LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Beschluss vom 28.06.2012 - L 14 AS 905/12 B ER
Fundstelle
openJur 2012, 69442
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. April 2012 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Gründe

I

Der Antragsteller begehrt die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Der 1981 geborene Antragsteller, der die griechische Staatsangehörigkeit besitzt, studierte von September 2006 bis September 2011 Komposition an der G School in L, wo er eine ebenfalls an dieser Schule studierende, 1984 geborene litauische Pianistin kennenlernte. Beide lebten (zuletzt) in einer Wohnung in L. Der Antragsteller reiste am 9. Januar 2012 nach Deutschland ein. Seit dem 1. Februar 2012 wohnt er – zusammen mit der Pianistin – „als Untermieter“ auf der Grundlage eines bis zum 31. Juli 2012 befristeten Vertrages in einer 60 m² großen Wohnung in B; den Mietzins in Höhe insgesamt 700 Euro monatlich zahlte „bisher“ die Pianistin in voller Höhe. Der Antragsteller ist im Besitz einer am 2. Februar 2012 ausgestellten Bescheinigung über sein Aufenthaltsrecht nach § 5 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU).

Am 16. Februar 2012 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) zu gewähren. Dabei erklärte er, dass er nach Abschluss seines Musikstudiums in L eine Entscheidung über seine Zukunft habe treffen müssen, für eine Umgebung, in der er sich weiter entwickeln und vor allem auf eine sichere Zukunft blicken könne. Aus bekannten Gründen habe er nicht in seine Heimat Griechenland zurückkehren können; eine Nachfrage für klassische Musikkomposition gebe es ebenfalls nicht. Er bemühe sich, Deutsch zu lernen, um seinen Platz hier in Deutschland zu finden. Seinen Lebensunterhalt habe er bisher durch Privatunterricht in Musik und durch eine minimale Unterstützung seiner Eltern, welche aufgrund der Finanzkrise in Griechenland nun nicht mehr möglich sei, bestritten. Er wohne „zusammen in einer WG mit einer Bekannten“. Es bestehe keine Verwandtschaft, noch eine Ehe oder ein Partnerschaftsverhältnis; es werde „also“ über keine Konten usw. gemeinsam verfügt.

Mit Bescheid vom 1. März 2012 lehnte der Antragsgegner die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs ab, da sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe und er demzufolge nach § 7 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II von Leistungen nach diesem Gesetz ausgeschlossen sei.

Auf den am 28. März 2012 beim Sozialgericht Berlin gestellten Antrag des Antragstellers hat das Sozialgericht den Antragsgegner mit Beschluss vom 13. April 2012 verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 28. März 2012 bis zum 30. Juni 2012, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Bescheid vom 1. März 2012 vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs in Höhe von 724 Euro monatlich zu erbringen. Der Antragsteller sei nicht von der Gewährung von Leistungen nach diesem Gesetz ausgeschlossen, da die Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II mit Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 833/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO [EG] Nr. 883/2004) nicht vereinbar und deshalb nicht anzuwenden sei.

Gegen diese Anordnung wendet sich der Antragsgegner mit seiner am 19. April 2012 beim Landessozialgericht eingelegten Beschwerde. Er hält – unter Hinweis auf Entscheidungen des 20. und des 29. Senats des Landessozialgerichts – den in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelten Ausschluss von Leistungen für mit der Verordnung (EG) Nr. 833/2004 vereinbar.

Der Antragsteller trägt vor, dass er mit seiner (jetzigen) Mitbewohnerin in L „in verschiedenen WGs gewohnt (habe)“; das sei 2009 gewesen. Dann sei er 2012 nach Deutschland gekommen; danach sei seine Mitbewohnerin nach B gekommen. Sie hätten vor seiner Ankunft in B Kontakt gehabt und sich entschieden, „zusammen eine WG zu bilden“. Seine Mitbewohnerin habe bisher die Miete gezahlt, da er kein Geld gehabt habe. Wenn er Geld vom Antragsgegner bekomme, müsse er seinen Teil der Miete an sie zahlen.

Er hat ferner eine eidesstattliche Versicherung seiner Mitbewohnerin vorgelegt, die erklärt hat, dass sie und der Antragsteller sich 2009 in L kennengelernt hätten, als sie dort Klavier studiert habe. Sie sei „nicht mit (ihm) zusammen“. Sie sei hier in Deutschland, da sie verschiedene Aufträge für Konzerte hier habe.

Das mit Beschluss vom 23. Mai 2012 als Träger der Sozialhilfe beigeladene Land meint, dass der Antragsteller keine Leistungen nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) erhalten könne, da er „dem Grunde nach“ leistungsberechtigt nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs sei (§ 21 Satz 1 SGB XII).

Der Vorsitzende des Senats hat mit Beschluss vom 30. April 2012 die Vollstreckung aus der einstweiligen Anordnung des Sozialgerichts vom 13. April 2012 ausgesetzt.

II

Die Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Dem Antragsteller sind keine Leistungen vorläufig zu erbringen. Es ist nicht glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 Satz 4 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG] und 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]), dass er hilfebedürftig ist (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II).

Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Zur Bedarfsgemeinschaft gehört als Partnerin eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II). Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird (u.a.) vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben (§ 7 Abs. 3a Nr.1 SGB II).

Die aktenkundigen und aus allgemein zugänglichen Quellen bekannten Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass der Antragsteller und seine Mitbewohnerin eine Bedarfsgemeinschaft bilden. Beide haben bereits in L – augenscheinlich seit 2009 („Das war 2009“) – in einer (oder mehreren) Wohnung(en) gelebt – jedenfalls zuletzt in einer Wohnung im Stadtbezirk H. Die tatsächlichen Umstände, unter denen sie dort gewohnt haben, hat der dazu aufgeforderte Antragsteller allerdings nicht geschildert, geschweige denn belegt oder glaubhaft gemacht; die Verwendung der Abkürzung „WG“ ersetzt einen nachvollziehbaren und ggfl. nachprüfbaren Vortrag nicht. Mangels einer derartigen Schilderung der Umstände, die allein dem Antragsteller (und seiner Mitbewohnerin) bekannt sind und von denen sich weder der Antragsgegner noch das beigeladene Land – noch das Gericht – Kenntnis verschaffen können, ist zu unterstellen, dass der Antragsteller und seine Mitbewohnerin, „als Partner in einem gemeinsamen Haushalt (zusammengelebt haben und weiterhin) zusammenleben“ (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II) – und zwar („Das war 2009“) seit mehr als zwei Jahren. Dies begründet wiederum die Vermutung, dass sie wechselseitig füreinander Verantwortung tragen und füreinander einstehen wollen (§ 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II).

Diese Vermutung wird durch die vom Antragsteller vorgetragenen, die übrigen aktenkundigen sowie allgemeinkundigen Tatsachen nicht widerlegt, sondern bestätigt. Die – ebenfalls nur vage – Erklärung der Mitbewohnerin des Antragstellers, sie sei „nicht mit (dem Antragsteller) zusammen … und hier in Deutschland, da (sie) verschiedene Aufträge für Konzerte hier habe“, lässt nicht erkennen, warum sie aus diesem Grunde mit dem Antragsteller wiederum in eine Wohnung gezogen ist. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass sie seit Februar 2012 in Deutschland irgendwelche Konzerte gegeben hätte oder in naher Zukunft geben würde: Im März 2012 gab sie ein Konzert in B, im April 2012 Konzerte in L und auf der I sowie in K und auf R; für August 2012 ist ein Konzert in F angekündigt, für September 2012 auf der griechischen Insel P und für Dezember 2012 in M. Selbst falls die Mitbewohnerin des Antragstellers – auch – in Deutschland aufgetreten sein oder auftreten sollte, lässt dies nicht die Notwendigkeit oder auch nur Zweckmäßigkeit erkennen, deswegen mit dem Antragsteller zusammen eine Wohnung in B zu mieten – statt von L oder von einem anderen Ort zu dem jeweiligen Auftritt anzureisen. Naheliegend ist unter diesen Umständen die Annahme, dass beide junge Künstler zusammen in B ihre gemeinsame Zukunft gestalten wollen, wofür auch die anschauliche Erläuterung des Antragstellers gegenüber dem Antragsgegner spricht.

Hinzukommt, dass der Antragsteller und seine Mitbewohnerin gemeinsam die von ihnen jetzt bewohnte Wohnung gemietet haben. Die dadurch begründete Haftung eines jeden der beiden für den jeweiligen Mietanteil des anderen (Gesamtschuld) spricht für die Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu tragen bzw. für eine rechtliche Verpflichtung des anderen einzustehen. Tatsächlich hat denn auch die Mitbewohnerin des Antragstellers „bisher“ sowohl die Miete für die gemeinsame Wohnung wie auch die Mietkaution gezahlt.

Diese Umstände lassen den Senat annehmen, dass der Antragsteller und seine „Mitbewohnerin“ eine Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II bilden, mit der Folge, dass für die Frage, ob der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen oder Vermögen sichern kann, auch deren Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sind (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seiner Partnerin hat der Antragsteller – dem dazu ausdrücklich Gelegenheit gegeben worden ist – aber weder dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht; auch ihrer eidesstattlichen Versicherung ist dazu nichts zu entnehmen. Danach und unter Berücksichtigung dessen, dass der Partnerin des Antragstellers offenbar genügend Mittel zu Verfügung standen und stehen, um die Miete und die Mietkaution zu zahlen, ist es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller und sie ihren Lebensunterhalt zumindest vorläufig nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen sichern können.

Aus diesen Gründen ist auch zu vermuten, dass der Antragsteller von seiner mit ihm in einer Wohnung lebenden „Mitbewohnerin“ seinen Bedarf deckende Leistungen zum Lebensunterhalt erhält (§§ 20 und 39 Satz 1 SGB XII), so dass auch vom beigeladenen Land als Träger der Sozialhilfe keine Leistungen zu erbringen sind.

Auf die vom Sozialgericht erwogenen und von den Beteiligten erörterten Fragen kommt es danach nicht an.

Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

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