hob die Beklagte mit Verfügung vom 16.05.2007 die Baugenehmigung vom 29.05.2001 bezüglich der Wohnung 1 gegenüber dem damaligen Bauantragsteller auf. Zur Begründung heißt es dort: Der grenzständige Anbau halte die gemäß § 6 BauO NRW erforderliche Abstandfläche nicht ein. Die auf dem Nachbargrundstück eingetragene Baulast beziehe sich nur auf einen Lagerraum und nicht auf eine Wohnnutzung. Die Nutzungsänderung sei auch nicht nach § 6 Abs. 15 BauO NRW genehmigungsfähig, da Gründe des Brandschutzes entgegenständen. In der Gebäudeabschlusswand seien Öffnungen unzulässig. Eine brandschutztechnische Flächenbaulast sei nicht eingetragen worden. Eine Durchschrift des Aufhebungsbescheids ging an die Beigeladenen zu 1. und zu 2. Mit Widerspruchsbescheid des Kreises M1. vom 15.10.2007 wurde das Widerspruchsverfahren eingestellt und die Kosten der Beklagten auferlegt.

Mit Schreiben vom 07.05.2009 wies die Klägerin darauf hin, dass nach Aufhebung der Baugenehmigung der Rückbau der Fenster nicht erfolgt sei und die Wohnung immer noch genutzt werde. Sie forderte die Beklagte auf, für die Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes Sorge zu tragen. Óber den Antrag der Klägerin wurde nicht entschieden.

Am 21.08.2009 hat die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben und zur Begründung vorgetragen: Die Aufhebung der Baugenehmigung durch die Beklagte habe den baurechtswidrigen Zustand nicht beendet. Die Wohnung werde weiterhin bauordnungswidrig genutzt. Die Fenster seien nach wie vor vorhanden. Auch auf die erneute Mahnung vom 07.05.2009, den baurechtswidrigen Zustand zu beseitigen, sei nichts passiert. Die Beklagte sei verpflichtet, die Folgen ihres rechtswidrigen Verwaltungshandelns - die Erteilung der Baugenehmigung vom 29.05.2001 - zu beseitigen. Ihr Ermessen sei auf Null reduziert, so dass die Klägerin einen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten habe. Der Anspruch der Klägerin sei auch nicht verwirkt. Sie habe kein Verhalten an den Tag gelegt, aus dem die Beklagte einen Verzicht auf die Herstellung rechtmäßiger Zustände habe schließen können.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, den Beigeladenen zu 1. und zu 2. die Nutzung der Wohnung Nr. 1 im Gebäude I1.-----straße 1, 1 a in M. (Gemarkung M. , Flur 44, Flurstück 480) als Wohnung oder Wohnraum zu untersagen und der Beigeladenen zu 3. aufzugeben, die zwei Fenster an der Nordseite der Wohnung Nr. 1 dauerhaft zu verschließen und eine Gebäudeabschlusswand herzustellen,

hilfsweise,

die Beklagte unter Aufhebung der Baugenehmigung und des Befreiungsbescheides vom 29.05.2001 hinsichtlich der Wohnung Nr. 1,

weiterhin hilfsweise,

die Beklagte unter Aufhebung der gesamten Baugenehmigung und des Befreiungsbescheides vom 29.05.2001

zu verpflichten, den Beigeladenen zu 1. und zu 2. die Nutzung der Wohnung Nr. 1 im Gebäude I1.-----straße 1, 1 a in M. (Gemarkung M. , Flur 44, Flurstück 480) als Wohnung oder Wohnraum zu untersagen und der Beigeladenen zu 3. aufzugeben, die zwei Fenster an der Nordseite der Wohnung Nr. 1 dauerhaft zu verschließen und eine Gebäudeabschlusswand herzustellen

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie macht geltend, der Anspruch der Klägerin auf bauaufsichtliches Einschreiten sei verwirkt. Nachdem die Baugenehmigung für die Eigentumswohnung der Beigeladenen aufgehoben worden sei, seien erneut zwei Jahre verstrichen, in denen die Klägerin ihr Begehren nicht konsequent weiter verfolgt habe. Die Wohnnutzung sei darüber hinaus nach § 6 Abs. 15 BauO NRW genehmigungsfähig. Bei der Abwägung der nachbarlichen Interessen würden die Interessen der Beigeladenen zu 1. und zu 2. an der Wohnnutzung überwiegen. Es sei festzustellen, dass die vormals auf dem Grundstück befindliche gewerbliche Nutzung einer dem Wohnen verträglichere Nutzung gewichen sei. Eine Gebäudeerweiterung zu Lasten der Klägerin sei nicht erfolgt. Auch sei in dem Gebäude zuvor bereits Wohnen vorhanden gewesen, so dass objektiv mit einer Umnutzung zu Wohnzwecken zu rechnen gewesen sei. Zudem stelle die Umnutzung des ehemaligen Lagerraumes als Teil einer Wohnung eine wirtschaftlich sinnvolle Nutzung dar. Vor diesem Hintergrund könnten die Beeinträchtigungen der Klägerin im Hinblick auf den sozialen Frieden zurückstehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt könnten auch Belange des Brandschutzes auf dem Grundstück der Klägerin zurückstehen.

Die Beigeladenen zu 1. und zu 2. sowie die Beigeladene zu 3. stellen keine Anträge.

Die Einzelrichterin hat die Örtlichkeit anlässlich eines Erörterungstermins in Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll vom 09.12.2010 verwiesen. Mit Beschluss vom 31.01.2011 ist das Verfahren der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (4 Hefter) Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.

Die Klage - sowohl das Drittanfechtungsbegehren als auch das Verpflichtungsbegehren auf bauaufsichtliches Einschreiten - ist als Untätigkeitsklage im Sinne des § 75 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zulässig. Denn die Beklagte hat über den Antrag der Klägerin vom 07.05.2009, hinsichtlich der Wohnnutzung und der Fenster an der Nordseite der Wohnung der Beigeladenen zu 1. und zu 2. einzuschreiten, ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden, § 75 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Antrag ist trotz Anfragen der Klägerin auch im Klageverfahren nicht beschieden worden. Für den Fall, dass der Rücknahmebescheid der Beklagten vom 16.05.2007 ins Leere gegangen ist, gilt dies auch für ihren im Widerspruchsverfahren geltend gemachten Antrag auf Aufhebung der Baugenehmigung vom 29.05.2001, der im vorliegenden Klageverfahren entsprechend auszulegen ist.

Die Klage ist auch begründet.

Die erteilte Baugenehmigung vom 29.05.2001 ist bezüglich der Wohnung Nr. 1 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (vgl. I.). Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erlass einer Bauordnungsverfügung, mit der hinsichtlich der Wohnung Nr. 1 bauaufsichtlich eingeschritten wird, § 113 Abs. 5 VwGO. Das Ermessen der Beklagten hinsichtlich des "Wie" des bauaufsichtlichen Einschreitens ist dahingehend auf Null reduziert, dass den Beigeladenen zu 1. und zu 2. die Nutzung der Wohnung Nr. 1 im Gebäude I.------straße 1, 1a in M. (Gemarkung M. , Flur 44, Flurstück 480) als Wohnung oder Wohnraum untersagt wird und der Beigeladenen zu 3. aufgegeben wird, die zwei Fenster an der Nordseite der Wohnung Nr. 1 dauerhaft zu verschließen und eine Gebäudeabschlusswand herzustellen (vgl. II.). Ihre Abwehransprüche hat die Klägerin auch nicht verwirkt (vgl. III.).

I. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf (erneute) Aufhebung der Baugenehmigung vom 29.05.2001 hinsichtlich der Wohnung Nr. 1.

Die Baugenehmigung der Beklagten vom 29.05.2001 ist auch noch hinsichtlich der Wohnung Nr. 1 "in der Welt". Die diesbezügliche Aufhebungsverfügung bzw. die Rücknahme der Beklagten vom 16.05.2007 ist ins Leere gegangen. Die Verfügung wurde seinerzeit an den Bauantragsteller, Herrn T. C. , adressiert, der am 23.04.2001 den Antrag auf Umbau des Wohn- und Geschäftshauses in ein Mehrfamilienwohnhaus mit vier Garagen gestellt hatte. Im Zeitpunkt der Rücknahme der Baugenehmigung war dieser aber nicht mehr Bauherr im Sinne des § 57 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen - BauO NRW -, weil mit der Fertigstellung des Bauvorhabens und der Óbertragung des Eigentums an der Wohnung an die Beigeladenen zu 1. und zu 2. seine Verfügungsgewalt endete. Mangels einer Begriffsdefinition in der BauO NRW ist nach der Rechtsprechung Bauherr, wer eine bauliche Anlage oder eine andere Anlage oder Einrichtung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW errichten, ändern, instand halten, abbrechen oder in der Nutzung ändern will, unabhängig davon, ob er Eigentümer des Baugrundstück, der Anlage oder Einrichtung ist, wenn er seinen diesbezüglichen Willen nach außen, sei es durch Stellung eines Bauantrags, sei es in sonstiger Weise schlüssig bekundet hat. Weil die öffentlichrechtliche Bauherreneigenschaft unabhängig vom Grundeigentum oder einem aus dem Grundeigentum abgeleiteten privaten Nutzungsrecht übertragen werden kann, wirkt sich auch der Wechsel im Eigentum nicht zwangsläufig auf sie aus.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.01.2010 - 4 C 6/08 -, BauR 2010, 1049; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.07.1966 - 1 A 78/65 -, BRS 66 Nr. 146; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Kommentar, Loseblatt Stand Dezember 2010, § 57, Rdnr. 9.

Mit der Óbertragung des Sondereigentums an der Wohnung Nr. 1 und dem Óbergang der Baugenehmigung gemäß § 75 Abs. 2 BauO NRW ging vorliegend aber mit einher, dass die Baumaßnahme spätestens mit dem Eigentumsübergang im Jahre 2003 abgeschlossen war. Nach Abschluss des Kaufvertrages am 17.05.2001 erfolgte bereits im gleichen Jahr die Aufnahme der Wohnnutzung in dem vormals als Lager genutzten Anbau durch die Beigeladenen zu 1. und zu 2. Am 28.01.2003 wurden sie als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen. Mit der tatsächlichen Fertigstellung des Baus und der Aufnahme der Wohnnutzung endete auch die Bauherreneigenschaft des Rechtsvorgängers der Beigeladenen zu 1. und zu 2. Denn die Bauherreneigenschaft und die Verantwortlichkeit des Bauherrn enden grundsätzlich mit dem Abschluss der jeweiligen baulichen Maßnahme, so dass die Baugenehmigung ihm gegenüber auch nicht mehr widerrufen werden kann.

Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 08.12.1978 - I A 24/78 -, BRS 35 Nr. 168; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Kommentar, Loseblatt Stand Dezember 2010, § 57, Rdnr. 10; Gädtke/Czepuck/Johlen/Plietz/Wenzel, BauO NRW, Kommentar, 12. Auflage 2011, § 57, Rdnr. 13.

Demgegenüber kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, dass der Rechtsvorgänger der Beigeladenen zu 1. und zu 2. mangels einer abschließenden Bauzustandsbesichtigung gemäß § 82 BauO NRW im Zeitpunkt der Aufhebungsverfügung im Jahre 2007 immer noch als Bauherr galt. Die Beklagte hat bis heute ohne erkennbaren sachlichen Grund - der gegen die Baugenehmigung eingelegte (Dritt-)Widerspruch der Klägerin ist kein solcher - die abschließende Bauzustandsbesichtigung der Wohnung Nr. 1 nicht vorgenommen, obschon sie die Wohnungen Nr. 2, 3 und 4 im Gebäude I.------straße 1, 1a bereits am 12.02.2002 abgenommen hatte. Zugleich ist sie seit Erteilung der Baugenehmigung nicht gegen die Nutzung der Wohnung Nr. 1 eingeschritten.

Die Wohnung der Beigeladenen zu 1. und zu 2. hätte die Beklagte im Jahre 2001 nicht genehmigen dürfen, weil dem Vorhaben öffentlichrechtliche Vorschriften entgegenstehen, § 75 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW. Die genehmigte Wohnung Nr. 1 verstößt gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts, die auch zum Schutz der Klägerin bestimmt sind.

Die Wohnung in dem grenzständigen Anbau hält zum Grundstück der Klägerin nicht die erforderliche Abstandfläche ein. Nach § 6 Abs. 1 BauO NRW in der Fassung der Bekanntmachung vom 01.03.2000 (im Folgenden: BauO NRW 2000) sind bei der - hier durch den Bebauungsplan Nr. 1.05 "H. " vorgeschriebenen - Errichtung von Gebäuden in offener Bauweise vor den Außenwänden Abstandflächen freizuhalten, die auf dem Grundstück selbst liegen müssen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW 2000) und deren Tiefe - mangels einer Privilegierung gemäß § 6 Abs. 11 BauO NRW 2000 - mindestens 3,00 m betragen muss (§ 6 Abs. 5 Satz 5 BauO NRW 2000). Die Wohnung der Beigeladenen zu 1. und zu 2. entspricht nicht diesen Vorschriften, da sie unmittelbar bis an die Grundstücksgrenze der Klägerin heranreicht. Zwar hat die Rechtsvorgängerin der Klägerin durch die im Jahre 1971 eingetragene Baulast die Abstandfläche für den damals dort vorhandenen Lageranbau auf ihr Grundstück übernommen. Die Nichteinhaltung der Abstandfläche durch die Wohnung Nr. 1 ist jedoch durch diese Baulast nicht gedeckt, da diese damals nur vorhabenbezogen - für den Lageranbau - bewilligt wurde. Bei der Prüfung der Frage, ob eine Baulast, die für ein bestimmtes Bauvorhaben übernommen worden ist, auch für etwas anderes in Anspruch genommen werden kann, ist darauf abzustellen, wie der Inhalt der jeweiligen konkreten Baulast bei verständiger Würdigung zu verstehen ist.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.09.2004 - 7 B 1494/04 -,

NVwZ-RR 2005, 459 ff.

Bei der Auslegung der Willenserklärung des Baulastgebers im Hinblick auf die Prüfung der inhaltlichen Reichweite der Verpflichtung sind daher die konkreten objektiven Gegebenheiten in den Blick zu nehmen, die zur Eintragung der Baulast geführt haben.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.10.1997 - 7 B 1974/97 -

BRS 59 Nr. 228.

Im Regelfall ist eine Baulast vorhabenbezogen, so dass sie im Zweifel nur ein unmittelbar vor der Verwirklichung stehendes konkretes Bauvorhaben sichern soll.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.10.1997 - 7 B 1974/97 -, BRS 59 Nr. 228; Urteil vom 15.05.1992 - 11 A 890/91 -, BRS 54 Nr. 158; Urteil vom 30.11.1989 - 7 A 772/88 -, BRS 49 Nr. 130; a.A. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.10.2000 - 8 S 1445/00 -, BRS 63 Nr. 184.

Das ist hier auch der Fall gewesen. Der Óbernahme der Baulast lag ausweislich der von der Beklagten für das Grundstück der Beigeladenen zu 1. und zu 2. geführten Hausakte (Beiakte Nr. 4), die die Kammer beigezogen hat, ein Bauantrag des Rechtsvorgängers der Beigeladenen zu 1. und zu 2. für den Anbau eines Lagerraumes zugrunde. Da dieser ausweislich des damaligen Bauantrags grenzständig errichtet werden sollte, verlangte die Beklagte mit Schreiben vom 15.03.1971 die Beibringung einer Baulast durch die Nachbarin. Nach § 9 Abs. 1 der damals geltenden Landesbauordnung vom 27.01.1970 - BauO NW 1970 - konnte der nach § 7 BauO NW 1970 einzuhaltende Mindestabstand von 3,00 m von der Grundstücksgrenze (Bauwich) durch Eintragung einer Baulast gemäß § 99 BauO NW 1970 auf das Nachbargrundstück übernommen werden (vgl. heute §§ 6, 83 BauO NRW). Dementsprechend hat die Rechtsvorgängerin der Klägerin - wie auch aus dem Wortlaut des Eintragungstextes erkennbar wird - die Baulast nur "für den Anbau eines Lagerraumes" übernommen.

Abgesehen von der Vorhabenbezogenheit der eingetragenen Baulast erfasst diese auch nicht die gesamte Tiefe des heutigen Anbaus; außen vor bleibt der als Abstellraum genehmigte Teil der Wohnung Nr. 1. Dieser Bereich sollte nach den Bauplänen aus dem Jahre 1970 nicht bebaut werden. Hierfür hätte die Rechtsvorgängerin der Klägerin keine Baulast übernehmen können, weil dort auf dem Grundstück die Abstandfläche ihres eigenen Wohnhauses lag.

Die Wohnnutzung ist nicht gemäß § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW 2000 zulässig. Danach können bei Nutzungsänderungen sowie bei geringfügigen baulichen Änderungen bestehender Gebäude ohne Veränderung von Länge und Höhe der den Nachbargrenzen zugekehrten Wände unter Würdigung nachbarlicher Belange geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen. Angesichts des Umfangs der Umbauarbeiten - Entkernung der ehemaligen Backstube und des Lagerraums mit neuer Raumaufteilung und neuen Fensteröffnungen - spricht bereits vieles dafür, dass das Vorhaben das Merkmal der Geringfügigkeit deutlich überschreitet.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 16.03.2007 - 10 B 14/07 -.

Jedenfalls stehen der genehmigten Wohnnutzung nachbarliche Belange entgegen. Maßgebend für die Prüfung, ob geringere Tiefen der Abstandflächen unter Würdigung nachbarlicher Belange gestattet werden können, ist eine letztlich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung der Interessen des Bauherrn an der geänderten Nutzung seines Vorhabens mit der Schutzbedürftigkeit der nachbarlichen Belange. In die Abwägung sind die im Einzelfall betroffenen Belange einzustellen und ist zu berücksichtigen, in welchen Maß die nachbarlichen Belange durch eine neue Nutzung beeinträchtigt werden und wie berechtigt das Interesse des Bauherrn daran ist, die Nutzungsänderung vorzunehmen, obwohl sie zu gewissen tatsächlichen Nachbarbeeinträchtigungen beiträgt. Für die Abwägung von Belang ist namentlich, ob der Nachbar mit einer vergleichbaren Nutzung rechnen oder ob sich umgekehrt der Bauherr darauf einstellen musste, dass der beabsichtigten Nutzungsänderung gewichtige Nachbarinteressen oder andere öffentlichrechtliche Vorschriften als die des Abstandflächenrechts entgegenstehen. Zusätzliche Faktoren können für die Abwägung nach Maßgabe des ihnen im Einzelfall zukommenden Gewichts von Bedeutung sein. Beispielsweise kann von Belang sein, in welchem Ausmaß die vorhandene Bausubstanz noch verwertbar ist, ob die beabsichtigte Nutzungsänderung einen städtebaulichen Missstand verfestigt oder ob eine Veränderung der Bausubstanz dergestalt möglich und zumutbar ist, dass den Anforderungen des Abstandflächenrechts genügt werden kann.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24.06.2004 - 7 A 4529/02 -, BRS 67 Nr. 143; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Kommentar, Loseblatt Stand Dezember 2010, § 6, Rdnr. 368.

Das Störungspotential der Wohnnutzung des im rückwärtigen Gartenbereich liegenden Anbaus des Gebäudes I.------straße 1, 1a unterscheidet sich erheblich von dem der bisherigen Nutzung. Ursprünglich befand sich im Grenzbereich lediglich ein Lagerraum, der zum Grundstück der Klägerin über keine Öffnungen verfügte und der nur während der Betriebszeiten der Bäckerei werktags betreten wurde. Im Vergleich dazu stellt das Wohnen "rund um die Uhr" eine intensivere und zeitlich umfangreichere Nutzung des vorhandenen Anbaus dar. Durch den Einbau der zwei Fenster an der Nordseite der Wohnung Nr. 1, die bisher eine geschlossene Grenzwand war, ist die Wohnnutzung für die Klägerin belastender, weil hierdurch der Garten und die rückwärtigen Teile ihres Wohnhauses erstmals unmittelbar eingesehen werden können. Daneben sind durch die Fenster in der Grenzwand - insbesondere wenn diese geöffnet sind - vermehrt Geräuschübertragungen möglich, so dass der Sozialabstand für ein Wohnen auf beiden Grundstücken nicht mehr gewahrt wird.

Zur Wohnnutzung anstelle eines Lagerraumes siehe auch OVG NRW, Urteil vom 15.05.1997 - 11 A 7224/95 -, BRS 59 Nr. 144.

§ 16 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW 2000 verlangt neben der Würdigung nachbarlicher Belange auch eine Würdigung der Belange des Brandschutzes durch die Bauaufsichtsbehörde. Die Belange des Brandschutzes sind grundsätzlich nur dann gewahrt, wenn die nachbarschützenden Brandschutzbestimmungen der BauO NRW eingehalten werden. Das ist vorliegend im Hinblick auf § 31 BauO NRW nicht der Fall. Gemäß § 31 Abs. 4 BauO NRW sind Öffnungen in Gebäudeabschlusswänden - wie die an der Nordseite der Wohnung Nr. 1 genehmigten zwei Fenster - unzulässig. Gebäudeabschlusswände sind gemäß § 31 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW u.a. bei Gebäuden herzustellen, die weniger als 2,50 m von der Nachbargrenze entfernt errichtet werden, es sei denn, dass ein Abstand von mindestens 5 m zu bestehenden oder nach den baurechtlichen Vorschriften zulässigen Gebäuden öffentlichrechtlich gesichert ist. Eine solche brandschutztechnische Flächenbaulast gibt es hier nicht. Die im Jahre 1971 eingetragene Baulast hat weder die erforderliche Tiefe von 5,00 m noch beinhaltet sie als Abstandflächenbaulast ein absolutes Bauverbot, das Inhalt einer brandschutztechnischen Flächenbaulast gemäß § 31 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW ist.

Vgl. hierzu Gädtke/Czepuck/Johlen/Plietz/Wenzel, BauO NRW, Kommentar, 12. Auflage 2011, § 31, Rdnr. 16.

Nichts anderes ergibt sich bei einer Prüfung der Rechtslage anhand des aktuellen § 6 Abs. 15 BauO NRW in der Fassung, die er durch das 2. Gesetz der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006 (GV NRW 2006 S. 614) erfahren hat. Zwar wurde der Antrag auf Erteilung der Baugenehmigung vor Inkrafttreten dieses Gesetzes gestellt und beschieden, so dass das Vorhaben grundsätzlich nach der bisherigen Rechtslage zu beurteilen ist. Unabhängig von der jeweiligen landesrechtlichen Óbergangsvorschrift ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber geklärt, dass im Rahmen einer Nachbarklage inzwischen ergangene Rechtsänderungen zugunsten des Bauherrn berücksichtigt werden müssen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16.03.2007 - 10 B 14/07 - m.w.N.

Diese Rechtsänderung wirkt sich nicht zugunsten der Beigeladenen aus. § 6 Abs. 15 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BauO NRW ist hier nicht einschlägig. Danach sind nunmehr - im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage - bestimmte Änderungen und Nutzungsänderungen bei Gebäuden, die ohne Einhaltung von Abstandflächen oder mit geringeren Tiefen der Abstandflächen als nach den Absätzen 5 und 6 bestehen, abstandflächenrechtlich allgemein zulässig: 1. Änderungen innerhalb des Gebäudes, 2. Nutzungsänderungen, wenn der Abstand des Gebäudes zu den Nachbargrenzen mindestens 2,50 m beträgt, und 3. Änderungen, wenn der Abstand des Gebäudes zu den Nachbargrenzen mindestens 2,50 m beträgt, ohne Veränderung von Länge und Höhe der diesen Nachbargrenzen zugekehrten Wände und Dachflächen und ohne Einrichtung neuer Öffnungen oder Vergrößerungen bestehender Öffnungen in diesen Wänden und Dachflächen. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 15 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BauO NRW liegt nicht vor, da weder die Nutzungsänderung von § 6 Abs. 15 Satz 1 Nr. 1 BauO NRW erfasst wird noch der Anbau den Mindestabstand von 2,50 m zur Nachbargrenze einhält (§ 6 Abs. 15 Satz 1 Nr. 2 und 3 BauO NRW). Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 15 Satz 2 BauO NRW sind ebenfalls nicht gegeben. Wie auch bei der bisherigen Regelung des § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW 2000 erfordert § 6 Abs. 15 Satz 2 BauO NRW eine Abwägung des Interesses des Bauherrn an der Verwertung einer vorhandenen Gebäudesubstanz mit den nachbarlichen Belangen,

vgl. OVG NRW, OVG NRW, Beschluss vom 28.04.2010 - 7 A 2065/08 -, Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Loseblatt-Kommentar, Stand Dezember 2010, § 6, Rdnr. 368,

die hier - wie bereits ausgeführt wurde - zugunsten der betroffenen Nachbarin ausfällt. Diese Gesamtbewertung geht von der hier vorliegenden Gebäudesubstanz mit den Fenstern in der Grenzwand und deren Nutzung aus. Óberlegungen, die Nutzung der Wohnung Nr. 1 ohne Öffnungen an der Nordseite zu legalisieren, sind nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und können nur in einem neuen Baugenehmigungsverfahren Berücksichtigung finden.

Die Verletzung nachbarschützender Vorschriften des Bauordnungsrechts gebietet nicht die Aufhebung der Baugenehmigung vom 29.05.2001 insgesamt, sondern kann auf die Wohnung Nr. 1 beschränkt werden. Die Baugenehmigung bezieht sich zwar auf den gesamten Umbau eines Wohn- und Geschäftshauses in ein Mehrfamilienwohnhaus mit vier Wohnungen. Dabei ist davon auszugehen, dass ein zur Genehmigung gestelltes Bauvorhaben regelmäßig ein einheitliches Ganzes darstellt, sei es, dass die einzelnen Bestandteile des Vorhabens ein Ganzes darstellt, sei es, dass die einzelnen Bestandteile des Vorhabens eine bautechnische Einheit bilden, sei es, dass sie unter Nutzungsgesichtspunkten eine enge funktionale Verbindung aufweisen, sei es, dass der eine Bestandteil ohne den anderen baurechtlich nicht zulässig, oder sei es, dass die Einheitlichkeit des Vorhabens dem ausdrückliche geäußerten Willen des Bauherrn entspricht.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 04.09.2001 - 10 B 332/10 -, BauR 2002, 432.

Hier ist es indes so, dass die Wohnung Nr. 1 keine bautechnische Einheit mit dem baulichen Rest darstellt. Da sie selbständig in dem Anbau I.------straße 1a eingerichtet worden ist, steht sie in keinem funktionalen Zusammenhang mit dem eigentlichen Hauptgebäude I.------straße 1, in dem sich die übrigen drei Wohnungen befinden. Die Wohnungen sind baulich nicht miteinander verbunden. Sie teilen sich keine gemeinsamen Decken oder Treppen. Die Selbstständigkeit der Wohnung Nr. 1 verdeutlicht auch der in der Baubeschreibung vom 20.04.2001 beschriebene Umstand, dass für die Wohnung Nr. 1 ein separater Eingang vorhanden ist, die damit unabhängig vom Eingang des Haupthauses ist.

II. Die Klägerin hat weiterhin einen Anspruch auf Erlass einer Bauordnungsverfügung, mit der den Beigeladenen zu 1. und zu 2. die Nutzung der Wohnung Nr. 1 im Gebäude I.------straße 1, 1a als Wohnung oder Wohnraum untersagt wird und mit der der Beigeladenen zu 3. das Verschließen der zwei Fenster an der Nordseite der Wohnung Nr. 1 aufgegeben wird, § 113 Abs. 5 VwGO.

Nach § 61 Abs. 1 BauO NRW haben die Bauaufsichtsbehörde u.a. bei der Errichtung, Änderung und Nutzung baulicher Anlagen darüber zu wachen, dass die öffentlichrechtlichen Vorschriften eingehalten werden, und in Wahrnehmung dieser Aufgabe nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Entschließungsermessen ist in aller Regel auf Null reduziert und die Bauaufsichtsbehörde damit zum Tätigwerden verpflichtet, wenn die Baurechtswidrigkeit einer Anlage auch auf der Verletzung von nachbarschützenden Vorschriften des öffentlichen Rechts beruht. In solchen Fällen muss dem rechtswidrigen Zustand abgeholfen werden.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23.04.1982 - 10 A 645/80 -, BRS 39 Nr. 178; Urteil vom 17.05.1983 - 7 A 330/81 -, BRS 40 Nr. 191; Urteil vom 19.05.1983 - 11 A 1128/82 -, BRS 40 Nr. 122; Urteil vom 05.02.1996 - 10 A 944/91 -, NWVBl. 1997, 11; Urteil vom 25.10.2010 - 7 A 290/09 -; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Loseblatt-Kommentar, Stand Dezember 2010, § 61 Rn. 146 m.w.N.

Die Wohnung der Beigeladenen zu 1. und zu 2. und deren Nutzung verletzen - wie oben bereits ausgeführt wurde - die nachbarschützenden Vorschriften der §§ 6 und 31 BauO NRW, die auch zum Schutz der Klägerin bestimmt sind.

Zum nachbarschützenden Charakter des § 31 BauO NRW: OVG NRW, Urteil vom 25.04.1973 - VII A 345/72 -, DÖV 1973, 722.

Die Verletzung nachbarschützender Vorschriften, wie bei Abstandflächenverletzungen, löst nach ständiger Rechtsprechung unabhängig von deren Grad regelmäßig eine Pflicht zu bauaufsichtsrechtlichem Eingreifen aus.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23.04.1982 - 10 A 645/80 - BRS 39 Nr. 178; Urteil vom 17.05.1983 - 7 A 330/81 - BRS 40 Nr. 191; Urteil vom 19.05.1983 - 11 A 1128/82 - BRS 40 Nr. 122; Urteil vom 05.02.1996

- 10 A 944/91 - NWVBl. 1997, 11; Urteil vom 25.10.2010 - 7 A 290/09 -; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Loseblatt-Kommentar, Stand Dezember 2010, § 61 Rn. 146 m.w.N.

Der vorliegende Fall gibt keine Veranlassung hiervon abzuweichen. Insbesondere ist der Umstand, dass aufgrund der Dauer des Verwaltungsverfahrens die Grenzverhältnisse seit annähernd zehn Jahren so sind, kein sachgerechter Grund, um ein Einschreiten zugunsten des beschwerten Nachbarn abzulehnen. Im Hinblick auf den festgestellten Verstoß gegen die §§ 6, 31 BauO NRW ist die Beklagte verpflichtet, den Beigeladenen zu 1. und zu 2. die Nutzung der Wohnung Nr. 1 als Wohnung oder Wohnraum zu untersagen und der Beigeladenen zu 3., die das gemeinschaftliche Eigentum an der Fassade des Wohngebäudes hat (vgl. § 5 des Wohnungseigentumsgesetzes - WEG -) aufzugeben, die zwei Fenster an der Nordseite der Wohnung Nr. 1 dauerhaft zu verschließen.

III. Letztlich hat die Klägerin ihre Abwehransprüche auch nicht verwirkt. Die Verwirkung nachbarlicher Abwehrrechte setzt - erstens - das Verstreichen eines längeren Zeitraums seit der Möglichkeit der Geltendmachung des Rechts und - zweitens - besondere Umstände voraus, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Der für die Verwirkung maßgebliche Zeitraum der Untätigkeit des Berechtigten ist dabei deutlich länger zu bemessen als die Zeit, die ihm gemäß den im Regelfall geltenden verfahrensrechtlichen Vorschriften für die Geltendmachung des Rechts eingeräumt ist. Der Berechtigte muss mithin jedenfalls deutlich länger als einen Monat untätig geblieben sein. Sein Verhalten muss darüber hinaus geeignet gewesen sein, bei dem Verpflichteten ein schutzwürdiges Vertrauen darauf zu erwecken, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr ausüben. Daran fehlt es, wenn der Nachbar dem Vorhaben deutlich widerspricht. Die Art und Weise, in der das materielle Abwehrrecht geltend gemacht wird, ist insoweit unerheblich.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 10.08.2000 - 4 A 11/99 -, NVwZ 2001, 206 und vom 16.05.1991 - 4 C 4.89 -, BRS 52 Nr. 218; Beschlüsse vom 16.04.2002 - 4 B 8.02 -, BRS 65 Nr. 195 und vom 18.03.1988 - 4 B 50.88 -, BRS 48 Nr. 179; OVG NRW, Beschluss vom 22.06.2010 - 7 B 479/10 -.

Diese Voraussetzungen für eine Verwirkung sind vorliegend nicht erfüllt. Abwehrrechte gegen das von der Beklagten genehmigte Bauvorhaben konnte die Klägerin frühestens mit dem Baubeginn im Juni 2001 geltend machen, da die Baugenehmigung ihr nicht bekannt gemacht worden war. In einem zum Baufortschritt als angemessen anzusehenden Zeitraum hat die Klägerin Anfang 2002 den seinerzeit zulässigen Widerspruch eingelegt. Während des fünf Jahre dauernden Widerspruchsverfahrens hat sie den Widerspruch immer aufrechterhalten und zu keinem Zeitpunkt weder gegenüber dem Bauherrn noch gegenüber der Beklagten zu erkennen gegeben, mit dem Umbau und der Nutzungsänderung letztendlich einverstanden zu sein. Das Widerspruchsverfahren wurde erst mit dem Widerspruchsbescheid des Kreises M1. Ende des Jahres 2007 eingestellt. Die Klägerin durfte dann zunächst darauf vertrauen, dass die Beklagte nach der Rücknahme der Baugenehmigung nun von Amts wegen gegen das Bauvorhaben vorgehen würde. Denn mit der Rücknahme der Baugenehmigung vom 29.05.2001 hinsichtlich der Wohnung Nr. 1 ging auch die Beklagte ersichtlich von ihrer Rechtswidrigkeit aus. Gleichwohl schritt die Beklagte in der Folgezeit nicht ein. Der Umstand, dass die Klägerin daraufhin erst im Mai 2009 einen formellen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gestellt hat, konnte angesichts des vorangegangenen Widerspruchsverfahrens keinen Vertrauenstatbestand begründen. Die Klägerin ist dem Vorhaben schon kurz nach Baubeginn so deutlich und nachhaltig entgegengetreten, dass keiner der Beteiligten darauf vertrauen durfte und konnte, dass sie nach Durchführung des überlangen Widerspruchsverfahrens nun doch nicht mehr ihre materiellen Abwehrrechte ausüben würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig. Denn es entspricht nicht der Billigkeit, sie der Beklagten aufzuerlegen. Die Beigeladenen haben keinen eigenen Antrag gestellt und sich damit auch nicht dem aus § 154 Abs. 3 VwGO folgenden Kostenrisiko ausgesetzt.

Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis folgen aus § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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