VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.05.1993 - 1 S 1943/92
Fundstelle
openJur 2013, 8640
  • Rkr:

1. Begehrt ein Gemeinderatsmitglied von der Gemeinde Kostenerstattung für eine von ihm gegen den Bürgermeister erhobene Dienstaufsichtsbeschwerde, so darf der Bürgermeister an der Beschlußfassung des Gemeinderates hierüber wegen Befangenheit nicht mitwirken, falls die Entscheidung zu einem Ansehensgewinn oder -verlust für ihn führen kann.

Tatbestand

Der Beigeladene ist Mitglied des Gemeinderates der Klägerin. Im Zusammenhang mit seiner Bewerbung für das Amt des Ortsvorstehers des Ortes erhob er durch eine von ihm beauftragte Rechtsanwältin am 29.1.1990 beim Beklagten Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Bürgermeister der Klägerin wegen seine Person betreffender Äußerungen in den Sitzungen des Gemeinderates vom 4.12.1989 und 15.1.1990. Mit Schreiben vom 15.5. und 10.7.1990 teilte das Landratsamt der Bevollmächtigten des Beigeladenen mit, daß die erhobenen Vorwürfe nicht nachgewiesen seien und das Verfahren nicht weiter verfolgt werde.

Am 21.5.1990 beschloß der Gemeinderat der Klägerin in Abwesenheit des Bürgermeisters und des Beigeladenen wegen Befangenheit, dem Bürgermeister die Kosten der anwaltlichen Vertretung in dem Dienstaufsichtsverfahren zu erstatten. Den entsprechenden Antrag des Beigeladenen lehnte der Gemeinderat in seiner Sitzung vom 26.11.1990 in Abwesenheit des Beigeladenen ab (Tagesordnungspunkt 4).

Mit Verfügung vom 16.4.1991 beanstandete das Landratsamt den unter Tagesordnungspunkt 4 gefaßten Beschluß des Gemeinderates der Klägerin vom 26.11.1990, gab der Klägerin auf, diesen Beschluß innerhalb eines Monats nach Zustellung dieser Verfügung aufzuheben und kündigte für den Fall der Nichtbefolgung an, diesen Beschluß auf Kosten der Klägerin selbst aufzuheben. Zur Begründung wird ausgeführt, der Bürgermeister sei bei dem genannten Tagesordnungspunkt befangen gewesen und habe deshalb an der Beschlußfassung nicht teilnehmen dürfen. Er sei von dem in der Öffentlichkeit ausgetragenen Streit mit dem Beigeladenen unmittelbar betroffen gewesen. Dieser habe zu einer tiefgreifenden Zerrüttung des Verhältnisses zwischen dem Bürgermeister und dem Beigeladenen geführt.

Gegen diese Verfügung hat die Klägerin Widerspruch eingelegt und vorgetragen, ihrem Bürgermeister hätten aus der Entscheidung keinerlei Vor- oder Nachteile entstehen können. Von einer tiefgreifenden Zerrüttung des Verhältnisses könne keine Rede sein. Mit Widerspruchsbescheid vom 7.6.1991 wies das Regierungspräsidium den Widerspruch der Klägerin zurück.

Am 19.6.1991 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie die Aufhebung der ergangenen Bescheide begehrt. Sie trägt vor, ihr Bürgermeister sei nicht befangen gewesen. Eine etwaige Befriedigung über eine für den Beigeladenen negative Entscheidung reiche hierfür nicht aus. Mit der Entscheidung des Landratsamtes über die Dienstaufsichtsbeschwerde sei die Auseinandersetzung beendet gewesen. Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ausgeführt, die gesamte Auseinandersetzung habe in der Öffentlichkeit erhebliches Aufsehen erregt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß der Bürgermeister ein individuelles Sonderinteresse an der Entscheidung gehabt habe. Der Einwand, das Dienstaufsichtsverfahren sei abgeschlossen gewesen, sei wegen der zeitlichen Nähe des beanstandeten Beschlusses zu der Auseinandersetzung ohne Bedeutung.

Das Verwaltungsgericht Freiburg wies die Klage mit Urteil vom 15.7.1992 ab. Mit ihrer Berufung trägt die Klägerin vor, die gefühlsmäßige Nähe zum Gegenstand einer Entscheidung reiche für die Annahme der Befangenheit nicht aus. Die Öffentlichkeit sehe eine gegen ihn gerichtete Dienstaufsichtsbeschwerde nicht als Nachteil für einen Bürgermeister an. Ein Prestigeverlust durch die Kostenübernahme sei eine Fiktion.

Sie beantragt daher,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 15.7.1992 - 2 K 1035/91 - zu ändern und die Verfügung des Landratsamtes vom 16.4.1991 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom 7.6.1991 aufzuheben.

Der Beklagte und der Beigeladene beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte trägt ergänzend vor, der ideelle Nachteil eines möglichen Ansehensverlustes in der Öffentlichkeit begründe die Befangenheit des Bürgermeisters. Durch eine Kostenübernahme hätte der Eindruck entstehen können, der Gemeinderat unterstütze im nachhinein die Dienstaufsichtsbeschwerde des Beigeladenen.

Dem Gericht liegen die Akten des Landratsamtes, des Regierungspräsidiums Freiburg und des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf diese Akten und die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.

Gründe

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Klägerin und der Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten waren; sie sind in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung hierauf hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Beanstandungsverfügung des Landratsamtes und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Das Landratsamt kann als zuständige Rechtsaufsichtsbehörde (§ 119 GemO) Beschlüsse des Gemeinderates, die das Gesetz verletzen, beanstanden und verlangen, daß der Beschluß aufgehoben wird (§ 121 GemO). Der Beschluß des Gemeinderates über die Erstattung der Anwaltskosten des Beigeladenen vom 26.11.1990 verletzt das Gesetz. An diesem Beschluß hat der Bürgermeister mitgewirkt, obwohl er insoweit befangen ist.

Der Bürgermeister darf weder beratend noch entscheidend mitwirken, wenn die Entscheidung ihm selbst oder bestimmten Personen (§ 18 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4, Abs. 2 i.V.m. § 52 GemO) einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil bringen kann (§ 18 Abs. 1 S. 1 GemO). Ein unmittelbarer Vor- oder Nachteil ist gegeben, wenn ein Bürgermeister oder die unter die Befangenheitsregelung fallende Person aufgrund persönlicher Beziehungen zu dem Gegenstand der Beratung oder Beschlußfassung ein individuelles Sonderinteresse hat, das zu einer Interessenkollision führen kann und die Besorgnis rechtfertigt, daß der Betreffende nicht mehr uneigennützig und nur zum Wohl der Gemeinde handelt (std. Rspr. des Senats, zuletzt Urt. v. 18.3.1993 - 1 S 570/92 - m.w.N.). Zweck der Befangenheitsvorschrift ist es, das Vertrauen der Bürger in eine am Wohl der Allgemeinheit orientierte und unvoreingenommene Kommunalverwaltung zu stärken. Es soll bereits der "böse Schein" einer Interessenkollision zwischen dem vom Bürgermeister uneigennützig zu verfolgenden Wohl der Allgemeinheit (§ 17 Abs. 1 GemO i.V.m. § 52 GemO) und der Verfolgung von Sonderinteressen vermieden werden (vgl. auch RdErlGemO § 18 Nr. 1).

Die Frage, ob ein die Mitwirkung ausschließendes individuelles Sonderinteresse vorliegt, kann nicht allgemein, sondern nur aufgrund einer wertenden Betrachtungsweise der Verhältnisse des Einzelfalls entschieden werden. Dabei kann jeder individualisierbare materielle oder immaterielle Vor- oder Nachteil zu einer Interessenkollision in dem hier maßgeblichen Sinn führen (Urteile des Senats v. 18.3.1993 a.a.O. und v. 20.1.1986 - 1 S 2009/85 -, VBlBW 1987, 24). Immaterielle Vor- oder Nachteile können sich aus Erwägungen im Hinblick auf das öffentliche Ansehen einer unter die Befangenheitsvorschrift fallenden Person ergeben (vgl. hierzu Urt. d. Senats v. 10.11.1987 - 1 S 2885/86 - VBlBW 1988, 219). Es kommt nicht darauf an, daß der Vor- oder Nachteil bzw. die Interessenkollision tatsächlich besteht. Der Eintritt eines Sondervorteils oder -nachteils muß aber konkret möglich, d.h. hinreichend wahrscheinlich sein (Urteile des Senats vom 18.3.1993 a.a.O., v. 10.11.1987 a.a.O. und v. 20.1.1986 a.a.O.).

Gemessen an diesen Maßstäben ist bei Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ein Sonderinteresse des Bürgermeisters der Klägerin zu bejahen. Es ist hinreichend wahrscheinlich, daß die Entscheidung des Gemeinderates zu einem Prestigegewinn oder einem Ansehensverlust des Bürgermeisters in der Öffentlichkeit führt; eine Interessenkollision ist deshalb nicht auszuschließen. Das Ansehen des Bürgermeisters in der Öffentlichkeit war vorliegend in besonderer Weise betroffen, da es um eine Entscheidung ging, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der vom Beigeladenen geäußerten Kritik an seinem Verhalten steht. Beratungsgegenstand war das Begehren des Beigeladenen, die Kosten der Dienstaufsichtsbeschwerde erstattet zu erhalten. Mit dieser Beschwerde hat der Beigeladene der Aufsichtsbehörde gegenüber vorgetragen, der Bürgermeister habe die Unwahrheit gesagt und sich ehrverletzend über ihn geäußert. Hintergrund dieser Beschwerde war die auch in der Öffentlichkeit geführte, über sachliche Meinungsverschiedenheiten hinausgehende und in persönliche Vorwürfe mündende Auseinandersetzung zwischen dem Bürgermeister und dem Beigeladenen, die auf großes öffentliches Interesse stieß. Bei dieser Sachlage ist es hinreichend wahrscheinlich, daß die Entscheidung des Gemeinderates in der Öffentlichkeit als Zustimmung oder Ablehnung der Vorgehensweise und der Vorhaltungen des Bürgermeisters bzw. des Beigeladenen verstanden und das Ansehen des Bürgermeisters hierdurch erhöht bzw. gemindert würde.

Die Mitteilung des Landratsamtes, das Dienstaufsichtsverfahren werde nicht weiterverfolgt, ist angesichts des unmittelbaren Zusammenhangs der Auseinandersetzung, des Dienstaufsichtsverfahrens und der beanstandeten Entscheidung des Gemeinderates nicht geeignet, das Sonderinteresse des Bürgermeisters und die Besorgnis einer Interessenkollision zu beseitigen. Denn der Eindruck in der Öffentlichkeit verändert sich hierdurch nicht.

Die Rechtsaufsichtsbehörde hat das ihr bei dieser Sachlage zustehende Ermessen hinsichtlich des Erlasses der Beanstandungsverfügung ordnungsgemäß ausgeübt (§ 114 VwGO). Die Androhung der Aufhebung des Beschlusses durch die Aufsichtsbehörde (vgl. § 123 GemO) begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Dies hat das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt; auf diese Ausführungen wird verwiesen.