OLG Köln, Beschluss vom 26.07.1994 - Ss 289/94 - 111
Fundstelle
openJur 2012, 74389
  • Rkr:
Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Köln zurückverwiesen

Gründe

 

 

 

Das Amtsgericht hat den Angeklagten

wegen Beleidigung (§ 185 StGB) zu einer Geldstrafe von 20

Tagessätzen zu je 70,00 DM verurteilt. Das Landgericht hat die

Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe verworfen, daß die

Tagessatzhöhe auf 30,00 DM herabgesetzt worden ist. Nach den

Feststellungen soll der Angeklagte, der am 15. Juli 1992 gegen 8.20

Uhr mit einem Pkw den H. in K. Richtung E. befuhr, einen anderen

Verkehrsteilnehmer, den Zeugen Sch., dessen Fahrweise ihn verägert

hatte, als "frustriertes Arschloch" bezeichnet haben. Die

Einlassung des Angeklagten, nicht er, sondern der andere habe

diesen Ausdruck gebraucht, hat die Strafkammer allein aufgrund der

Aussage des Zeugen Sch. als widerlegt angesehen.

 

Gegen das Berufungsurteil richtet sich

die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen

und materiellen Rechts rügt.

 

Das Rechtsmittel hat (vorläufigen)

Erfolg.

 

Die Verfahrensrüge, das

Berufungsgericht habe einen Beweisantrag des Angeklagten mit

rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt, greift durch.

 

Wie in der zu Protokoll der

Geschäftsstelle des Landgerichts erklärten Revisionsbegründung

ordnungsgemäß (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) vorgetragen ist und durch

das Sitzungsprotokoll bestätigt wird, hat der Angeklagte in der

Berufungshauptverhandlung beantragt, "seine Tochter L. R. als

Zeugin zu vernehmen". Óber diesen Antrag hat die Strafkammer in

der Hauptverhandlung durch Beschluß wie folgt entschieden:

 

 

"Der Beweisantrag auf Vernehmung der

Zeugin L. R. wird zurückgewiesen, da das Beweismittel völlig

ungeeignet ist. Die Erinnerungsfähigkeit der Zeugin - eines

8-jährigen Kindes - heute an diesen Vorfall im Straßenverkehr am

15. Juli 1992 ist nach Auffassung der erkennenden Kammer, die

insoweit über genügende eigene Sachkunde verfügt, nicht

gegeben."

 

Diese Ablehnungsentscheidung ist nicht

frei von Rechtsfehlern.

 

Nach § 219 Abs. 1 S. 1 StPO muß ein

Beweisantrag die Tatsachen bezeichnen, über die Beweis erhoben, und

die Beweismittel angeben, durch die er erbracht werden soll (vgl.

Meyer in: Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5.

Aufl., S. 37). Benennt der Antragsteller keine Beweistatsachen,

sondern nur bestimmte Beweismittel, ist zunächst von einer

Unvollständigkeit des Antrags auszugehen, es sei denn, auf die

ausdrückliche Angabe könne ausnahmsweise verzichtet werden, weil

sich die Beweistatsachen aus den Umständen, unter denen der Antrag

gestellt worden ist, oder aus der Natur der benannten Beweismittel

ohne weiteres ergeben (vgl. BGH St. 1, 29, 31/32; BayObLG StV 1982,

414; Meyer a.a.O. St. 40). Unvollständige Anträge lösen die

Fürsorgepflicht des Gerichts aus. Es muß durch Befragung des

Antragstellers und Hinweise so auf eine Ergänzung und

Vervollständigung des Antrags hinwirken, daß dieser die förmlichen

Voraussetzungen eines Beweisantrags erfüllt (vgl. Meyer a.a.O. S.

76). Bleibt das ergebnislos, muß das Gericht versuchen, den Antrag

im Wege der Auslegung zu vervollständigen (vgl. BayObLG VRS 62,

450, 451). Erst wenn auch das mißlingt, weil weder der

Antragsteller imstande ist, die erforderlichen Angaben zu machen,

noch eine Ergänzung durch Auslegung in Betracht kommt, darf der

Antrag als Beweisermittlungsantrag behandelt werden, auf den die

Regeln des § 244 Abs. 3 bis 5 StPO keinen Anwendung finden (vgl.

Meyer a.a.O. S. 88 m.w.N.). Der Angeklagte hat hier zwar keine

Beweistatsache ausdrücklich mitgeteilt, sondern lediglich

beantragt, seine Tochter L. als Zeugin zu vernehmen. Auf welche

Beweistatsachen dieser Antrag zielte, ergibt sich jedoch bei

verständiger Auslegung des Begehrens aus den Umständen. Dem

Berufungsurteil, von dem der Senat aufgrund der ordnungsgemäß

erhobenen Sachrüge Kenntnis zu nehmen hatte, ist zu entnehmen, daß

der Angeklagte dem Vorwurf, den Zeugen Sch. als "Arschloch"

tituliert zu haben, mit der Behauptung entgegengetreten ist, nicht

er, sondern der Zeuge habe sich dieses Ausdrucks bedient. Somit

ging es in der Berufungshauptverhandlung ersichtlich allein um die

Frage, wer von beiden das Schimpfwort benutzt hatte. Wenn der

Angeklagte unter diesen Umständen nach der Vernehmung des einzigen

Belastungszeugen Sch. seine Tochter als Zeugin benannt hat, sollte

sich dieses Beweisangebot auf die unausgesprochene, aber für alle

Verfahrensbeteiligte zweifelsfrei erkennbare Tatsachenbehauptung

beziehen, daß nicht er (der Angeklagte) den Zeugen Sch. als

"Arschloch" bezeichnet habe, sondern umgekehrt jener ihn. Daß diese

Beweistatsache gemeint war, ist für das Berufungsgericht

offenkundig gewesen und von ihm auch so verstanden worden. Der den

"Beweisantrag" ablehnende Beschluß macht deutlich, daß die

Strafkammer genau wußte, zu welchem Beweisthema die Tochter des

Angeklagten als Zeugin benannt war. Dort wird nämlich der "Vorfall

im Straßenverkehr am 15. Juli 1992" ausdrücklich erwähnt und

angezweifelt, daß sich ein 8-jähriges Kind längere Zeit danach an

ein solches Geschehen noch erinnern könne. Darüber hinaus wertet

das Landgericht den Antrag, obwohl er keine Beweistatsachen

anführt, selbst als "Beweisantrag" und gibt damit zu erkennen, daß

es die Beweisbehauptung ohne weiteres aus den Umständen herleiten

konnte. Nimmt der Tatrichter eine solche Auslegung vor, darf dem

Antragsteller nicht entgegengehalten werden, daß sein Antrag

unvollständig sei. Dieser muß vielmehr als regelrechter

Beweisantrag anerkannt und behandelt werden.

 

Die Strafkammer hat den hiernach

ordnungsgemäßen Beweisantrag zu Unrecht mit der Begründung

abgelehnt, das Beweismittel sei "völlig ungeeignet". Die Ablehnung

von Beweisanträgen wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels

setzt voraus, daß das Gericht ohne jede Rücksicht auf das bisher

gewonnene Beweisergebnis im Freibeweis feststellen kann, daß sich

mit dem angebotenen Beweismittel das in dem Beweisantrag in

Aussicht gestellte Ergebnis nach sicherer Lebenserfahrung nicht

erzielen läßt (vgl. BGH StV 1990, 98). Die vollkommene

Nutzlosigkeit der Beweisaufnahme, der völlige Unwert des

Beweismittels muß mit Sicherheit feststehen (Meyer aaO S. 611

m.w.N.). Die "relative" Ungeeignetheit des Beweismittels genügt

dagegen nicht (vgl. BGH NJW 1983, 404; StV 1983, 7; 1984, 232; KG

StV 1993, 120; OLG Düsseldorf NStZ 1990, 506; BayObLG MDR 1981,

338). Völlig ungeeignet ist danach ein Zeuge, der wegen dauernder

körperlicher oder geistiger Gebrechen oder wegen einer

vorübergehenden geistigen Störung, namentlich infolge Trunkenheit,

die in sein Wissen gestellte Wahrnehmung nicht machen konnte (vgl.

Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 244 Rn. 281), der

wegen seiner feindseligen Einstellung zu Staat und Justiz nicht

gewillt ist, vor Gericht Angaben zu machen (vgl. BGH MDR 1983, 4),

oder der zu Vorgängen aussagen soll, die nur ein Sachverständiger

zuverlässig wahrnehmen kann (vgl. BGH VRS 21, 429, 431; KMR-Paulus,

StPO, § 244 Rn. 135) oder die sich im Inneren eines anderen

Menschen abgespielt haben, ohne daß er Umstände bekunden könnte,

die einen Schluß auf die innere Tatseite ermöglichen (vgl. BGH StV

1987, 236; 1984, 61; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 41. Aufl., §

244 Rn. 59). Zeugen, die für lange zurückliegende Vorgänge benannt

sind, können völlig ungeeignet sein, wenn es nicht nur

unwahrscheinlich, sondern unmöglich erscheint, daß sie die

Ereignisse zuverlässig im Gedächtnis behalten haben (vgl. BGH NStZ

1993, 295; StV 1982, 339, 341; bei Spiegel, DAR 1983, 203). Das ist

nach der Lebenserfahrung unter Berücksichtigung der Umstände des

Einzelfalles unter Anlegung eines strengen Maßstabs zu beurteilen

(vgl. BGH, bei Miebach, NStZ 1989, 219). Maßgebend sind der

Gegenstand der Beweisbehauptung, die Persönlichkeit des Zeugen,

die Bedeutung des Vorgangs für ihn und die Länge des Zeitablaufs

(vgl. BGH, bei Spiegel, DAR 1983, 203; BayObLG St. 1964, 135). Sind

Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß der Zeuge sich noch erinnert,

darf der Antrag nicht abgelehnt werden, wobei es grundsätzlich

Sache des Antragstellers ist, solche Anhaltspunkte darzutun (vgl.

Meyer-Goßner a.a.O., § 244 Rn. 60). Die besonderen persönlichen

Verhältnisse des Zeugen machen ihn nur in besonderen Ausnahmefällen

zu einem völlig ungeeigneten Beweismittel (vgl. BGH NStZ 1984, 42;

StV 1985, 356). Verwandtschaftliche Beziehungen zu dem Angeklagten

genügen ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht (vgl. BGH, bei

Spiegel, DAR 1977, 174; Meyer a.a.O. S. 611).

 

Nach diesen Grundsätzen durfte das

Landgericht die als Zeugin benannte 8-jährige L.R. nicht als völlig

ungeeignetes Beweismittel betrachten. Daß sie die Tochter des

Angeklagten ist, begründet - wie dargelegt - die Ungeeignetheit

nicht. Greifbare Anhaltspunkte dafür, daß das Kind völlig unter

dem Einfluß des Angeklagten stehe und nicht mehr zwischen der

eigenen Wahrnehmung und der Darstellung des Angeklagten

unterscheiden könne, fehlen. Der vom Landgericht aufgestellte

Erfahrungssatz, daß ein 8-jähriges Kind grundsätzlich nicht in der

Lage sei, sich an einen ca. 1 Jahr und 8 Monate zurückliegenden

Vorfall im Straßenverkehr zu erinnern, ist ebensowenig zu billigen.

Ohne eingehende Würdigung der Persönlichkeit des als Zeugin

benannten Kindes, die das Landgericht unterlassen hat, kann eine so

weitreichende Schlußfolgerung nicht gezogen werden, weil allgemein

bekannt ist, daß es bei Kindern dieser Altersstufe ganz

unterschiedliche Intelligenz- und Gedächtnispotentiale gibt. Auch

die Tatsache, daß es um einen Vorgang "im Straßenverkehr" geht, der

mehr als 1 1/2 Jahre zurückliegt, rechtfertigt nicht die Annahme,

für das Kind sei es unmöglich, sich daran zu erinnern. Immerhin

soll es mitbekommen haben, daß sein Vater von einem anderen

Verkehrsteilnehmer mit einem groben Schimpfwort belegt worden ist.

Es handelt sich daher aus der Sicht des Kindes nicht um ein

belangloses "Allerweltsereignis", das alsbald vergessen wird,

sondern um einen Vorfall mit Einmaligkeits- oder zumindest

Besonderheitswert, der sich dem Gedächtnis einzuprägen pflegt. Das

gilt gerade für Kinder, wenn sie erleben müssen, daß die Autorität

eines Elternteils von außen angegriffen oder in Frage gestellt

wird. Die Tatsache, daß sein Vater als Autoritätsperson von einem

Fremden mit einem groben Schimpfwort belegt worden ist, kann für

ein Kind dieser Altersstufe ein gravierendes und einprägsames

Erlebnis sein. Das Alter des Kindes, das zur Zeit des Vorfalls

zwischen 6 und 7 Jahren gelegen haben muß, gibt für sich genommen

noch keine Veranlassung, an der Wahrnehmungsfähigkeit zu zweifeln

(vgl. Meyer a.a.O. S. 174), zumal die Strafkammer nicht übersehen

durfte, daß die Tochter des Angeklagten in erster Instanz

detaillierte Angaben gemacht hatte. Selbst wenn Zweifel an der

Richtigkeit ihrer Bekundungen angebracht gewesen sein sollten, war

das Landgericht bei dieser Sachlage nicht befugt, die Zeugin, die

selbst angegeben hatte, sich an den Vorfall zuverlässig zu

erinnern, aufgrund eines allgemeinen Erfahrungssatzes als

"ungeeignetes Beweismittel" abzutun, ohne sich selbst ein Bild von

der Persönlichkeit des Kindes zu machen.

 

Wegen dieses Verfahrensmangels muß das

angefochtene Urteil aufgehoben werden (§ 353 StPO). Die Sache ist

gemäß § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung unter

Beachtung der vorstehenden Grundsätze an eine andere Strafkammer

des Landgerichts zurückzuverweisen.