OLG Köln, Beschluss vom 05.08.1997 - 2 Ws 439 - 440/97
Fundstelle
openJur 2012, 76845
  • Rkr:
Tenor

Der angefochtene Beschluß und der Haftbefehl des Amtsgerichts Aachen (41 Gs 1519/97) vom 20. Mai 1997 werden aufgehoben. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten hierin entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

I.

Der Beschuldigte wurde am 27. Mai 1997 festgenommen und befindet

sich seither in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des

Amtsgerichts Aachen (41 Gs 1519/97) vom 20. Mai 1997.

In diesem Haftbefehl wird ihm zur Last gelegt, am 6. Mai 1996 in

Aachen gemeinschaftlich mit anderen Betäubungsmittel in nicht

geringer Menge eingeführt und tateinheitlich hiermit Handel

getrieben zu haben. Der Tatvorwurf betrifft die Lieferung von 1,5

kg Amphetamin durch den gesondert verfolgten K. L. aus

K./Niederlande an den gleichfalls gesondert verfolgten K. D. in A.,

der allerdings nur 1,4 kg erhalten haben soll. Dem Beschuldigten S.

wird zur Last gelegt, gemeinsam mit der verstorbenen H. R. die

Óbergabe an Dossis im Auftrag von L. vorgenommen zu haben.

Mit Verteidigerschriftsatz vom 3. Juni 1997 hat der Beschuldigte

Haftbeschwerde eingelegt. Ein Antrag des Verteidigers vom 4. Juni

1997 auf Verlegung des Beschuldigten aus der JVA Düsseldorf in die

JVA Aachen ist durch Beschluß des Amtsgerichts Aachen (41 GS

1689/97) vom 4. Juni 1997 abgelehnt worden. Gegen diese

Entscheidung hat der Beschuldigte durch Verteidigerschriftsatz vom

8. Juni 1997 Beschwerde eingelegt.

Beide Beschwerden sind durch Beschluß der 1. großen Strafkammer

des Landgerichts Aachen vom 24. Juni 1997 verworfen worden.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die weitere Beschwerde vom

7. Juli 1997 (dem Senat vorgelegt am 30. Juli 1997).

II.

Die weitere Beschwerde ist gemäß § 310 Abs. 1 StPO statthaft und

auch im übrigen zulässig.

In der Sache ist das Rechtsmittel begründet. Der Haftbefehl vom

20. Mai 1997 ist aufzuheben. Damit ist auch das Begehren auf

Verlegung in die JVA Aachen in Folge prozessualer Óberholung

gegenstandslos.

1.

Es bestehen schon Zweifel an einem dringenden Tatverdacht im

Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO, der eine große

Wahrscheinlichkeit dafür voraussetzt, daß der Beschuldigte Täter

der ihm zur Last gelegten Straftat ist (vgl.

Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Auflage, § 112 Rn. 5; Boujong

in Karlsruher Kommentar, StPO, 3. Auflage, § 112 Rn. 6) und der

einen stärkeren Verdachtsgrad voraussetzt als der für § 203 StPO

erforderliche hinreichende Tatverdacht (den selbst noch der

Haftrichter des Amtsgerichts Aachen in seiner

Nichtabhilfeentscheidung vom 17. Juni 1997 aufgrund der Ergebnisse

der durchgeführten Telefonüberwachung in Zweifel gezogen

hatte).

Letztlich braucht aber der Senat über die Bedenken gegen das

Bestehen eines dringenden Tatverdachts nicht abschließend zu

entscheiden, weil die insoweit auch gegebenen Zweifel jedenfalls so

beachtlich sind, daß ihretwegen unter Berücksichtigung auch der

sonstigen persönlichen und sozialen Verhältnisse des Beschuldigten

jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr (dazu unten zu 2.) zu

verneinen ist.

Das einzige Beweismittel, auf das sich der dringende Tatverdacht

stützen läßt, sind nach dem Haftbefehl und auch nach dem weiteren

Gang des Ermittlungsverfahrens (der keine zusätzlichen Erkenntnisse

gebracht hat, nachdem seitens der gesondert verfolgten L. und D.

keine Aussagen vorliegen, der Beschuldigte selbst sich darauf

berufen hat, es gebe "viele N." und er habe "mit den Sachen im

Haftbefehl nichts zu tun", und nachdem schließlich die in den

fraglichen Telefonaten als "Y." auftretende H. R. verstorben ist)

die Niederschriften über die Telefonüberwachung betreffend die

Telefonate vom 6. Mai 1996 um 19:24 Uhr, 19:33 Uhr und 19:43 Uhr

(Blatt 79 - 84 der TÓ-Beiakte). Entgegen der Ansicht der

Verteidigung sind die Ergebnisse dieser Telefonüberwachung zwar

grundsätzlich verwertbar. Sie betreffen die Telefonanschlüsse 0. -

Anschlußinhaber S. R., Benutzer K. L., = TÓ 95/001 und Nr. 0. -

Anschlußinhaber J. D. in der Gaststätte C. Pub = TÓ 95/003. Zu

diesen Anschlüssen haben richterliche Beschlüsse gemäß §§ 100 a,

100 b StPO auf Óberwachung und Aufzeichnung des Fernmeldeverkehrs

vom 12. Februar und 28. März 1996 (Blatt 63, 66 d. A.) und vom 19.

Januar 1996 (Blatt 60 d. A.) vorgelegen. Damit richtete sich die

Anordnung der Telefonüberwachung in dem gegen den Beschuldigten

Liolios gerichteten Ermittlungsverfahren im Falle des Anschlusses

der S. R. gegen den Beschuldigten selbst und im Falle des

Anschlusses in dem "C. P." gegen Personen im Sinne der zweiten

Alternative des § 100 a Satz 2 StPO. Die hierbei gewonnenen

Erkenntnisse sind gemäß §§ 100 b Abs. 5, 100 a Satz 1 Nr. 4 StPO

auch gegenüber Dritten - hier dem Beschuldigten S. -

verwertbar.

In der Sache selbst jedoch sind die von der Verteidigung

vorgebrachten Zweifel daran, daß der in den Telefonaten vom 6. Mai

1997 als "der Lange" bezeichnete Gesprächsteilnehmer mit dem

Beschuldigten S. identisch ist, nach dem derzeitigen Sachstand

nicht unbegründet. Während die Mitschnitte der Telefongespräche

allenfalls in einer etwaigen Hauptverhandlung abgehört werden

können, sind die TÓ-Niederschriften Blatt 79 - 84 der TÓ-Beiakte

nur bedingt aussagekräftig. Wenngleich die TÓ-Beiakte auch in

anderem Zusammenhang und aus anderen Zeiten Telefonate aufführt, an

denen der Beschuldigte S. beteiligt gewesen sein soll (vgl. schon

den Vermerk der Kriminalpolizei vom 27. November 1996, aus dem die

Staatsanwaltschaft Aachen aber nur wegen des hier in Rede stehenden

Vorfalls vom 6. Mai 1996 einen Tatverdacht abgeleitet und einen

Haftbefehl beantragt hat), so ist andererseits nicht zu verkennen,

daß in der Vielzahl der in dem Verfahren gegen L. u. a. abgehörten

Telefongespräche häufig auch andere Personen als "der Lange"

bezeichnet werden. Mehrfach - etwa Blatt 11, 14, 15, 62 der TÓ-Akte

wird mit "der Lange" der gesondert verfolgte K. L. bezeichnet.

Wenngleich er, weil selbst Teilnehmer der Telefonate vom 6. Mai

1996, als "der Lange" bei den hier fraglichen Gesprächen

ausscheidet, ergibt sich jedoch zumindest aus der Zusammenfassung

des Gesprächsinhalts der Telefonüberwachungsmaßnahme lfd. Nr. 04232

(Blatt 43 TÓ-Akte), daß in einem Telefonat vom 13. April 1996, das

von dem Beschuldigten S. selbst geführt wurde, von einer dritten

Person als einem "Langen" die Rede ist. Zu berücksichtigen ist

insbesondere auch, daß die von K. L. am 6. Mai 1946 um 19:33 Uhr

und 19:43 Uhr zunächst mit "Y." geführten Telefongespräche den

Anschluß des "C. P." A. betrafen, also ein öffentliches Lokal, in

dem dann möglicherweise eine andere Person als der Beschuldigte S.

als "der Lange" an das Telefon gerufen worden sein kann. Jedenfalls

steht entgegen dem angefochtenen Beschluß der Strafkammer nicht mit

Sicherheit fest, daß es gerade der Beschuldigte S. war, der als

"der Lange" an das Telefon geholt wurde: Die nach den Worten "der

Lange" in Klammern angeführte Namensangabe "N. S." ist nicht Inhalt

der Gespräche selbst, sondern eine Hinzufügung der die

Gesprächsinhalte niederschreibenden ermittelnden Polizeibeamten,

wie dies schon die Staatsanwaltschaft Aachen in ihrer

Vorlageverfügung an die Strafkammer dargelegt hat. Es kann auch

nicht mit Gewißheit darauf auf den Beschuldigten S. geschlossen

werden, daß es in Blatt 84 der TÓ-Beiakte heißt, "Y. sagt noch mal,

daß sie N. das Paket so gegeben hat, wie sie es von K. L. bekommen

hat". Bei Blatt 84 der TÓ-Beiakte handelt es sich nur um eine

Zusammenfassung des Inhalts des Telefonats um 19:43 Uhr, das

wörtlich in Blatt 81 = 83 der TÓ-Beiakte wiedergegeben ist; in

dieser wörtlichen Wiedergabe taucht aber bei den Äußerungen der

"Y." der Name "N." gerade nicht auf. Damit handelt es sich bei der

Namensangabe "N." auf Blatt 84 der TÓ-Beiakte - hier ist

hinsichtlich der TÓ-Nr. 95/001 das selbe Telefonat erfaßt wie

hinsichtlich der TÓ-Nr. 95/003 gemäß Blatt 81, 83 TÓ-Beiakte; es

geht um das zur selben Uhrzeit zwischen den Anschlüssen 0. und 0.

geführte Telefonat - lediglich um eine Schlußfolgerung.

Offen bleiben kann schließlich, aus welchen Gründen die

Staatsanwaltschaft und der Haftbefehl davon ausgehen, daß es sich

bei den an Dossis gelieferten "1.400" (g?) um Amphetamin gehandelt

hat, nachdem zunächst die Kriminalpolizei in ihrem das vorliegende

Verfahren einleitenden Vermerk vom 27. November 1996 nur unbestimmt

von "RG" (= Rauschgift) ausgegangen war (auch das Telefonat vom 17.

Mai 1996 = Blatt 88 der TÓ-Beiakte erscheint hierzu in seiner

Aussagekraft fraglich). Weiter kann letztendlich dahinstehen, ob

aus der Formulierung in dem Gespräch vom 6. Mai 1996, 19:24 Uhr

(Blatt 79 der TÓ-Beiakte) aus den Worten des K. D., er habe das

Geschenk geöffnet, "welches K. L. gebracht hat" auch die

Schlußfolgerung möglich ist, daß Óberbringer der fraglichen

Lieferung möglicherweise auch der gesondert verfolgte K. L. in

Person gewesen sein könnte.

2.

Aus den vorgenannten Gründen ist der - angesichts des ständigen

Verkehrs des Beschuldigten in dem "C. P." und seiner Bekanntschaft

mit K. L. möglicherweise bestehende - dringende Tatverdacht

jedenfalls nicht so sehr erhärtet, als daß er nicht auch bei der

subjektiven Einschätzung des Beschuldigten selbst zu einem für ihn

möglicherweise günstigen Ausgang des Ermittlungsverfahrens mit zu

berücksichtigen wäre. Fluchtgefahr besteht, wenn unter Würdigung

aller Umstände des Einzelfalles aufgrund bestimmter Tatsachen eine

überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, der Beschuldigte

werde sich dem weiteren Verfahren entziehen statt an ihm

teilzunehmen (und ggf. nach Anklageerhebung in der Hauptverhandlung

zu erscheinen). Eine solche überwiegende Wahrscheinlichkeit läßt

sich in Würdigung aller Umstände nicht feststellen.

Der Beschuldigte - von dem Vorstrafen nach den bisherigen

Ermittlungen nicht bekannt geworden sind - ist zwar griechischer

Staatsangehöriger, jedoch schon in Deutschland geboren. Er wohnt

bei seinen Eltern (zusammen mit seinen Geschwistern und anderen

Verwandten) in der Z. in A.. Óber konkrete Kontakte nach

Griechenland läßt sich den Akten nichts entnehmen. Auch bestehen

keine Anhaltspunkte dafür, daß etwaige Beziehungen aufgrund

Betäubungsmittelhandels nach den Niederlanden eine Flucht gerade in

dieses Land (aus dem auch eine Auslieferung erfolgen könnte)

besorgen lassen. Der Beschuldigte ist zwar arbeitslos, hat aber bis

zu seiner Festnahme Arbeitslosenhilfe in Höhe von 1.000,00 DM

monatlich bezogen. Es liegt nahe, daß der Beschuldigte angesichts

des gerade auch aus seiner eigenen Sicht aufgrund des Vorbringens

der Verteidigung noch ungewissen Ausgangs des Verfahrens sich

weiter unter seiner Wohnadresse aufhalten wird, um für die Zukunft

des Arbeitslosengeldes nicht verlustig zu gehen. Hinzu kommt, daß

der Beschuldigte spätestens seit der Festnahme des seit dem 28.

Februar 1997 in Untersuchungshaft befindlichen K. L. - die

Bekanntschaft mit diesem bestreitet er nicht - von den Ermittlungen

in dem vorliegenden Verfahrenskomplex wußte und dennoch auch in der

nachfolgenden Zeit keine Anstalten zur Flucht getroffen hat. Er

konnte am 27. Mai 1997 unproblematisch festgenommen werden, als er

sich gerade mit seiner Familie in einem Supermarkt beim Einkauf

befand.

Nach alledem kann - ungeachtet des Vorbringens des Verteidigers,

daß der Beschuldigte auch wieder die Möglichkeit hat, als

Fliesenleger zu arbeiten - von einer konkreten Fluchtgefahr im

Sinne der überwiegenden Wahrscheinlichkeit einer Flucht derzeit

nicht ausgegangen werden.

3.

Mit der Aufhebung des Haftbefehls ist die weitere Beschwerde

durch prozessuale Óberholung erledigt, soweit sich der Beschuldigte

gegen die Ablehnung einer Verlegung aus der JVA Düsseldorf in die

JVA Aachen wendet.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.